»Der blutverschmierte Körper von Ernest Bradford-Brown wurde von seinem Gutsverwalter, John Fulton, und dessen Sohn Geoff am 1. April 1944 um halb zwei Uhr morgens entdeckt. Nachforschungen der Polizei ergaben, daß der Verschiedene bei der Suche nach Lachsdieben gestolpert und gefallen ist und sich dabei ein Schuß aus seinem Gewehr gelöst hat. Ein Verbrechen wird ausgeschlossen. Mr. Bradford-Brown hinterläßt eine Frau und eine Tochter.«
Dieser kurze Bericht in der Lokalzeitung über den Tod von Ernest Bradford-Brown erregte die Gemüter nur wenig. Schließlich war Krieg und es gab wichtigere Nachrichten, und nicht alle waren gut. Zum Beispiel hatte das Bomberkommando 94 Flugzeuge von den 795, die an dem Luftangriff auf Nürnberg beteiligt waren, verloren. Auch das Begräbnis von Mr. Bradford-Brown erregte nur wenig Aufsehen, denn er war nicht gerade der beliebteste Landbesitzer in der Gegend gewesen ‒ im Gegenteil. Man hatte ihn um sein Geld beneidet, ihn aber für seinen Mangel an Stil verachtet. Nicht einmal die Beziehungen seiner Frau waren in der Lage gewesen, alle Schlösser in den Türen der Grafschaft zu schmieren, um ihn hineinzulassen. Und dann war da noch die Scheidung seiner Tochter: eine widerliche Angelegenheit, die die Leute immer noch nicht vergessen hatten. Keine Ehefrau, die diese Bezeichnung verdiente, hätte ihren Mann so behandelt, nur weil er entstellt war. Daher hatte auch niemand ernsthaft erwartet, eine große Anzahl bedeutender Persönlichkeiten aus der Grafschaft an Mr. Bradford-Browns Grab versammelt zu finden. Doch da auch die ortsansässigen Geschäftsleute nur schwach bei der Beerdigung vertreten waren, stand zu vermuten, daß Mrs. Bradford-Brown, die nicht nur als vornehm und ruhig, sondern auch als sehr stolz bekannt war, darüber nicht so leicht hinwegkommen würde …
Alicia konnte diese Schmach tatsächlich nicht verwinden. Die Situation hatte ihren Zorn erregt und sie in einer Entscheidung bestärkt, die sie schon lange vor dem Tod ihres Ehemannes erwogen hatte. Diese Entscheidung teilte sie jetzt ihrer Tochter mit.
Janis saß im Wohnzimmer. Ihr dunkles Kleid ließ ihr blasses Gesicht aschfahl aussehen. Starr blickte sie ihre Mutter an, die ihr gegenübersaß, mit einem Taschentuch spielte und auf sie einredete: »Es ist deine eigene Schuld, daß er dich enterbt hat. Diese Verfügung hat er nicht erst vor kurzem, sondern schon nach deiner Scheidung getroffen. Er war damals wirklich außer sich. Alles hätte er ertragen, nur das nicht. Du hast ihm Schande bereitet. Du weißt, wieviel er auf unseren guten Namen hielt. Dein Vater hatte ein hartes Leben und mußte kämpfen für seinen …«
Janis bewegte sich in ihrem Sessel und beugte sich zu ihrer Mutter vor. »Warum«, fragte sie, »stellst du Vater und seinen harten Kampf plötzlich mit einem Heiligenschein dar? Er hat dir doch nie etwas bedeutet. Du hast ihn verachtet und hast ihn das spüren lassen. Du hast ihn nur genommen, weil er viel Geld hatte und offensichtlich noch mehr Geld verdienen würde. Du hast ihn genommen, um Großvaters Schulden abtragen zu können und dieses Haus zu behalten. Erzähl, was du willst, aber sage nicht, du würdest um ihn trauern, denn das tust du nicht.«
»Wer sagt, daß ich um ihn trauere? Ich habe nur eine Feststellung getroffen. Wenn du mich nicht unterbrochen hättest, hätte ich dir das bewiesen, indem ich sage, er war ein Karrierist. Er wollte gut dastehen vor den Leuten. Er wollte eine Position in der Grafschaft einnehmen, wollte, daß man zu ihm aufblickt. Dafür hat er mit seinem Geld bezahlt. Er wußte es ‒ und ich wußte es. Ich bin keine sentimentale Heuchlerin. Es ist sogar so, daß ich im Augenblick eine große Erleichterung empfinde. Aber es tut mir leid, daß er auf diese Art gestorben ist, und es gibt etwas, was mich daran stört. Ich habe mich wieder und wieder gefragt, warum er sich gerade in jenem Bereich des Geländes aufgehalten hat, als er eigentlich bei Major Murray zur Beratung über die Maßnahmen gegen Wilddiebe sein sollte. Ich habe noch mit ihm gesprochen, bevor er aus dem Haus ging. Er wirkte zornig. Vermutlich, weil wir in letzter Zeit so viele Vögel verloren haben, wenn auch nicht auf jenem Teil des Grundstücks.«
Janis drückte den Ellbogen fest auf die Armlehne des Sessels und stützte mit geschlossenen Augen das Kinn in die Hand, während sie ihrer Mutter zuhörte, die fortfuhr: »Ich war überrascht, daß sein Tod dich so mitgenommen hat, da ihr doch seit einiger Zeit wie Hund und Katze wart. Nur weil ich darauf bestand, hat er es erlaubt, daß du an den Wochenenden zu uns kommst. Und ich sage dir noch etwas: Er wußte, daß du dich wieder mit diesem Fulton triffst.«
Janis riß die Augen auf und öffnete den Mund, doch ihre Mutter sprach weiter: »Ja, das überrascht dich. Du hast ihn doch getroffen, oder?« Janis schluckte und antwortete schwach: »Ja, er kommt gelegentlich in die Kantine.«
»Ist das alles?«
»Nein, er war ein- oder zweimal auf einen Drink in meiner Wohnung.«
Alicia Bradford-Brown stemmte sich aus dem Sessel. Mit verächtlich gekräuselten Lippen sah sie auf ihre Tochter hinab. »Wieviel tiefer kannst du noch sinken? Ja, ja, er ist befördert worden, aber er bleibt doch, was er war. Aber, wie du mir des öfteren mitgeteilt hast, es ist dein Leben und du kannst damit anfangen, was du willst. Nun, im Gegenzug sage ich dir, daß auch ich in Zukunft mein Leben so führen werde, wie es mir zusagt. Also ist es vielleicht ganz gut, daß du dich an Fulton halten kannst. Aber ich gebe dir eine Chance: Ich werde das Gut verkaufen. Es ist schon ausgeschrieben. Mr. Gist wird die Sache in die Hand nehmen, und ich werde zu meiner Cousine nach Cornwall ziehen. Sie lebt allein in ihrem großen, düsteren Haus und freut sich über meine Entscheidung. Und jetzt bist du dran: Da dein Vater dir keinen Penny hinterlassen hat und auch ich nicht die Absicht habe, deine Liebschaften finanziell zu unterstützen, kannst du mit mir nach Cornwall kommen, bis der Krieg zu Ende ist und ich mich in der Schweiz niederlasse. Du kannst wählen. Ich lasse dich jetzt allein, damit du nachdenken kannst.«
Alicia ging aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Janis starrte ihr nach. »Guter Gott!« murmelte sie. Sie hatte fest damit gerechnet, daß ihr Vater ihr etwas hinterlassen würde, denn seine Geschäfte, darunter sechs Immobilienbüros entlang des Tyne-Flusses, sowie der Wert dieses Hauses und des dazugehörigen Landbesitzes hatten ihn zum Millionär gemacht. Doch er hatte ihr keinen roten Heller vererbt. Er hatte lediglich verfügt, daß es im Ermessen seiner Frau liege, ob Janis etwas erhielt oder nicht. Und wie hatte ihre Mutter entschieden? Janis sollte sie zu Cousine Beattie begleiten, deren mausoleumartiges Haus im ödesten Winkel von Cornwall lag. Und nach dem Krieg in die Schweiz. Als Anhängsel dieser alternden Frau, die jetzt, wo ihr ein neues Leben winkte, die Jahre abzuschütteln schien. Und was würde geschehen, wenn ihre Mutter starb? Wahrscheinlich würde sie das ganze Vermögen einer entfernten Verwandten vermachen, Janis zum Trotz, die es gewagt hatte, die gesellschaftlichen Regeln zu brechen.
Mit schwachen Knien stand sie auf. Ihr einziger Gedanke war, daß sie unbedingt Geoff sehen und mit ihm sprechen mußte … aber über was?
»Und du willst wirklich gehen, Meg?«
»Ja, Mädel. Es ist besser so. Ich habe schon alles arrangiert. Bill McGurk hat gestern meine Siebensachen in die neue Wohnung gefahren. Und die Nachbarin von nebenan hat sie schon für mich saubergemacht. Sie scheint ein patentes Mädchen zu sein. Sie hat drei Kinder, die alle sicher auf dem Land untergebracht sind, und ihr Mann ist auf See, und sie arbeitet nachts in der Fabrik. Tagsüber ist ihr langweilig, sagt sie, also hat sie für mich geputzt. Wir haben uns auf Anhieb verstanden. Sie sagte, ich erinnere sie an ihre Mutter. ›Nicht an deine Großmutter‹, fragte ich. Da hat sie gelacht und gemeint, nein, ihre Großmutter wäre noch am Leben. Ihre Mutter hat sich zu Tode gearbeitet, als sie sie aufgezogen hat. Ach, Mädel«, Meg legte die Hand auf Lizzies Arm, »jetzt verzieh nicht den Mund. So weit ist es doch gar nicht nach Shields. Und ich habe dort drei Zimmer; du könntest mit mir kommen und eine Weile dableiben, wie ich dir schon gesagt habe. Andererseits tut es mir leid, Kindchen, daß ich dich jetzt allein lassen muß. Aber in diesem Haus steht es nicht zum besten, nicht wahr? Ist es dir recht, wenn ich mein Maul ein bißchen weiter aufmache?«
»Ja, Meg, so weit du willst.«
»Nun, Lizzie, ich denke, du solltest mal ein offenes Wort mit Geoff sprechen. Je eher, desto besser.«
»Was meinst du damit, Meg?«
»Das, was ich sage. Du bist nicht taub oder blind. Er hat sich in den letzten Monaten sehr verändert. Und zwar seit Neujahr, und dafür muß es einen Grund geben.«
»Kennst du diesen Grund, Meg?«
Meg ging zum Herd, holte den Wasserkessel und stellte ihn auf den Tisch. Sie goß das heiße Wasser in die Kanne und brachte den Kessel an seinen Platz zurück. Zuletzt stülpte sie den Teewärmer über die Kanne und fuhr fort: »Mehr will ich nicht sagen. Ich denke nur, du solltest dich mit ihm aussprechen, denn du mußt an dein eigenes Leben und das deines Kindes denken, und da gibt es sicher einiges klarzustellen. Weiter sage ich nichts, also brauchst du nicht zu fragen. Vielleicht war es falsch von mir, meine Klappe so weit aufzureißen. Auf jeden Fall ist heute ein wunderschöner Tag. Du solltest mit deinem Baby Spazierengehen. Aber trink vorher noch eine Tasse Tee. Es dauert nur noch eine Minute, bis er gezogen hat.« Sie schaute aus dem Fenster in den Garten, wo der Kinderwagen mit dem Baby stand. »Ist sie nicht niedlich! Und wie schnell sie wächst! Ich habe nie viel von Flaschennahrung gehalten, aber sie scheint ihr gut zu bekommen. So, hier ist dein Tee.«
Sie reichte Lizzie eine Tasse und fügte hinzu: »Du tust mir nur leid, Mädel, weil du in Zukunft das große Haus allein versorgen mußt.«
»Wann gehst du denn nun wirklich, Meg?«
»Na ja, ich wollte nächsten Montag einziehen, denn von da an muß ich die Miete bezahlen.«
Lizzie schlürfte ihren Tee. Plötzlich stand sie auf, zog ihren Mantel an und setzte ihren Pilzhut auf, den sie beim Hinausgehen fest über die Ohren zog. Meg hielt sie nicht durch weiteres Geplapper auf.
Als Lizzie den Kinderwagen durch das Tor auf die Straße schob, dachte sie bei sich, wie recht Meg doch hatte. Ich muß das in Ordnung bringen. Ich hätte das schon vor Wochen tun sollen. Damals hatte sie gedacht, daß keine andere Frau dahinterstecken könne, denn wann würde Geoff sich mit ihr treffen? Er war den größten Teil des Tages zu Hause, außer wenn er seinen regelmäßigen Spaziergang unternahm. Außerdem war er während der letzten Wochen dreimal im Krankenhaus gewesen und hatte wegen der Untersuchungen dort übernachten müssen. War vielleicht körperlich etwas mit ihm nicht in Ordnung, etwas, was er ihr nicht sagen wollte? Lizzie blieb stehen. Das könnte es sein.
Auf gewisse Weise war in der letzten Zeit das, was sie den persönlichen Kontakt nannte, zwischen Geoff und ihr verlorengegangen. Vor Weihnachten war es nichts Ungewöhnliches gewesen, wenn er einmal den Arm um ihre Schultern oder ihre Taille gelegt und sie gedrückt hatte. Und abends, wenn sein Vater nach oben gegangen war und Meg sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, hatte er oft ihre Hand gehalten, während sie sich unterhielten. Und manchmal hatte er seine Hand auf ihren gewölbten Bauch gelegt, um das Baby strampeln zu fühlen. Doch seit Neujahr hatte das aufgehört.
Obwohl sie nun das Kind hatte, fühlte Lizzie sich seit einigen Wochen sehr allein. Mehr als einmal hatte sie daran gedacht, Richard anzurufen. Aber das wäre ihm gegenüber unfair gewesen. Es war jetzt beinahe vierzehn Tage her, daß sie zuletzt mit ihm und seiner Mutter gesprochen hatte. Während der ersten Woche nach der Entbindung hatte Richards Mutter mehrmals angerufen, und sogar Mr. Boneford hatte mit ihr gesprochen, so laut und dröhnend, daß seine Worte fast nicht zu verstehen waren.
Und dann Geoffs Vater. Es war seltsam, doch sie brachte es immer seltener fertig, ihn Dad zu nennen. Seit er damals das Baby zum ersten Mal gesehen hatte, sprach er kaum noch mit ihr. Als sie sich darüber bei Geoff beschwert hatte, meinte dieser nur: »Mach dir keine Gedanken. Er wird schon darüber hinwegkommen. Mutter fehlt ihm immer noch sehr. Unglücklicherweise hat er nur für diese eine Frau gelebt.«
Lizzie schob den Kinderwagen wieder weiter, wobei sie sich ab und zu über den Griff beugte und zu dem Kind sprach, das mit runden blauen Augen zum Verdeck des Wagens hinaufblinzelte.
Sie wollte schon umkehren und zurückgehen, als sie sich entschloß, den Weg am Fluß entlang zu nehmen. Neben der Straße war ein sanfter Abhang. Er lag jenseits der Gutsgrenzen, doch wenn man sich einmal am Flußufer befand, gab es kein Hindernis mehr. Nur wer sich gut auskannte, wußte, daß die verfallenen Planken, die sich im rechten Winkel bis zum Abhang hinzogen, die Grenze bildeten. Es war verzeihlich, wenn man in Unkenntnis dieses Privatgelände betrat.
Noch vor einer Woche hätte Lizzie sich nicht träumen lassen, daß sie diesen Grund und Boden jemals betreten würde. Doch nun, da Mr. Bradford-Brown nicht mehr unter den Lebenden weilte, fiel es ihr leichter. So hatte sie in wenigen Minuten den Pfad am Fluß erreicht.
Es war seltsam, daß sie nie wieder so nahe am Fluß gewesen war seit dem Abend, als sie sich hineingeworfen hatte, um Richards Leben zu retten. Sie fand den Spaziergang angenehm; der Pfad war ziemlich eben, und es bereitete ihr keine Schwierigkeiten, den Kinderwagen darauf vor sich herzuschieben. Das sollte sie öfter machen. Sie stellte fest, daß der Pfad gut ausgetreten war, also mußte er von jemandem benutzt werden, wahrscheinlich von John auf den Runden, die er zweimal täglich ging. Doch Geoff würde diesen Weg sicher nicht gehen, da es für ihn vermutlich beschwerlich war, den Abhang hinabzusteigen.
Da sie nun an ihn dachte, überlegte sie weiter: Hatte sie ihn wirklich gern? Nachdenklich blieb sie mit dem Kinderwagen stehen und schaute über den Fluß, dessen Oberfläche im Sonnenlicht glänzte. Die Antwort war: Wen gab es denn außer ihm, dem sie Zuneigung entgegenbringen konnte? Und wer würde sie und das Kind aufnehmen? Sie mochte Geoff. Sie konnte mit ihm leben, und das Haus war sein und ihr Zuhause. Welche andere Zukunft hatte sie denn? Die Antwort fiel nicht zufriedenstellend aus, und sie schob den Kinderwagen weiter. Und dann lag plötzlich die alte Scheune vor ihr. Sie war seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Einmal war sie hineingegangen und hatte sich die Folterwerkzeuge an der Wand angesehen. Was sie sah, hatte sie damals in einen Schulaufsatz eingebracht: ›Alte Farmgeräte‹.
Lizzie hatte sich der Scheune bis auf fünfzehn Yards genähert, als sie das Gemurmel von Stimmen hörte. Sie schob den Wagen noch ein kurzes Stück weiter, doch als sie zwei Gestalten aus dem alten Gebäude treten sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie beobachtete, wie die beiden die Arme umeinander schlangen und sich lange und leidenschaftlich küßten. Lizzie fühlte, wie ihr Gesicht sich anspannte, während sich in ihrem Kopf ein lautes Brausen erhob, das in kürzester Zeit ihren ganzen Körper ausfüllte. Sie konnte sogar die Farbe dieses Brausens wahrnehmen ‒ es war nahezu schwarz, ein dunkles, rötliches Schwarz, das ihre Augen zu versengen schien.
Lizzie meinte, schon mehrere Minuten regungslos gestanden zu haben, als die beiden Körper sich endlich voneinander lösten. Die Frau sah sie zuerst. Sie machte sich langsam von dem Mann los und zeigte auf Lizzie; und dann drehte sich auch der Mann um, und Lizzie hörte ihn ausrufen: »Lizzie! O Gott!«
Geoff machte keinen Versuch, sie aufzuhalten, als Lizzie den Kinderwagen herumriß und ihn beinahe laufend vor sich her stieß. Dann stand sie endlich auf freiem Feld, weit weg von diesem schrecklichen Ort…
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Geoff und legte den Arm wieder um Janis. »Du bist dir also ganz sicher? Und du wirst es nicht bereuen?«
»Was bereuen?«
»Ja ‒ was bereuen … Jedenfalls wird sich einiges für dich ändern. Ich bin vielleicht ein Leutnant, aber ich bleibe der Sohn von John Füller, der nicht viel mehr ist als ein Farmarbeiter. Allein diese Tatsache wird dir auch die letzte Tür verschließen.«
»O Geoff, wenn du es wagen willst, will ich es auch. Das einzige Hindernis, das ich sehe, ist dein Vater. Wer weiß, wie er es aufnimmt. Und was das Mädchen angeht: Wird sie es ertragen, daß ich ins Haus komme?«
»Sie muß es entweder ertragen oder gehen. Wenn sie nicht bleiben will, werde ich ihr anbieten, deine Wohnung für sie herzurichten. Jedenfalls wird jetzt alles in Ordnung kommen. Und jetzt geh heim und sag deiner Mutter, wohin sie sich Cornwall und die Schweiz stecken kann.« Er lächelte knapp und fügte hinzu: »Und bereite sie auf den Schock vor, daß du diesen Fulton-Kerl heiraten wirst. Wahrscheinlich wird sie heulen wie ein Schloßhund. Als Liebhaber ihrer Tochter bin ich schon schlimm genug, aber auch noch als Ehemann? Das wird ihre Abreise nach Cornwall erheblich beschleunigen. Also geh jetzt, Liebes.«
Janis legte die Arme um Geoffs Nacken und küßte ihn langsam auf die Lippen. »Wahrscheinlich steht mir jetzt ein Wirbelsturm bevor«, sagte sie, »aber ich werde versuchen, die Wogen so gut wie möglich zu glätten.«
»Das schaffst du schon.«
»Ja«, nickte sie, »zweifellos.«
Als sie sich zum Gehen anschickte, hielt Geoff sie noch einmal fest. »Falls du Ted begegnen solltest ‒ er hat sich in letzter Zeit ziemlich rar gemacht ‒, dann bedanke dich bei ihm, denn er hat sich als guter Freund erwiesen.«
Janis nickte wieder. »Ja, das werde ich tun. Aber … glaubst du nicht, daß er es als Druckmittel gegen mich benutzen könnte?«
»Nicht Ted. Ted kennt eine Menge Geheimnisse und behält alle für sich.«
Als sie sich schon ein Stück von Geoff entfernt hatte, drehte Janis sich noch einmal um. »Wann sehen wir uns wieder?«
»Später am Abend, in deiner Wohnung. Ich muß erst noch herausfinden, was Lizzie jetzt tun will, aber das wird nicht lange dauern.«
»Also, Lizzie«, Geoffs Stimme war laut geworden, »jetzt komm aber runter von deinem hohen Roß! Von Heirat war zwischen uns nie die Rede!«
»Du hast es zwar nicht direkt ausgesprochen, aber dein ganzes Benehmen hat darauf hingedeutet.«
»In deiner Einbildung, vielleicht ‒ aber alles, was ich wollte, war, dir nach Andrews Tod einen Halt zu bieten.«
»Ach, was du nicht sagst. Du wolltest mich haben, und nur das Wissen, daß ich nicht so leicht zu haben bin, hat dich davon abgehalten. Manchmal ist es dir richtig schwergefallen, dein brüderliches Gehabe durchzuziehen! Hältst du mich für eine Idiotin, weil ich die ganze Zeit so leichtgläubig war? Deine Übernachtungen im Krankenhaus! Letztes Jahr waren die nicht nötig! Damals haben die Untersuchungen nur wenige Stunden gedauert. Und von allen Frauen ausgerechnet sie ‒ Richards Frau!«
»Das war sie einmal.«
»Ja, das war sie; aber wie viele Liebhaber hat sie vorher und nachher gehabt? … Wage es nicht! Wenn du mich anrührst, schlage ich zurück, und zwar mit dem ersten, das mir unter die Finger kommt!« Lizzie griff nach der kleinen Bronzestatuette, die auf dem Fensterbrett stand, und fuhr fort: »Und du hast den Nerv, mir zu sagen, daß du sie als deine Frau herbringen willst und von mir erwartest, daß ich hierbleibe?! Als was? Als Hausmädchen oder als Dienstmagd? Und dann die Alternative: in ihre winzige Wohnung mit zwei Zimmern und einer Küche einziehen!«
»Du bist schließlich auch in nichts Besserem aufgewachsen. Du bist sogar …«
»Nein, ich bin in nichts Besserem aufgewachsen, aber das war nicht meine Schuld. Und dann bist du gekommen und hast dich als edler Ritter aufgespielt, um mich vor einem Leben in Sünde zu bewahren, das du in meiner Lage anscheinend für unvermeidlich gehalten hast. Aber du irrst dich; ich habe mich gewehrt in jener Nacht; und ich betone noch mal«, sie fuchtelte mit der Statuette, »daß aus mir niemals eine Miß Janis Bradford-Brown würde, die vergißt, daß sie eine Mrs. Richard Boneford war. Und da ich gerade dabei bin, sage ich dir noch etwas: Ich bin nicht aus unerwiderter Liebe zu dir so wütend, sondern weil du mich benutzt hast. Wie du vor ein paar Minuten gesagt hast, war sie immer Teil deines Lebens und die einzige Frau, die dir etwas bedeutet hat. Nun, jetzt bist du ihr gut genug. Und du solltest wissen, daß ich lieber ins Armenhaus ginge als hierzubleiben oder in ihre verdammte Wohnung einzuziehen. Ich werde von hier verschwinden, so schnell es geht, und werde froh sein, dich nicht mehr sehen zu müssen.«
Als Geoff die Hand nach ihr ausstreckte, schrie sie ihn an: »Wage es nicht, mich anzufassen! Komm mir nicht zu nahe! Ich sage dir noch eines: Es hätte mir nicht so viel ausgemacht, ich hätte dich möglicherweise sogar verstanden, wenn du offen mit mir gesprochen und mir gesagt hättest, daß sie dir so viel bedeutet, daß du sie heiraten und mit ihr wegziehen willst. Doch mir zu sagen, daß du sie hierherbringen willst und mir keine Wahl zu lassen, als mich damit abzufinden oder ihre Wohnung zu übernehmen! Bei Gott, Geoff Fulton, ich würde dich am liebsten auf der Stelle zusammenschlagen!« Lizzie schleuderte die Statuette auf die Couch und stürmte aus dem Wohnzimmer, wobei sie beinahe Meg auf dem Flur überrannte.
Als sie die Treppe hinauflief, folgte Meg ihr langsam. Lizzie riß gerade ihre Schubladen auf, als Meg in ihr Zimmer trat.
»Es mußte herauskommen, Mädel.«
»Sag nichts, Meg. Sag jetzt nichts.«
»Gut, aber ich könnte dir helfen, deine Sachen zu packen. Ich bin mit meinem Zeug schon fertig. Im Vorratsraum sind noch einige leere Koffer, die hole ich dir.«
Als sie in Lizzies Zimmer zurückkehrte, war das Bett mit Wäsche und Babysachen übersät. Meg kniete sich auf den Boden und öffnete einen der Koffer. »Reich mir die Sachen zu, die hier rein sollen«, sagte sie.
Als die beiden Koffer gefüllt waren, erhob sie sich. »Ich hole noch einen Koffer, und ein paar Schachteln sind auch noch da.«
»O Meg!« Lizzie ließ sich auf das Bett fallen und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie vergoß keine Tränen, aber ihr Körper wurde immer noch von Wut geschüttelt. Meg ließ sich neben ihr nieder, legte den Arm um Lizzies Taille und zog ihren Kopf auf ihre Schulter nieder. »Was willst du jetzt anfangen, Mädel?«
»Ich habe noch keine Ahnung, Meg.«
»Aber ich. Obwohl ‒ ich weiß nicht, ob das, was ich mir vorstelle, das richtige für dich wäre. Du könntest mit mir kommen, aber nachdem du so lange hier gelebt hast, würde es dir dort nicht gefallen. Nicht nur, weil meine Wohnung so klein ist, sondern … auch wegen der Gegend, in der sie liegt. Ich bin daran gewöhnt, mir gefällt es sogar, zumindest war es früher so. Wie ich mich jetzt wieder anpasse, wenn ich zurückgehe, weiß ich noch nicht. Aber für dich wäre es schwer, Mädel. Trotzdem, bis du etwas anderes gefunden hast, bist du mir willkommen, mehr als willkommen, und für mich wäre es schön, noch etwas länger mit dir zusammenzusein.«
»Ach, Meg, wenn ich mir vorstelle, wie weit es gekommen ist. Im Augenblick wünsche ich, man hätte mich niemals von Minnie Gillespie weggeholt. Ich war noch gar nicht lange hier, da bin ich ihr einmal begegnet, und sie hat zu mir gesagt: ›Eines Tages wird dir das leid tun.‹ Und nun scheint sie recht behalten zu haben. Und dann ist da noch meine Schwester Midge. Vor drei Jahren haben wir uns zuletzt gesehen, und wir hatten uns kaum etwas zu sagen. Sie schien glücklich zu sein; glücklicher sogar als ich. Es war ihr einundzwanzigster Geburtstag und ich brachte ihr ein Geschenk. Und da saß sie in ihrem kleinen Haus, das in Staub und Unordnung fast versank, aber sie und ihr Mann und seine Familie amüsierten sich prächtig. Als ich sie an diesem Tag verließ, fühlte ich mich merkwürdig einsam, und seit Weihnachten 1941 habe ich nichts mehr von ihr gehört ‒ und habe mich selbst auch nicht bei ihr gemeldet. Und jetzt habe ich niemanden mehr als dich, Meg.«
»Sei doch nicht albern, Mädel. Du hast Mr. Richard und seine Familie.«
»Ach Meg, ich würde nicht im Traum daran denken, ihnen unter diesen Umständen zur Last zu fallen.«
»Nein, natürlich nicht. Nun, ich gehe jetzt die restlichen Schachteln holen, und dann schlüpfe ich schnell hinaus in die Telefonzelle und rufe Miß Thirble an. Ich telefoniere nicht von hier aus, weil ich nicht möchte, daß Geoff mitkriegt, was ich mit ihr bespreche. Sie ist sicher noch im Büro, und ich werde sie fragen, ob ich den Schlüssel schon morgen anstatt Montag haben kann. Also halt die Ohren steif, Mädel, es wird sich schon alles irgendwie einrenken. Wie meine Mutter immer zu sagen pflegte: ›Wenn eine Tür sich schließt, wird dir eine andere vor der Nase zugeworfen.‹ Aber da bin ich anderer Meinung.«
Meg ging auf ihr Zimmer, zog ihren blauen Segeltuchmantel-Mantel an und setzte den flachen Filzhut auf. Danach holte sie ihre Handtasche aus der Kommode und eilte die Treppe hinunter. Am Telefontischchen riß sie ein Blatt vom Notizblock und schrieb eine Nummer aus dem Büchlein, das daneben lag, heraus. Dann eilte sie aus dem Haus.
Einige Minuten später stand sie in dem Telefonhäuschen. Als am anderen Ende der Leitung abgehoben wurde, rief sie in den Hörer: »Sind Sie das, Mrs. Boneford?« Eine Stimme antwortete: »Nein, aber ich werde sie holen. Mit wem spreche ich?«
»Mein Name ist Mrs. Price. Ich … ich bin eine Freundin von Lizzie. Könnte ich bitte mit Mr. Richard Boneford sprechen?«
»Oh, ich fürchte, er wird erst morgen abend nach Hause kommen. Aber ich hole Mrs. Boneford.«
Meg preßte den Hörer ans Ohr und wunderte sich, warum dieses Hausmädchen nicht mit dem breiten schottischen Akzent sprach, von dem Lizzie erzählt hatte.
»Hallo?«
»Oh, hallo. Ist dort Mrs. Boneford?«
»Ja, am Apparat.«
»Hier ist Mrs. Price, Sie wissen, Lizzies Freundin.«
»Ach ja. Lizzie hat uns viel von Ihnen erzählt. Wie geht es ihr?«
»Nicht besonders gut, Mrs. Boneford.«
»Sie ist doch nicht krank?«
»Nein, das nicht, aber sie ist in Schwierigkeiten.«
»Was für Schwierigkeiten?«
»Das … das ist eine lange Geschichte. Moment mal, ich muß noch etwas Kleingeld einwerfen.«
Als Meg das Gespräch wieder aufnahm, rief sie: »Sind Sie noch da?« »Ja, Mrs. Price«, antwortete die Stimme, »ich bin noch hier. Sie sagten, Lizzie sei in Schwierigkeiten. Können Sie mir mehr darüber erzählen?«
»Na ja, ich mach’s kurz. Es ist wegen Geoff, wissen Sie. Er ist jetzt ganz plötzlich damit herausgeplatzt, daß er sich verheiraten will und daß Lizzie entweder im Haus bleiben oder sich in der Wohnung von dieser Bradford-Brown in Durham einmieten kann.«
»Was sagten Sie? Wie war der Name?«
Meg blickte an die Decke des Telefonhäuschens. Sie hätte keinen Namen nennen sollen. Andererseits hätten sie es zuletzt doch erfahren. Also brachte sie ihre Lippen wieder nahe an den Hörer und rief: »Ich weiß nicht, wie Sie es auffassen werden, Mrs. Boneford, aber … es handelt sich um Mr. Richards frühere Frau. Sie nennt sich jetzt Miß Brown.«
»Niemals! Niemals!«
»Eben! Genauso denkt Lizzie auch. Sie sitzt ganz schön in der Klemme.«
»Aber meine Liebe, da müssen wir etwas unternehmen.«
»Nun, ich hätte da eine Idee, Mrs. Boneford.«
»Ja, Mrs. Price? Was meinen Sie, sollte man tun?«
»Na ja, ich habe ihr vorgeschlagen, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen, aber das wollte sie nicht. Sie wollte Ihnen nicht zur Last fallen. Also, wenn Sie sie vielleicht bald anrufen und sie einladen könnten … nun, ich bin sicher, daß sie dann kommen würde. Wissen Sie, ich gehe nämlich weg von hier, aber ich habe nur ein winziges Häuschen in Shields, und Lizzie ist etwas Besseres gewöhnt. Sie ist mir mehr als willkommen, aber sie würde sich dort nicht wohlfühlen, das weiß ich.«
»Aber selbstverständlich, Mrs. Price. Ich werde sie anrufen. Richard ist gerade nicht daheim, aber ich weiß, daß er Lizzie auf der Stelle einladen würde. Da bin ich ganz sicher.«
Ein weiteres Signal ertönte und Meg mußte noch einige Münzen einwerfen. »Sind Sie noch da?« schrie sie wieder. »Ja, Mrs. Price, ich bin noch da«, war die Antwort. Mrs. Bonefords Stimme war klar und fest. »Ich werde mein Bestes tun, sie am Telefon zu überzeugen, daß sie uns besuchen soll, und daß wir unbedingt das Baby sehen müssen. Wie lange soll ich mit dem Anruf warten? Eine halbe Stunde?«
»Ja, das müßte passen. Lind danke, vielen Dank!«
»Sie kommen doch mit?«
»Ich? O nein! Wie ich sagte, ich habe mein eigenes Heim.«
»Wir würden uns sehr freuen, Mrs. Price, und Lizzie scheint an Ihnen zu hängen. Außerdem ist die Reise lang, und es wäre mir lieber, wenn sie Gesellschaft hätte.«
»Sie sind sehr liebenswürdig, Mrs. Boneford, aber …«
»Dann kommen Sie also mit.«
»Warten Sie…«
»Auf Wiedersehen, Mrs. Price.«
Meg starrte auf den stummen Hörer und murmelte: »Ich soll nach Schottland? Zu so vornehmen Leuten? Nein, nein. Ich werde Lizzie in den Zug setzen, und das war’s dann. Mehr mache ich nicht.« …
Meg befand sich zufällig im Wohnzimmer, als das Telefon läutete. Schnell lief sie in den Flur und hob ab. Es war Mrs. Boneford, die höflich fragte, ob sie Lizzie sprechen könne.
»Ja, Mrs. Boneford, ich hole sie.«
Sie trottete über den Flur und erklomm einige Stufen der Treppe. Dann schrie sie: »Lizzie! Lizzie! Du sollst ans Telefon kommen!«
Es dauerte einige Sekunden, bis Lizzie am Treppenabsatz erschien und langsam hinabstieg. »Beweg dich, Mädel«, forderte Meg sie auf, »es ist Mrs. Boneford.«
Dennoch ging Lizzie nicht schneller. »Hallo, Edith«, sagte sie, als sie den Hörer nahm. »Hallo, Lizzie«, kam die Antwort. »Hören Sie zu, Lizzie. Sie setzen sich morgen früh mit Mrs. Price in den Zug und kommen geradewegs hierher. Verstehen Sie mich? Ich werde mich auf keine Diskussion einlassen. Sie tun, was ich sage. Bringen Sie nur Ihr Handgepäck mit, den Rest können Sie später holen lassen.«
»Nein, Edith, ich kann nicht.«
»Hören Sie auf mich. Wenn Sie es nicht tun, heißt das, daß Richard nach seiner Rückkehr morgen abend die Reise nach Shields zum Haus Ihrer Freundin antreten muß, um Sie dort abzuholen. Wenn Sie tun, was ich Ihnen sage, ersparen Sie uns allen viel Mühe. Wir würden Sie gerne Wiedersehen. Nehmen Sie denselben Zug wie letztesmal. Der Einspänner wird am gleichen Ort wieder für Sie bereitstehen. Ich werde mich nicht mit Ihnen streiten. Ganz gleich, ob Sie sich morgen selbst auf den Weg machen, oder ob Richard Sie abholen muß: Sie werden hierherkommen!«
Es klickte in der Leitung, bevor Lizzie antworten konnte. Lizzie atmete schwer und legte die Hand an den Hals, als drohe sie zu ersticken. Dann ließ sie den Hörer auf die Gabel fallen, drehte sich um und lief die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Dort warf sie sich auf das Bett und weinte hemmungslos.
Meg folgte ihr, sagte jedoch nichts, sondern setzte sich ans Fußende des Bettes und ließ Lizzie sich ausweinen. Erst als das Schluchzen langsam verebbte, streckte sie die Hand aus und berührte Lizzies Schulter. »So ist’s gut; jetzt ist es heraus. Und nun zur Sache. Du kannst heraussuchen, was du brauchst, und den Rest läßt du dir nachschicken.«
Lizzie erhob sich und ging zum Waschtisch. Mit einem Handtuch trocknete sie ihre Augen, dann wandte sie sich Meg zu. »Wenn ich dorthin gehe, kommst du mit.«
»O nein, Mädel, auf keinen Fall. Abgesehen von allem anderen ‒ ich würde dort einfach nicht hinpassen. Ich habe hier schon nicht richtig hingepaßt, obwohl das keine Adligen sind.«
»Meg, ohne dich schaffe ich es einfach nicht … zumindest jetzt noch nicht. Ich … ich fühle mich so verloren. Die Bonefords sind wirklich wundervolle Menschen, aber mit dir habe ich so lange gelebt, schon vor Berthas Tod. Du warst mir mehr Mutter als sie es war ‒ sie war immer eine Lehrerin. Und du weißt alles über mich und mein Leben. Ich brauche dich, Meg. Wenn du nicht mitkommst, gehe ich mit dir nach Shields. Jetzt weißt du es. Komm doch mit, wenigstens für eine Weile, bis ich mich wieder gefangen habe.«
»Schön.« Meg schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Schön, wenn du es so siehst, muß ich wohl mitkommen. Aber die Leute werden einen Schock bekommen; denk dran, daß ich nicht nach jedermanns Geschmack bin.«
»Sie werden dich mögen.«
»Hoffentlich hast du recht; aber da ich weiß, wie ich bin, bezweifle ich das. Ich bin zu alt, um mich zu ändern und Manieren anzunehmen. Ich wüßte auch nicht, wie das gehen sollte, da ich nie welche hatte. Jedenfalls ist jetzt alles klar. Jetzt mußt du noch zu John gehen und hören, was er dazu sagt, und morgen früh sind wir weg!«
Was John sagte, entsprach dem Verhalten, das er Lizzie gegenüber in den vergangenen Monaten an den Tag gelegt hatte. Er saß in seinem Sessel und sah sie nicht an, sondern beugte sich zum Feuer hinab und klopfte seine Pfeife aus. »Ich höre, du willst uns einfach so verlassen«, sagte er.
»Nicht einfach so, Dad. Man hat mir nur die Wahl gelassen, mit einer anderen Frau in diesem Haus zu leben, oder deren Wohnung in Durham zu übernehmen. Was hätte ich deiner Meinung nach machen sollen?«
Jetzt erst drehte John Fulton sich um und sah Lizzie an. »Nach allem, was wir in den vergangenen Jahren für dich getan haben, sollten eigentlich beide Möglichkeiten für dich akzeptabel sein, Lizzie. Und wenn mein Sohn jemanden heiraten will, so ist das seine Sache. So sehe ich es.«
»Sogar wenn dieser Jemand Miß Brown ist?«
»Das geht nur ihn und sie etwas an. Außerdem ist das immer noch mein Haus, und du hast mein Einverständnis, mit deinem Kind hier wohnen zu bleiben. Aber du hast nicht das Recht, bestimmen zu wollen, wer sonst hier wohnen darf.«
Lizzies Stimme wurde lauter. »Was hättest du gesagt, wenn dein Sohn dir vor Weihnachten mitgeteilt hätte, daß er mich heiraten wollte?«
»Ich hätte gesagt, daß das nicht gutgehen würde. Ihr seid zwar nicht Bruder und Schwester, aber eure Charaktere sind zu unterschiedlich.«
Lizzie sog tief die Luft ein, ehe sie antwortete: »Da haben Sie recht, Mr. Fulton.«
John Fulton wandte scharf den Kopf zu Lizzie, als sie ihn mit vollem Namen ansprach. Sein leicht geöffneter Mund öffnete sich noch weiter, als Lizzie fortfuhr: »Ich habe ein Kind, aber eine Hure bin ich nicht! Und deshalb passen Ihr Sohn und ich nicht zusammen. Er hat sich jemanden gesucht, der seinem Wesen besser entspricht. Ich hoffe, das Zusammenleben mit Ihrer Schwiegertochter wird Ihnen Freude bereiten!«
»Lizzie, wie kannst du …«
»Sprechen Sie es nicht aus! Ich sage die Wahrheit, und das wissen Sie. Ich werde jetzt gehen. Morgen früh bin ich aus dem Haus. Ich sollte Ihnen danken für die Jahre der Fürsorge, aber wenn ich es recht bedenke, habe ich für alles hart gearbeitet. Ich bin jahrelang als Dienstmädchen ausgenutzt worden. Deshalb hat man mich doch geholt, nicht wahr? Auch als ich die Stenotypistinnenschule besuchte, mußte ich abends noch den Haushalt erledigen. Und als ich anfing, Geld zu verdienen, habe ich alles abgegeben und dafür von Bertha ein Taschengeld erhalten. Aber das hat mir nichts ausgemacht; ich habe es als Bezahlung für den Musikunterricht betrachtet, der mir wirklich Freude gemacht hat. Trotzdem hat sie immer gesagt, sie würde mein Geld für mich aufheben, damit ich etwas hätte, wenn ich heirate. Doch als sie starb, hat sie mir seltsamerweise nichts hinterlassen als ihre Armbanduhr; kein Geld, und auch sonst nichts, und alles nur, weil ich gesündigt habe. Etwas habe ich von ihr gelernt: Auch gute Menschen können ein kleinliches Herz besitzen.«
»Hinaus! Niemals hätte ich geglaubt, aus deinem Mund solche Worte über meine Frau hören zu müssen! Sieben Jahre lang hattest du ein Heim hier und wurdest wie eine Tochter behandelt. Sie hat dich sogar geliebt …«
»Das hat sie nicht, sonst hätte sie mir meinen sogenannten Fehltritt verziehen. Was Ihre Frau von Anfang an wollte, war eine Schülerin. Jemanden, den sie in ihrer liebenswürdigen, eindringlichen Art unterrichten und beherrschen konnte; aber lieben ‒ nein. Sie liebte nur einen Menschen, und das waren nicht einmal Sie ‒ es war ihr Sohn. Und ich hoffe, daß sie, wo immer sie jetzt auch sein mag, glücklich sein wird über ihre Schwiegertochter, die ihren Platz in diesem Haus einnehmen wird, auf das sie so stolz war.«
John war sprachlos vor Zorn. Er bot das gleiche Bild wie kurz zuvor Geoff, und Lizzie erkannte, daß er sie am liebsten geschlagen hätte. Sie drehte sich um und ging aus dem Zimmer. Oben angelangt, fuhr sie fort, ihre Sachen zusammenzupacken, und als sie damit fertig war, stellte sie fest, daß sie nicht viel besaß.