Ted Honeysett äugte vorsichtig nach links und nach rechts, bevor er von der Hauptstraße ins Gebüsch glitt. Ein Kaninchen konnte nicht leiser sein als Ted, wenn er sich durchs Unterholz bewegte.
Es war Ende März, und die Tage wurden länger. Trotzdem war es heute trübe gewesen, und der Wind hatte Schauer mitgebracht, die an den kommenden April mahnten. Die Fasanenjagdzeit war am ersten Februar zu Ende gewesen, dafür hatte die Saison für Lachse begonnen, und vor einigen Tagen auch die für Forellen. Ted kannte diese Daten auswendig, obwohl sie ihm nichts bedeuteten. Trotzdem war er vorsichtig geworden, denn er wollte sich nicht mit den Gaunern einlassen, die seit einiger Zeit Fische und Vögel in großem Stil wilderten und die Grundbesitzer am Fluß zur Verzweiflung brachten.
Auf jeden Fall diente sein heutiger Aufenthalt im Wald nicht dem Wildem, sondern dem Spionieren. Vor fünf Minuten hatte er Mrs. Boneford, die frühere Miß Bradford-Brown, am Flußufer gesehen, und zwar nicht auf dem Fahrrad, sondern zu Fuß. Er lächelte innerlich, denn er hätte ihr sagen können, daß der Weg umsonst war: Das Warnschild lag wieder im Gras.
Ja, das Warnschild hatte in den letzten Wochen verschiedene Positionen eingenommen. Und dann gab es die Zettel, die an die alte Ulme geheftet waren. Nun, heute lag das Schild im Gras, und der Zettel steckte immer noch an der Ulme, Mrs. Boneford war heute für nichts und wieder nichts unterwegs. Und das war ganz gut so, denn ihm war klar, daß das ganze früher oder später mit einem Riesenknall an die Öffentlichkeit käme.
Das saubere Pärchen wußte nicht, daß der alte Bradford-Brown ihnen auf der Spur war.
Eines Nachts war Ted von dem unverwechselbaren Geräusch überrascht worden, das ein Mensch verursacht, der durch die Büsche schleicht. Gewohnheitsmäßig verfiel er in bewegungslose Starre. Er hatte nicht gewußt, daß noch jemand im Wald unterwegs war, und doch, gerade als diese Schlampe und Geoff ins Freie traten, sah er unweit von sich die Gestalt von Janis’ Vater hinter einer Buche. Ted hatte mit angehaltenem Atem darauf gewartet, daß der Alte vorstürmen und Geoff niedermachen würde, zumindest mit Worten, denn auf einen Faustkampf konnte er sich mit Geoff nicht einlassen. Auch wenn Geoffrey Fulton nur einen brauchbaren Arm hatte, so war er doch in der Armee gewesen und hatte gelernt, ihn einzusetzen.
Er lächelte, als er jetzt geduckt seinen Weg zur Böschung nahm, von wo aus er einen guten Blick sowohl zur Scheune als auch zum Wald hatte.
Seinen alten Regenmantel um die Knie gezurrt, hockte er sich auf den Boden, um abzuwarten, was der alte Knabe wohl machen würde, wenn er statt der beiden nur seine Tochter vorfände.
Ted hob vorsichtig den Kopf. Sein Körper spannte sich, und er unterdrückte mühsam einen Laut der Überraschung, als er auf einer Erhebung am Waldrand eine gebückte Gestalt wahrnahm. Was Ted so überraschte, war der Anblick eines Büchsenlaufes, der an einem niederen Ast lehnte.
»Guter Gott, er will auf sie schießen!« bemerkte Ted und begann sich aufzurichten.
Was er als nächstes angefangen hätte, sollte er nie herausfinden, denn plötzlich trat das Mädchen ‒ oder besser, die Frau ‒ aus dem Wald, und sie sah das gleiche wie Ted. Sie rannte auf die Gestalt am Waldrand zu und schrie: »Bleib wo du bist, Geoff!« In diesem Augenblick stand die Figur auf der Erhebung auf, und Ted gewahrte erstaunt, daß die beiden aufeinandergeprallt waren und miteinander kämpften.
Er selbst stand jetzt aufrecht. Als er einen Gewehrschuß hörte, warf er erschrocken den Arm vor sein Gesicht. Doch schon im nächsten Augenblick lief er aus Leibeskräften auf den Waldrand zu. Dort stand die Frau mit weit aufgerissenem Mund, die Hände vors Gesicht geschlagen, und starrte auf die hingestreckte Gestalt, aus deren Hals das Blut floß.
»Mein Gott, Miß! Was haben Sie getan?«
Sie schien über seine Anwesenheit nicht überrascht zu sein, sondern sagte: »Es … es ist losgegangen. Es ist losgegangen! Ich versuchte, ihm das Gewehr wegzunehmen … dann ging es los. Er … er wollte Geoff erschießen.« Sie blickte zur Scheune. Erst jetzt schien ihr bewußt zu werden, daß dort niemand zu sehen war. »Er ist nicht hier«, sagte Ted. »Er hat eine Notiz dagelassen.«
»Was?«
»Na ja, im Baum, wissen Sie, und …« Er deutete mit dem Finger auf das liegende Warnschild.
»Oh!« Janis kratzte sich am Haaransatz, dann schaute sie Ted an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Es … es ist losgegangen, Mr. Honeysett. Es ist einfach losgegangen.«
Ted blickte sich hilfesuchend um. Die Dämmerung setzte langsam ein. Er blickte von Janis zu ihrem Vater. Janis murmelte: »Was soll ich machen? Mutter holen?«
»Nein! Nein, ich werde Geoff holen. Er … er müßte jetzt zurück sein, er kommt um die Zeit mit dem Bus. Kommen Sie mit, Miß … Missis.« Er führte sie am Arm zur Scheune und schob sie hinein. Dann hob er mahnend den Zeigefinger, als spräche er mit einem Kind. »Bleiben Sie hier. Rühren Sie sich nicht vom Fleck, bleiben Sie hier. Ich hole Geoff. Er wird wissen, was zu tun ist. Verstehen Sie?«
»Ja, Mr. Honeysett, ich verstehe.« Janis schloß die Augen und nickte, dann setzte sie sich und lehnte den Rücken an die Scheunenwand. Sobald er sie verlassen hatte, nahm Ted die Beine in die Hand. Er lief eine Strecke am Flußufer entlang, bevor er die Hauptstraße betrat. Dann rannte er weiter, bis er stehenbleiben und Atem schöpfen mußte. In diesem Moment fuhr der Bus um die Ecke und hielt wenige Yards vor ihm an. Doch zu Teds Enttäuschung stiegen nur Mrs. Ryebank und ihre Tochter aus, was bedeutete, daß sie auf ihrem eineinhalb Meilen langen Weg nach Hause auch beim Haus der Fultons vorübermußten. Ted konnte also nicht weiterrennen, ohne Aufsehen zu erregen.
Als er endlich bei den Fultons ankam, sah er sich um in der Hoffnung, Geoff vor dem Haus anzutreffen, da er wußte, daß allein sein Erscheinen Neugierde erregen mußte. Die alte, evakuierte Frau öffnete ihm die Tür, und er fragte, ob Geoff zu Hause wäre. »Wer ist da?« fragte die alte Frau und spähte in die Dunkelheit.
»Ich bin’s, Ted Honeysett. Ist Geoff da?«
Da tauchte Geoff aus der Tiefe des Hauses auf und schob die Alte beiseite. Er stellte sich auf die Schwelle und fragte: »Sie suchen mich, Ted?«
»Ja, Geoff. Hast du … hast du eine Minute Zeit?« Ted versuchte seine Stimme so alltäglich wie möglich klingen zu lassen.
»Ja, ich denke schon.« Geoff trat in den Hof hinaus und zog die Haustür hinter sich zu. Mit nun völlig veränderter Stimme murmelte Ted: »Komm eine Minute hier herüber.«
»Was ist? Was haben Sie?«
»Es ist etwas passiert. Sie … sie hat ihren Dad erschossen.«
Geoff reagierte nicht. »Hast du gehört, was ich sagte?« knurrte Ted. »Ich bin nicht verrückt geworden. Ich sagte, es ist etwas passiert. Sie hat ihren Dad erschossen!«
»Mein Gott, ist das wahr?«
»Und ob das wahr ist! Was glaubst du, weshalb ich hier bin? Das war der Schreck meines Lebens. Ich bin gerannt, bis ich nicht mehr konnte. Sie … ist ihm über den Weg gelaufen, als er sein Gewehr für dich bereithielt.«
»Für mich?«
»Ja, für dich! Für wen sonst? Er glaubte, du würdest sie treffen. Und sie glaubte es auch; sie dachte, du wärst in der Scheune, sie hatte die Notiz nicht gesehen. Ich erklär’ dir alles unterwegs. Jetzt hol deinen Mantel und komm! Bring eine Taschenlampe mit und beweg dich; denn ich habe sie in der Scheune zurückgelassen.«
»Sie haben sie … Sie meinen …?«
»Ja, ja! Sie meine ich, die eine, mit der du dich immer triffst. Schau, ich weiß, was ich weiß. Also hol deinen Mantel, die Geschichte könnte länger dauern.«
Als Geoff kurz darauf in der Küchentür stand und seinen Mantel anzog, fragte Meg: »Willst du dein Abendbrot nicht aufessen?«
»Ich bleibe nicht lange weg. Stell es in den Ofen, ich nehme es mir, wenn ich wiederkomme.«
Nachdem er das Gartentor geschlossen hatte, eilte er so schnell die Straße entlang, daß Ted beinahe laufen mußte, um Schritt mit ihm zu halten. Keuchend erklärte er Geoff, was er gesehen hatte. »Wie gesagt, ich wußte, daß du nicht in der Scheune warst, aber sie wußte es nicht. Sie hat den Zettel im Baum nicht gesehen. He, Mann, du brauchst nicht zu brummen; ich komme herum, auch nachts, und du solltest deinem Glücksstern dafür danken. Aber wir müssen etwas mit dem Alten machen. Ich meine, es muß wie ein Unfall aussehen und … und das tut es nicht, soweit ich es beurteilen kann. Du weißt alles über Feuerwaffen, aber ich will mit den Dingern nichts zu tun haben. Du könntest das Gewehr so hinlegen, daß es aussieht, als wäre es von selbst losgegangen, oder als wäre er darüber gestolpert.«
Sie waren fast am Flußufer angekommen, als Geoff atemlos fragte: »Warum tun Sie das, Ted? Warum sind Sie so besorgt? Sie haben ihn doch nie gemocht, oder Janis, oder irgendeinen aus der Familie.«
»Nein, das ist richtig. Und wahrscheinlich tu ich’s gerade darum.« Vorsichtig gingen sie an der Böschung weiter. Ted fuhr fort: »Meine Gedanken arbeiten so schnell wie meine Hände, und … und mir war klar, daß sie abhauen und ihn liegenlassen konnte, denn sie war in Panik, und keiner würde daran denken, sie zu beschuldigen. Aber hinter wem ist der alte Bradford-Brown all die Jahre hergewesen? Hinter mir! Und erst letzte Woche hatte ich einen Auftritt mit ihm auf offener Straße, und daran habe ich vorhin gedacht. Ich kam von Hobson mit meiner Schubkarre voller Holz, Äste und Zweige, und da saß er in seinem Lastwagen. Dein Dad war auch dabei und Peter Rice.
Und da ließ er deinen Dad anhalten und wollte von mir wissen, woher ich das Holz habe.
Als ich sagte, ich hätte es gekauft und bezahlt, meinte er, das wäre das erstemal in meinem Leben, daß ich etwas bezahlt hätte. Ich gab zurück, da wäre ich nicht der einzige, aber ich würde es nur im Kleinen betreiben. Ich glaubte, er würde einen Anfall bekommen. Er schrie mich an: ›Ich erwische dich schon noch, darauf kannst du dich verlassen!‹ Und ich antwortete wie ein blutiger Anfänger: ›Falls ich Sie nicht zuerst erwische!‹ Du siehst also, was ich meine. Nach wem werden sie zuerst suchen, wenn sie ihn finden? Das kam mir sofort in den Sinn. Die werden mir die Polizei auf den Hals hetzen, bevor ich Piep sagen kann. Und ich bin nicht blöde. Ich weiß, daß Sergeant Winters und Constable McCabe immer ein Auge zugedrückt haben bei mir, und es war nicht zu ihrem Schaden. Aber wenn es um Mord geht! Da würden sie keine Rücksicht nehmen, Junge. Und dann sind da Rice und dein Vater, die bezeugen können, was ich gesagt habe. Es war also reiner Selbsterhaltungstrieb, als ich auf- und zu ihr hingesprungen bin, denn sonst wäre sie auf und davon wie eine Rehgeiß.«
Sie waren inzwischen vor der Scheune angekommen, und Ted flüsterte dumpf: »Es war da drüben.« Er richtete den gedämpften Strahl seiner Taschenlampe auf die Stelle, auf der ein gekrümmter Körper lag. »Ich werde hier warten«, sagte er.
Geoff trat in die Scheune und schwang sein Licht auf den breiten Pfeiler. Da stand Janis, wie angewurzelt, die Hände an ihre Seiten gepreßt. Sie bewegte sich nicht, bis er nahe vor ihr stand; erst dann flüsterte sie: »Geoff?«
»Es ist gut. Hab keine Angst. Alles kommt in Ordnung.«
»Ich … ich habe ihn erschossen. Ich meine … ich habe mit ihm gekämpft. Er wollte dich erschießen. Ich dachte, du wärst… du wärst hier drin«, stammelte sie. Geoff zog sie an sich und sagte: »Ist ja gut jetzt; reiß dich zusammen.« Er griff nach ihren Händen. »Du bist ja eiskalt. Hier, nimm meinen Mantel und leg ihn um.«
»Nein, nein. Was … was soll ich tun?«
Geoffrey zog trotzdem seinen Mantel aus und wickelte ihn um sie. »Bleib einfach hier. Ich bin gleich wieder zurück.« Er ging nach draußen zu Ted. »Zeigen Sie mir, wo es ist.«
Ted wies ihm die Richtung, wobei er darauf achtete, dem Körper nicht zu nahe zu kommen.
Im schwachen Licht erkannte Geoff, daß Hals und Kinn blutig waren. Er fragte sich, ob der Mann vielleicht noch atmete; aber nein, er hatte zu viele Tote gesehen, um nicht zu erkennen, daß dieser Mann nicht mehr am Leben war. Er schwang suchend seine Taschenlampe und sah das Gewehr in etwa sechs Fuß Entfernung liegen. Seine Gedanken wanderten zurück auf das Schlachtfeld: Wenn ein Mann stolperte und sein Gewehr losging, dann würde es nicht so weit weg liegen. Er stellte sich vor, in welcher Position der Mann und die Büchse sich zueinander befinden müßten. Geoff wandte sich fragend an Ted: »Sie haben die Büchse doch nicht berührt?«
»Ich? Um Gottes willen! Aber sie hat sie angefaßt. Ihre Fingerabdrücke werden überall sein.«
Daran hatte Geoff auch schon gedacht. »Warten Sie hier. Ich bin gleich zurück.« Er eilte in die Scheune. »In meiner Manteltasche sind Handschuhe, die brauche ich«, sagte er zu Janis. Er zog nicht nur die Handschuhe aus dem Mantel, den Janis um sich gewickelt hatte, sondern auch ein großes Taschentuch. Schnell ging er wieder aus der Scheune. Er stülpte die Handschuhe über, hob das Gewehr mit dem Taschentuch auf und rieb es sauber. Immer wieder fuhr er mit dem Tuch über den Lauf, als wolle er ihn auf Hochglanz polieren. Endlich wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Toten zu. Er drehte ihn sacht auf den Rücken, kreuzte seine Hände über der Brust und drückte die Finger hier und da auf Schaft und Lauf. Sobald er damit fertig war, legte er das Gewehr zur Seite und nahm wieder seine Taschenlampe zur Hand. Er ließ den Lichtstrahl über den kleinen Hügel gleiten und sagte zu Ted: »Sie werden mir dabei helfen müssen; ich habe nicht genug Kraft in meinem linken Arm. Ich möchte ihn oben bei der Böschung hinlegen, wo es viele Wurzeln gibt ‒ als wäre er dort hinabgestolpert. Ballen Sie Ihre Fäuste und ziehen Sie Ihre Ärmel darüber.«
»Was?«
»Tun Sie, was ich Ihnen sage. Ballen Sie die Fäuste und …«
»Ah, ja, ich verstehe.«
»Einen Augenblick noch.« Geoff leuchtete nochmals in die Runde. An einem bestimmten Punkt ging er in die Hocke und betrachtete eingehend das dünne Gras, das auf dem Abhang wuchs. »Das meiste Blut muß in seinen Kragen und seine Kleider eingesickert sein. Aber jetzt hoch mit ihm. Ich nehme die Beine. Es ist nicht weit.«
Sobald Ted den Körper berührte, schrie er auf: »O mein Gott, mein Gott!« Geoff zischte: »Still! Heben Sie hoch!«
Zwei Minuten später legten sie den Toten ab und drehten ihn vorsichtig ein wenig zur Seite. Anschließend holte Geoff das Gewehr und überlegte, wo es nach einem Schuß liegen müßte. Er schätzte ‒ so genau es ihm möglich war ‒ und legte es auf den Boden. Dann folgte er mit seinem Licht eingehend dem Weg, den sie mit dem Körper zurückgelegt hatten, und wo immer er eine Blutspur entdeckte, zog er den ganzen Grasklumpen aus dem Boden und riß ihn in kleinste Stücke, die er weit verstreute.
»Hast du so was schon mal gemacht?« wollte Ted wissen.
»Nein, nicht genau das gleiche. Aber wir sind noch nicht fertig. Wenn man ihn bei Tageslicht findet, wird man möglicherweise aus dem Zustand des Bodens schließen, daß ein Handgemenge stattgefunden hat. Also wäre es am besten, wenn mein Dad und ich ihn fänden, dann könnte ich ein bißchen herumwühlen.«
»Mein Gott! Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal so was erleben würde.«
Sie standen auf dem Pfad vor der Scheune. Geoffrey erteilte Ted letzte Anweisungen: »Wenn ich Sie wäre, würde ich ins Pub gehen und einen heben, ich werde später vielleicht auch hinkommen. Und … Ted, auch wenn Sie Ihre eigene Haut retten wollten, so bin ich Ihnen doch sehr dankbar für das, was Sie für Janis getan haben und für mich dazu, denn Sie scheinen über uns ebensoviel zu wissen wie wir selbst. Sie wissen, wie die Dinge zwischen uns stehen, und daß alles, was sie betrifft, auch mich berührt. Ich danke Ihnen also in unser beider Namen.«
»Schon gut, schon gut. Du bist deines Vaters Sohn, und ich glaube, irgendwie tue ich es auch für ihn, denn er hat mich all die Jahre anständig behandelt, besonders als meine Kinder noch klein waren. Ich zahle meine Schulden immer gerne ab, auf welche Art auch immer ‒ sogar wenn es mit jemandes anderem Eigentum ist.« Er verbiß sich ein Lachen und fuhr fort: »Aber jetzt sollten wir nicht scherzen. Ich werde sicher nicht schlafen können, bis ich weiß, daß man ihn gefunden hat und was man darüber redet. Eines weiß ich: Wenn die Polizei nicht an einen Unfall glaubt, wird sie hinter mir her sein. Das steht fest.«
»Nein, es wird bestimmt wie ein Unfall aussehen. Jedenfalls, bleiben Sie im Pub, solange Sie können, und gehen Sie dann mit jemandem nach Hause. Bis dahin wird man sich im Gut fragen, wo er bleibt. Das wichtigste ist, sich ganz normal zu verhalten. Gehen Sie jetzt.«
»Ja, ja; genau wie du sagst: normal benehmen. Aber es wird mir nicht leichtfallen. Wir sehen uns.«
Geoff betrat die Scheune und stellte fest, daß Janis immer noch am Pfeiler lehnte.
Er legte seine Arme um sie und schüttelte sie leicht. »Hör mir ganz genau zu. Alles ist in Ordnung. Es sieht gerade so aus, als hätte er einen Unfall gehabt. Sein Fuß steckt in einer Baumwurzel, und wenn wir ihn finden, wird es aussehen, als wäre er gestolpert. Jetzt komm, du mußt nach Hause gehen. Egal, wie schwer es dir fällt, du mußt dich benehmen, als wäre nichts passiert. Du schaffst das.«
»Ich kann es nicht, Geoff.«
»Nun, wie sähe die Alternative aus?« fragte Geoff mit kalter Stimme. »Willst du deiner Mutter erzählen, daß du deinen Vater erschossen hast, weil er mich töten wollte? Weil er mich von Grund auf haßt, und weil der Gedanke, daß seine Tochter sich wieder einmal zu mir herabläßt, zu viel für ihn war? Auch wenn du dich darauf berufst, es zu meiner Rettung getan zu haben, so wird dein Name doch für immer befleckt bleiben. Du denkst, dein guter Ruf ist sowieso schon dahin, aber glaub mir, sie werden dich mit allen Hunden hetzen, und das wirst du nicht aushalten. Du müßtest von hier verschwinden ‒ und zwar ohne mich. Ja, ohne mich; denn du mußt dir darüber im klaren sein, daß ich behindert bin. Ich habe nur einen funktionierenden Arm, und ich lahme. Auf der Habenseite beziehe ich jedoch eine kleine Pension und habe ein Heim. Ich bin zwar für meinen Vater verantwortlich, der zur Zeit nicht sehr stabil ist, und für meine Adoptivschwester und ihr Kind, so daß ich also hier gebunden bin. Aber du, Janis, könntest dich an mich binden, und auf gewisse Art sogar glücklich sein. Denn was wäre die Alternative für dich? Du müßtest auf eigenen Füßen stehen und dich zum ersten Mal von deiner eigenen Arbeit ernähren, und das würde dir nicht gefallen. O nein, Janis, das würde dir ganz und gar nicht gefallen. Also, meine Liebe, ich begleite dich jetzt bis zum Tor, und von da an bist du für die nächsten paar Stunden auf dich gestellt. Es liegt an dir. Geh hinein und unterhalte dich mit Florrie Rice und deiner Mutter, und dann geh zu Bett. Komm jetzt, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.«
Gehorsam folgte sie ihm. Erst als sie aus dem Wald heraus waren und vor dem seitlichen Tor standen, das zu den Ställen führte, klammerte sie sich an seinen Arm und brach das Schweigen. »Ich … ich habe alles kaputtgemacht. Mein ganzes Leben lang habe ich immer alles kaputtgemacht.«
»Ja, das hast du allerdings.« Geoffs Stimme war barsch, aber munter. »Nun, sieh das als Prüfung an. Mach es diesmal nicht wieder kaputt, sondern denk daran: Wenn du etwas falsch machst, ist das das Ende für uns beide; und es wird dich schwerer treffen als mich. Geh jetzt.« Er küßte sie hart auf den Mund, dann schob er sie von sich. Er wandte sich ab und ging auf der Hauptstraße nach Hause. Warum passiert mir immer so etwas, dachte er. Zuerst in der Armee, wo er noch weiter hätte aufsteigen können, wenn er nicht verwundet worden wäre. Und dann die Geschichte mit Lizzie und seine wiederaufgelebten Gefühle für Janis ‒ all das hatte zu diesem Ergebnis geführt.
In dieser Aufzählung fehlte der Tod seiner Mutter, denn irgendwie hatte Lizzie deren Platz eingenommen. Es stimmte schon, was die alte Meg mit ihrer kruden Philosophie einmal von sich gegeben hatte: Ein Mann wollte nicht nur eine Ehefrau ‒ sie sollte auch noch Mutter, Haushälterin und Hure in einem sein.
Meg empfing ihn, als er das Haus betrat. »Wo warst du? Es war so ein schöner Fisch, und jetzt ist er ganz verkohlt. Hat dieser Ted dir einen Lachs gebracht?«
»Lachs? Nein. Aber er hat ein paar Flaschen Whisky organisiert.«
»Oh, gut. Du kannst mir was davon abgeben.«
»Es … es tut mir leid.« Er ging zur Spüle und wusch sich die Hände. »Die Sache hat mir nicht gepaßt, und die Flaschen waren nicht gesiegelt. Das war mir alles nicht geheuer, also hab ich die Finger davon gelassen. Wo ist Lizzie?«
»Wo sollte sie sein: oben mit dem Kind! Sie hat zur Zeit nichts anderes zu tun.« Die letzten Worte waren nur gemurmelt, und Geoff fragte nach, als hätte er sie nicht verstanden: »Was hast du gesagt?«
»Nichts, nichts. Ich habe dein Abendessen auf den Tisch gestellt. Du mußt es eben essen, wie es ist.« Damit verließ sie die Küche. Geoff betrachtete den vertrockneten Fisch und schob ihn zur Seite. Dann ging er zum Kamin, stützte die Hand auf den Sims und starrte ins Feuer. Seine Gedanken befanden sich in Aufruhr, aber trotzdem mußte er die Schritte, die er heute abend unternehmen würde, genau planen. Denn wie gleichgültig Mrs. Bradford-Brown ihrem Ehemann auch gegenüberstand ‒ irgendwann würde sie beginnen, sich zu wundern, warum er nicht auftauchte.
Er entschloß sich, bis Mitternacht im Wohnzimmer zu bleiben und zu lesen. Wenn er bis dahin nichts gehört hatte, mußte er sich überlegen, was zu tun war. Doch was diese andere Sache anging, an der die alte Meg immer herumfragte, so würde er mit Lizzie ein klärendes Gespräch führen müssen. Aber eins nach dem anderen; zuerst mußte er die heutige Nacht überstehen.
Das Telefon läutete um zwanzig nach elf. Geoff sprang beinahe durchs Zimmer in die Diele, und als er den Hörer abnahm, erkannte er sofort Mrs. Bradford-Browns verfeinerte Aussprache. »Sind Sie es, John?«
»Nein, nein. Hier ist Geoff. Spreche ich mit Mrs. Bradford-Brown?«
»Ja. Ich … ich mache mir ziemliche Sorgen. Mr. Bradford-Brown ist früh am Abend ausgegangen. Ich glaube, er war hinter diesen Wilderem her. Jedenfalls wollte er sich mit den Farmern Hobson und Ryebank und mit Major Murry beim Haus des Majors treffen, um weitere Maßnahmen zu beraten. Ich … ich habe vor kurzem bei dem Major angerufen und erfahren, daß Mr. Bradford-Brown nicht bei ihm eingetroffen ist. Sie glaubten, er hätte vielleicht eine andere Verabredung. Ich muß zugeben, daß ich mir Sorgen mache. Würden Sie Ihren Vater bitten, eine Runde zu machen, für den Fall, daß mein Mann angegriffen wurde oder einen Unfall hatte?«
»Selbstverständlich, Mrs. Bradford-Brown. Ich werde ihm das sofort ausrichten, und ich werde ihn begleiten; ich war noch nicht zu Bett.«
»Danke. Vielen Dank.«
Geoff legte den Hörer auf die Gabel und starrte eine Sekunde lang auf das Telefon. Dann stürmte er die Treppe hinauf und öffnete die Tür zum Schlafzimmer seines Vaters. Er ging zum Bett und rüttelte ihn an der Schulter. »Dad, Dad!«
»Ja, was ist los?« John wälzte sich auf den Rücken.
»Mrs. Bradford-Brown hat eben angerufen; es scheint, daß der Boss vermißt wird.«
»Vermißt? Was soll das denn heißen?«
»Er ist vor ein paar Stunden weggegangen, anscheinend um einige Wilderer aufzuspüren, und ist bis jetzt nicht zurückgekommen. Er war mit Major Murray verabredet, ist aber dort nicht aufgetaucht. Sie läßt dich fragen, ob du eine Runde gehen würdest. Ich sagte ja, und daß ich mitgehe.«
»Er könnte nach Durham in seinen Club gegangen sein.«
»Das scheint sie nicht anzunehmen. Jedenfalls«, Geoff war schon auf dem Weg aus dem Zimmer, »wenn er hinter Wilderem her war, hat er bestimmt sein Gewehr mitgenommen. Kommst du?«
»Ja, ja. Ich komme.«
Zehn Minuten später standen beide im Hof. In der kalten Nachtluft zogen sie die Schultern hoch.
»Schon wieder so eine Phantomjagd«, bemerkte John. »Diese Frau hat schon einige in ihrem Leben veranstaltet, aber das ist die albernste von allen. Die Wahrheit ist sicher, daß der Boss zuviel getrunken hat, wie so oft in letzter Zeit, und daß er in irgendeinem unbenutzten Zimmer seinen Rausch ausschläft.«
»Ja, möglicherweise«, antwortete Geoff. »Aber wir sollten uns trotzdem mal umsehen.«
Also sahen sie sich um.