Kapitel 4

Lizzies Kind kam während eines Schneesturms zur Welt. Es war halb drei Uhr nachmittags, und Lizzie hatte achtundvierzig Stunden in den Wehen gelegen. Ihr erschöpfter Körper gebar ein kleines Mädchen mit verknittertem Gesicht und einem Schopf schwarzer Haare. Es wog siebeneinhalb Pfund. Der Arzt übergab das Kind der Hebamme, die es an Meg weiterreichte. Und Meg, deren Gesicht und Körper vor Schweiß trieften, als hätte sie selbst das Kind zur Welt gebracht, wickelte es in ein weiches, weißes Tuch und brachte es Lizzie ans Bett. »Da ist sie, Mädel«, sagte sie. »Schau sie an. Du wirst niemals etwas Hübscheres erblicken als dies hier.«

Lizzie betrachtete ihre Tochter. Sie wollte die Arme nach ihr ausstrecken, sie wollte lächeln, wollte sprechen. Aber sie war zu müde.

Der Arzt sagte: »Gut, gut. Lassen Sie sie.« Er beugte sich über Lizzie und strich ihr das nasse Haar aus der Stirn. »Das war eine schwierige Geschichte, nicht wahr? Sie wollten sie wohl gar nicht loslassen. Jetzt werden Sie gewaschen und dann können Sie schlafen, nichts als schlafen.«

Seine Stimme wirkte beruhigend. Lizzies Körper ruhte, doch ihr Geist war rastlos. Sie meinte, von ferne eine Stimme zu hören: »Du hast eine Tochter, Andrew, eine Tochter!«

Als der Doktor sich vom Bett abwandte, fragte Meg: »Was ist mit dem Füttern?« »Sie wird es nicht stillen können«, antwortete der Arzt. »Sie haben doch bestimmt ein Fläschchen vorbereitet. Die Schwester wird Ihnen sagen, wie es weitergeht.«

»Mir braucht niemand zu sagen, wie man mit Fläschchen oder Säuglingen umgeht.«

Der Arzt und die Hebamme wechselten ein kleines, verständnisvolles Lächeln. Dann ging der Doktor nach unten, wo ihm Geoff über den Weg lief. Ohne Einleitung sagte er zu ihm: »Es ist ein Mädchen.«

»Ein Mädchen?«

»Ja, wie ich sagte, ein Mädchen. Ein niedliches Mädchen, schade, daß kein Vater da ist, um es zu begrüßen. Aber jedenfalls ist es hier in guten Händen. Ihre arme Mutter hätte sich sicher sehr darum gekümmert, aber solange die nette Alte da oben da ist, wird sie ein guter Ersatz sein … Und wie geht’s Ihnen dieser Tage?« Er schlüpfte in den Mantel. »Oh, ganz gut«, erwiderte Geoff.

»Ihr Bein scheint beweglicher zu sein als Ihr Arm.«

»Ja, das ist tatsächlich so.«

»Ich nehme an, Sie hatten mehr Glück als andere; und jetzt haben Sie etwas, das Sie in Anspruch nimmt, eine Familie, um die Sie sich kümmern müssen, auch wenn es nicht Ihre eigene ist. Nun, ich muß mich sputen; bis zu Füllers Kreuzung ist die Straße frei, aber danach wird es schwierig.«

Er hielt nochmals inne auf dem Weg zur Tür. »Übrigens«, bemerkte er, »ich mache mir Sorgen um Ihren Vater; er läßt sich ziemlich gehen. Die Zeit scheint seine Wunden nicht zu heilen. Vielleicht hilft ihm das Kind dabei, so ein neues Leben wirkt oft Wunder. Wenn es geht, komme ich morgen wieder …«

Ein paar Minuten später klopfte Geoff an die Schlafzimmertür und wurde von einer strahlenden Meg eingelassen. »Komm rein.«

Er ging zum Bett, wo die Hebamme gerade Lizzies Schultern mit einem Laken bedeckte. »Sie ist sehr müde«, erklärte sie.

Da öffnete Lizzie mit einem schwachen Lächeln die Augen und schloß sie wieder. Ohne ein Wort zu sagen, drehte Geoff sich um zu Meg, die ihm das Kind entgegenhielt. »Ist das nicht ein niedliches Bündel? Komm, nimm sie mal.«

Er nahm ihr das Kind ab und betrachtete es. Seine Augen waren halb geöffnet und die Lippen faltig, doch weder der Anblick noch die Berührung erweckten auch nur das geringste Gefühl in Geoff, außer daß zu seinen Sorgen noch eine weitere hinzugekommen war. »Nun?« fragte Meg, als er ihr das Kind zurückgab.

»Sie ist niedlich.«

Meg sah ihn aus schmalen Augenschlitzen an, während sie das Baby an die Brust drückte. »Und ob sie niedlich ist!« Sie wandte sich von ihm ab und legte den Säugling in das Bettchen bei der Feuerstelle. »Ich muß die Flasche holen«, sagte sie und ging aus dem Zimmer. Geoff folgte ihr. Doch an der Treppe blieb Meg stehen und ging zum Angriff über: »Was ist los mit dir in letzter Zeit? Fehlt dir was?«

»Was meinst du damit?«

»Genau was ich sage. Was geht in deinem Kopf vor?« fragte sie.

»Was sollte darin vorgehen?«

»Das sollst du mir sagen, denn ich habe gefragt.« Damit ließ sie ihn stehen. Er blickte ihr nach und ging dann in sein Zimmer, wobei er murrte: »Neugierige alte Henne!« Früher hatte er Meg gemocht… früher hatte er viele Menschen gemocht; zumindest war er mit ihnen zurechtgekommen. Nun hatte er nur noch eine Person im Sinn, und die ließ ihn alle anderen vergessen. Er wußte einfach nicht, wie es weitergehen sollte …

Erst am nächsten Morgen ging er wieder in Lizzies Schlafzimmer. Sie war hellwach, und das Kind lag neben ihr. Lizzie schenkte ihm ein Lächeln, das allerdings noch recht schwach ausfiel. »Wie geht es dir?« fragte Geoff.

Ihr Lächeln wurde breiter. »Mir ist, als hätte ich selbst eine der großen Schlachten geschlagen.«

»Na ja, vermutlich ist es auch eine Art Schlacht.«

»Das hast du gesagt.« Sie zog das Tuch vom Kopf des Kindes. »Ist sie nicht hübsch?«

»Ja«, nickte er, »wirklich.«

Lizzie blickte zu ihm auf; das Lächeln war aus ihrem Gesicht gewichen, und ihre Augen waren schmal. »Was stimmt nicht, Geoff?« fragte sie.

»Wie kommst du darauf, daß etwas nicht stimmt?« gab er mit gereizter Stimme zurück.

Lizzie schaute wieder das Kind an, dann murmelte sie: »Es ist nicht mehr wie früher. Es ist, als ginge dir etwas im Kopf herum.«

Geoff wandte sich vom Bett ab. »Nun, vielleicht denke ich über ein, zwei Dinge nach. Wir sprechen später darüber.«

»Also ist da wirklich etwas?« Lizzie starrte in sein abgewandtes Gesicht, und Geoff antwortete: »Wie ich sagte, ich möchte mit dir über ein, zwei Dinge reden. Aber erst mußt du wieder zu Kräften kommen.«

Während er sprach, ging die Tür auf und sein Vater kam herein. Er blieb kurz stehen, bevor er sich dem Bett näherte. »Hallo, Dad«, sagte Lizzie weich. »Hallo«, gab er kurz zurück. Er stand da und blickte auf das Kind hinab.

Da er schwieg, sah Lizzie zu ihm auf. »Ich habe den ganzen Morgen an Mam gedacht«, sagte sie. »Und sie fehlt mir so. Sie hätte das Kind geliebt, nicht wahr?«

»Nein, das hätte sie nicht.«

Das klang so unfreundlich, daß sogar Geoff zusammenzuckte. Er berührte seinen Vater am Arm und sagte ermahnend: »Dad, Dad!«

»Ich spreche aus, was ich denke, Junge. Deine Mutter war über die ganze Geschichte sehr bekümmert.« John schaute jetzt auf Lizzies erschrockenes Gesicht hinunter und fuhr fort: »Sie ist nie darüber hinweggekommen, was du ihr damit angetan hast. Du hast sie sehr enttäuscht, Mädchen, und mich auch. Und bei dem Zustand, in dem sie sich befand, hat ihr das geschadet. Und das nach allem, was sie für dich getan hat! Sie hat dich aufgezogen, als wärst du ihr eigenes Kind. Deine Erziehung verdankst du ihr, das weißt du sehr wohl.«

»Dad, Dad! Das reicht! Komm jetzt, komm.« Geoff ergriff seinen Vater am Arm. John sah ihn an und meinte: »Nun, das mußte mal gesagt werden. Ich habe mich lange damit beschäftigt, und jetzt mußte ich es sagen, denn Bertha hat immer so viel von Lizzie gehalten.« Er schaute wieder auf Lizzies verzerrtes Gesicht. »Weinen hilft nichts, die Tränen kommen zu spät. Du warst kein kleines Kind, du wußtest, was du tatest. Du hättest warten können, jawohl. Aber ‒ der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«

»Nun aber genug, Dad! Du gehst zu weit«, mahnte Geoffrey und zog seinen Vater am Arm aus dem Zimmer.

Die Tür stand immer noch offen, als Meg hereinkam. Sie ging zum Bett und versuchte, Lizzie zu trösten. »Na, Mädel, reg dich doch nicht so auf. Worum ging’s denn? Ist er auf dich losgegangen, der Alte? Wenn du mich fragst, ist er schon wirr, seit Bertha von uns gegangen ist. Hat er dir das Kind vorgehalten? Mein Gott!« Sie setzte sich auf die Bettkante.

»Na, na. Ist ja schon gut.« Sie legte ihre Arme um Lizzie und hielt sie fest.

»Das heuchlerische Schwein«, fuhr sie fort, »zur Kirche geht er nicht, aber dafür führt er sich auf wie ein keuscher Josef. Na komm, du mußt jetzt an das Kind denken. Wisch dir die Augen ab.« Sie trocknete Lizzies Gesicht mit ihrem Schürzenzipfel ab. »Dieses Haus ist nicht mehr, was es mal war, und daran ist nicht nur Berthas Tod schuld. Da liegt noch was anderes in der Luft! Ich weiß nur nicht, was. Jedenfalls werde ich wohl nicht mehr lange hierbleiben …«

»Was?« Lizzies Stimme war brüchig. »Was heißt das ‒ nicht mehr lange?«

»Nun, nun, beruhige dich doch wieder. Aber du weißt ja, Mädel, daß ich ein Flüchtling bin … nun gut, eine Evakuierte. Aber ich habe ein Heim, in das ich zurückkehren kann. Ich habe es dir letzte Woche nicht gesagt, weil du so kurz vor der Entbindung gestanden hast; aber als ich in Shields war, bin ich zum Unterbringungsbüro gegangen. Dort arbeitet ein sehr nettes Mädchen, und die meinte, ich könne jetzt auch woanders hin. Aber ich darf nicht zu lange warten, sonst ist die Chance vertan. Sie hat mir zwei Wohnungen zur Auswahl angeboten, und ich habe mich für die eine beim Dean’s Hospital entschieden. Die Wohnung ist groß und liegt im Erdgeschoß. Sie hat drei Zimmer und eine Spülküche. Wasser und Toilette sind natürlich auf dem Gang.« Sie lachte. »Das wird großartig, wenn die auch mal in der Wohnung sind. Das war so praktisch hier, die Toilette in der Wohnung. Jetzt kann ich mir wieder den Hintern abfrieren. Ich bin ganz schön ordinär, was?« Lachend fuhr sie fort: »Und das Mädchen meinte, sie würde mir behilflich sein, Möbel aufzutreiben … Jetzt schau nicht so, Lizzie.« Sie stupste sie zärtlich an der Schulter. »Du könntest mitkommen und bei mir bleiben. Mach mal Ferien. Ich nehme dich zum Strand mit, wenn er mal wieder aufgeräumt ist. Und die Leute dort sind nett, zumindest im Großen und Ganzen. Natürlich gibt es ein paar seltsame Gestalten, wie überall, aber man hat auch gute Nachbarn. Jetzt wein doch nicht wieder. Noch bin ich nicht weg, und, wie ein alter Knabe meinte, der mit mir im Bus fuhr, wir sind alle in Gottes Hand. Aber«, ihr Gesicht wurde ernst und sie nickte Lizzie zu, »der Busschaffner hat dem Alten eine gute Antwort gegeben: ›Wenn das so ist, dann hat er uns ganz schön in die Tinte geritten.‹ Und da haben alle erst mal zu lachen aufgehört, denn wenn man tiefer blickt, ist das schon richtig: Warum läßt er all das Blutvergießen zu? Das habe ich nie verstanden ‒ warum gehen die Leute nach einem Luftangriff in die Kirche und beten? Weshalb? Um ihm für die Toten und Sterbenden zu danken? Und für die Blinden und Verstümmelten? Einmal war ich so wütend, Lizzie, daß ich das laut auf der Straße herausgeschrien habe. Ich war gerade aus dem Schutzkeller gekommen und irgendeine alte Fregatte sagte zu mir: ›Sie müssen Ihren Glauben bewahren.‹ Glauben an was? … Ach, was quassle ich da eigentlich. Jedenfalls hat es aufgehört zu schneien.« Sanft fuhr sie mit dem Finger über Lizzies Gesicht. »Bleib ruhig, Mädel, und schau, daß du zu Kräften kommst.« Bedrückt gab Lizzie zurück: »Wozu? Glaubst du, ich werde sie brauchen?«

»Ja, das könnte ich mir vorstellen.«

»Was geht hier vor, Meg?«

»Ich weiß nicht genau, Mädel. Wenn ich jetzt den Mund aufmache, erweise ich vielleicht jemandem einen Bärendienst. Aber wie du vorher gesagt hast, etwas stimmt nicht in diesem Haus, und dafür muß es einen Grund geben. Jedenfalls werde ich jetzt deine Freunde anrufen und Mr.

Richard erzählen, daß du ein Mädel hast, dessen Name schon auf der Warteliste für eine dieser vornehmen Schulen eingetragen ist; oder macht man das bloß für Jungs?«

»Ach Meg!«

»Na, na, jetzt hör aber auf!«

Meg stand auf und klopfte Lizzies Hand nicht allzu sanft. »Verschwende deine Kraft nicht mit Tränen. Und denk dran: Du hast eine süße Tochter, du hast gute Freunde in Mr. Richard und seiner Familie, und du hast mich. Nicht, daß du damit angeben könntest, Mädel, aber bei Sturm ist jeder Hafen recht.«

Wie Meg da in der Tür stand und bedeutsam mit dem Zeigefinger wackelte, fiel Lizzie auf, daß Meg in der Aufzählung ihrer Freunde Geoff und seinen Vater ausgelassen hatte. Weshalb Geoff?