Kapitel 7

»Herrje! Ich war der Meinung, daß alle guten Menschen in Shields wohnen, aber waren diese Leute nicht hilfsbereit?« Meg und Lizzie saßen im Bus, auf der vorletzten Etappe ihrer Reise. Der Schaffner hatte zwei Koffer, eine Umhängetasche und zwei Reisetaschen unter den Stufen verstaut; ein Mann war aufgestanden und hatte Meg seinen Platz überlassen, und ein Junge hatte für Lizzie und das Baby seinen Sitz geräumt. »Mir gefällt Schottland jetzt schon!« schrie Meg über den Mittelgang hinweg, wo Lizzie drei Reihen weiter vorne saß. Die Leute in Hörweite lachten, und einige fragten, woher sie kämen. »Aus Durham in der Grafschaft Durham«, antwortete Meg vergnügt. »Wir sind schon den ganzen Tag unterwegs.«

»Ho, das ist eine lange Strecke! Und wohin soll’s gehen?«

»Rauf in die Hügel, soweit ich weiß, zu einem Ort namens Beckside Hall.«

»Beckside!« Die Umsitzenden tauschten Blicke, und einer meinte: »Oh, das ist aber noch ein gutes Stück weit weg. Der Bus fährt dort nicht hin.«

»Ich weiß, aber wir werden abgeholt.«

So ging es weiter, bis die Passagiere immer weniger wurden und außer Meg und Lizzie nur noch zwei Mitreisende im Bus saßen. Dann waren sie endlich am Ziel, und der Schaffner sprang aus dem Bus, stellte ihr Gepäck an den Straßenrand und winkte ihnen noch mal zu, als der Bus davonfuhr…

Lizzie blickte sich um und entdeckte den Einspänner an der Mündung einer Seitenstraße. Daneben stand eine junge Frau.

Diese kam auf sie zu und rief ihnen entgegen: »Hallo! Sie sind pünktlich, und ich habe es gerade noch geschafft.« Sie sah Lizzie an und stellte sich vor: »Ich bin Jean McKenzie.

Matty liegt mit Rheuma danieder und … und Edith hat Ihnen sicher gesagt, daß Richard erst am Abend zurück sein wird.«

Sie streckte die Hand aus, die Lizzie ergriff, während sie mit der anderen das Baby an die Brust drückte. Mit erschöpftem Lächeln sagte Lizzie: »Nun, ich bin Lizzie und das ist Jane.« Sie nickte zu dem Kind hinunter, und die junge Frau antwortete: »Was für ein niedliches Mädchen!« Dann wandte sie sich an Meg. »Und Sie sind Meg?« »Jawohl, ich bin Meg«, gab diese zurück.

»Lassen Sie mich das nehmen.« Jean McKenzie beugte sich hinab und hob mühelos die beiden Koffer in den Wagen. »Wie war die Reise?« erkundigte sie sich. »Hoffentlich mußten Sie nicht stehen. Es ist schrecklich heutzutage. Als ich von Portsmouth kam, konnte ich während der ganzen Fahrt keinen Sitzplatz ergattern.«

Noch bevor Lizzie im Einspänner saß, hatte sie festgestellt, daß diese Jean McKenzie eine äußerst tüchtige Frau war, wenn auch nicht ganz so jung, wie sie sie auf den ersten Blick eingeschätzt hatte. Sie mußte um die dreißig sein. Sie war groß und sehr schlank, hatte eine Mähne blonden Haares und ein anziehendes Gesicht mit großen, runden, braunen Augen. Sie plauderte fast ununterbrochen und ließ die anderen kaum zu Wort kommen.

Der Wagen holperte die Straße entlang. Einmal drehte Jean sich zu Lizzie um und meinte: »Richard wird sich freuen, Sie zu sehen. Er hat mir viel von Ihnen erzählt. Richard und ich sind zusammen aufgewachsen, wissen Sie. Na ja, zumindest, bis ich sieben und er neun Jahre alt war, dann wurde er ins Internat geschickt, ebenso wie ich kurze Zeit später. Danach haben wir uns meist nur noch in den Ferien gesehen und gemeinsam die Gegend unsicher gemacht.«

Meg blickte Lizzie bedeutungsvoll an. Lizzie erwiderte ihren Blick nicht, sondern fragte: »Und wie geht es Richard jetzt?«

»Oh, wunderbar. Er war noch einmal im Krankenhaus. Die Ärzte haben ein kleines Wunder vollbracht. Wir sind alle so froh. Am vergangenen Wochenende haben wir einen Einkaufsbummel in der Stadt gemacht, und … er war kein bißchen verlegen. Es war herrlich, ihn so zu erleben.«

Wieder versuchte Meg, Lizzies Blick festzuhalten. Beide dachten das gleiche: War Lizzie vom Regen in die Traufe geraten?

Lizzie hatte in der letzten Nacht kaum geschlafen. Während Stunde um Stunde verrann, war ihre Erleichterung über die Wende, die die Dinge genommen hatten, gewachsen. Sie hatte erkannt, wem ihre wahre Zuneigung galt. Sie dachte daran, daß Richard gesagt hatte, er würde ihr nie einen Heiratsantrag machen; doch das mußte nicht heißen, daß er sich nichts aus ihr machte. Nun, zu gegebener Zeit könnte sie ihm einen Antrag machen. Und nun war da dieses Mädchen …. nein, diese Frau, die von ihrer Vertrautheit mit Richard erzählte ‒ sozusagen, um das Eis zu brechen. O ja, sie brach das Eis, und zwar ganz gewiß in der Absicht, Lizzie wissen zu lassen, wie die Dinge standen. Sie war die Sorte Frau, die sicher nicht warten würde, bis Richard ihr einen Antrag machte. In ihrer lebhaften, zupackenden Art hatte sie ihn wahrscheinlich selbst gefragt und die Angelegenheit ein für allemal geregelt. War es nicht eine Ironie des Schicksals, war es nicht ein Witz, daß Lizzie nun in die gleiche Situation geriet, der sie vor ein paar Stunden entflohen war?

Das Wort ›Witz‹ ‒ Mr. Honeysett hatte es erwähnt.

Eine halbe Stunde bevor der Bus nach Durham ging, hatte Lizzie mit Meg Koffer und Taschen zur Haltestelle geschleppt. Meg war beim Gepäck geblieben, während Lizzie noch mal ins Haus zurückkehrte, um das Kind und einige Kleinigkeiten zu holen. Geoff hatte sich nicht blicken lassen, und sein Vater war bereits zur Arbeit gegangen. Lizzie begegnete niemandem. Sie verzichtete sogar darauf, sich ein letztesmal in der Küche umzusehen; sie wollte nur so schnell wie möglich weg. Am Gartentor war sie auf Ted Honeysett gestoßen. Er hatte seinen Karren vor sich hergeschoben und gefragt, ohne zuvor zu grüßen: »Gehst du zum Bus?« »Ja, Mr. Honeysett«, hatte Lizzie geantwortet.

»Na, dann schmeiß deine Bündel auf meinen Karren«, sagte er, und das hatte sie auch getan. Eine Weile waren sie schweigend nebeneinander hergegangen. Als er Megs ansichtig wurde, die auf ihrem Koffer hockte, fragte er Lizzie: »Fahrt ihr in Urlaub?«

»Nein, Mr. Honeysett. Wir gehen weg von hier.«

Ted schien nicht überrascht zu sein und meinte nur: »Ah ja?« und fügte beiläufig hinzu: »Wegen ihr?«

Lizzie hatte ihn angesehen, und Ted hatte ihren Blick erwidert. »Ich komme rum, Lizzie; ich komme rum.« Das brachte Lizzies Gedanken in Verbindung mit Johns Worten, daß Ted Honeysett mehr wüßte, als gut für ihn wäre. Ihr wurde bewußt, daß Ted die Situation von Anfang an durchschaut haben mußte. Er fuhr fort: »Geoff hat immer gern Witze gemacht, schon als junger Bursche. Hat immer noch eins draufgesetzt, wenn man was zu ihm sagte; hat immer einen Witz daraus gemacht. Ich habe nichts gegen ihn, darum hoffe ich, daß ihm das Lachen nicht zu schnell vergeht. Was meinst du dazu, Mädel?« Lizzie hatte ihm zugestimmt. »Ja, Mr. Honeysett, ich hoffe auch, daß er noch eine Weile etwas zu lachen hat.«

»Da sind wir.« Er hatte die Bündel vom Karren genommen und sie neben Meg auf den Boden gestellt. »Sind Sie auf dem Weg in die Ferien?« sprach er sie an.

»Ja, Mr. Honeysett, das bin ich.«

»Und wohin soll’ s gehen?«

»Nach Deutschland, Mr. Hitler besuchen.«

Ted hatte gegrinst und festgestellt: »Stell eine ordentliche Frage und du kriegst eine alberne Antwort.« Dann wurde er ernst. »Wenn Sie Hitler sehen, bitten Sie ihn, meinen Billy gut zu behandeln. Er ist seit zwei Jahren in Gefangenschaft.«

Meg hatte sich mühsam von dem Koffer erhoben und in verändertem Ton gesagt: »Es tut mir leid; das wußte ich nicht.«

»Nein, woher sollten Sie das auch wissen? Sie können auch nicht wissen, daß mein zweiter Junge bei einem Minenräumkommando ist, daß Katy und Carol bei der WAAFS4 sind, daß mein Fred Mechaniker bei der Luftwaffe ist und Nancy, meine Jüngste, bei einer Konzerttruppe und die Jungs zum Lachen bringt. Sie könnte einen Toten zum Lachen bringen, dieses Mädchen. Nun«, er wandte sich jetzt Lizzie zu, »wohin ihr auch geht, ich wünsche dir Glück, Mädel.« Weich erwiderte Lizzie: »Danke, Mr. Honeysett, für Ihre Freundlichkeit all die Jahre.«

»Ach Mädel, was ich für dich tun konnte ist nichts im Vergleich zu dem, was ich für andere getan habe, die mir zum Dank höchstens einen Tritt in den Hintern gegeben haben. Jedenfalls, viel Glück, und Ihnen auch, Mrs. Meg.«

»Danke, Mr. Honeysett«, gab Meg zurück. »Es tut mir leid, wenn ich bissig war. Ich fühle mich einfach bissig heute, empört, irgendwie.«

»Ja, ich verstehe. Darf ich fragen, ob Sie jetzt nach Shields fahren?«

»Nein, nicht nach Shields.«

»Nun denn.« Ted blickte Lizzie in die Augen. »In diesem Fall richte bitte Mr. Richard meine Grüße aus. Ein netter Mann. Keine Spur von Spaßmacher. Viel Glück, ihr beiden.« Er packte die Griffe seines Karrens und schob davon, während die beiden Frauen hinter ihm her starrten.

»Wie konnte er wissen, wohin wir gehen?« fragte Meg.

Lizzie setzte das Kind von einem Arm auf den anderen, ehe sie antwortete. »Er ist klüger, als manche Leute glauben, er ist sogar klüger als die meisten Leute hier.«

»Komisch, ich habe ihn nie so recht gemocht.« Meg schürzte die Lippen. »Ich hielt ihn immer für hinterhältig; aber so, wie er mir jetzt Bescheid gestoßen hat, indem er mir seine Kinder aufgezählt hat, meine ich, daß ich ihn falsch beurteilt habe. Er war wohl von Anfang an gezwungen, zu schnüffeln und zu hamstern, so daß es ihm zur zweiten Natur geworden ist. Aber was meinte er damit, daß Mr. Richard kein Spaßmacher ist?«

Ja, was hatte er damit gemeint? Wenn sich hier eine schlechte Komödie abspielte, so war Richard sicher nicht daran schuld.

Lizzie verspürte das Verlangen zu weinen ‒ nicht in Tränen auszubrechen, sondern einfach still vor sich hin zu weinen.

Die Stimme der Frau durchbrach ihre Gedanken. »Wir wollten an diesem Wochenende eine kleine Feier veranstalten; eine Party mit einigen Freunden. Es ist schön, daß Sie gekommen sind. Es wird Ihnen sicher gefallen.«

Lizzie betrachtete das Profil der Frau und stellte fest, daß sich hinter all dem Geplapper eine große Anspannung bemerkbar machte. Betrachtete Jean sie als Rivalin? Das war nicht nötig, wirklich nicht. Lizzie würde ein paar Tage bleiben und dann mit Meg nach Shields zurückfahren. Sie erinnerte sich, daß sie den Kinderwagen und drei Kartons im Schuppen untergestellt hatte. Sie hatte am letzten Abend ihre Nachbarn, die Bramleys, gesprochen und sie gebeten, die Sachen mitzunehmen, wenn sie bei den Fultons vorbeikämen. Sie wollte sie anrufen und ihnen neue Anweisungen geben. Mehr konnte sie im Augenblick nicht tun.

»Tante Edith und Onkel James sind ganz aufgeregt, weil Sie kommen. Sie sind ganz verrückt danach, das Baby zu sehen«, sagte Jean.

Also hieß es Tante Edith und Onkel James. Natürlich nannte Jean sie so, nachdem sie sie seit ihrer Kindheit kannte.

Lizzie betrachtete wieder ihr Profil. Jean hielt den Kopf hoch, die Schultern hatte sie zurückgenommen. Lizzie konnte sich vorstellen, wie sie über Moore wanderte, Berge erklomm und Jagden ritt. O ja, Jean würde gut nach The Hall passen. Sie war dafür geboren. Lieber Gott! Sie wünschte, sie wäre nicht hierhergekommen. Sie dachte wieder an Ted und seine Bemerkung über den Spaßmacher. Diesmal schien sie das Opfer des Spaßes zu sein, und das schmerzte sie mehr, als sie es für möglich gehalten hatte.

Sie hatte Andrew geliebt, und diese Liebe war noch immer tief in ihrem Herzen verwurzelt. Doch niemals hatte sie sich vorgestellt, daß ihre herzliche Zuneigung zu Richard den Keim einer anderen Liebe in sich trug, die nun über Nacht hervorgebrochen war. Nein, nicht wirklich über Nacht. Wie oft hatte Lizzie im Verlauf der letzten Monate Geoff mit Richard verglichen? Wie oft hatte sie sehnsüchtig auf Richards Anruf gewartet, um seine Stimme hören und eine Weile mit ihm sprechen zu können? Und warum, wenn sie ihn sich in Gedanken vorstellte, so wie er aussah, wollte sie ihn trotzdem immer nur ansehen? Vernünftig wie sie war, hätte ihr das Fehlen solcher Anzeichen bei Geoff auffallen müssen. Doch jetzt erkannte sie die Zeichen deutlich genug. Die Frau, die das Fuhrwerk lenkte, war zutiefst verliebt und hatte Angst. Nun, die brauchte sie vor Lizzie nicht zu haben.

Als sie endlich in die Auffahrt zum Haus einbogen und vor dem Eingang hielten, standen da, als hätten sie sich seit dem letzten Abschied nicht bewegt, James und Edith. Das erste, was Edith tat, war, Lizzie das Kind aus den Armen zu nehmen und es in ihren eigenen Armen zu wiegen, wobei sie zwischendurch ausrief: »O Lizzie, wie schön, Sie wieder zu sehen! Und das ist sicher Meg. Darf ich Sie Meg nennen?«

»Sie dürfen, Ma’am.«

Es war lange her, daß Meg jemanden Ma’am genannt hatte, aber sie erkannte eine Lady, wenn sie eine sah. Dann ergriff James ihre Hand und schüttelte sie, als wolle er ihr den Arm ausreißen, während er fragte: »Gute Reise gehabt?« Meg kam kaum zu Atem. »Ja, sehr gut, Sir …«, schnaufte sie.

»Dann kommen Sie beide doch herein.«

Während die anderen ins Haus gingen, rief Jean McKenzie ihnen nach: »Ich will nur schnell das Pferd unterstellen und füttern.«

Drinnen wartete Phyllis, um Lizzie zu begrüßen. »Ich bin so froh, Sie zu sehen. Wahrhaftig, ja.«

»Danke, Phyllis. Ich freue mich, hier zu sein.«

»Die Köchin hat extra für Sie einen Haufen Bannocks zubereitet.«

»Das ist nett. Ich danke ihr. Aber ich werde sie sowieso bald sehen.«

»Kommt herein«, drängte James. »Legt eure Sachen ab und setzt euch. Wie steht’ s mit etwas Tee?« Er wandte sich an Phyllis. »Hören Sie auf, das Kind anzustarren. Es wird sich ängstigen, wenn Ihr Mund so weit offen steht wie ein Scheunentor. Bringen Sie den Tee.«

Meg, die gerade dabei war, ihre Hutnadel herauszuziehen, erstarrte. Und als Phyllis ihr zunickte und brummte: »Da haben Sie ihn, er gibt wieder an«, brach sie in ein gewaltiges Gelächter aus, in das alle einfielen. »O Meg«, meinte Edith, »Sie werden sich bald an die beiden gewöhnt haben. Wir haben hier unseren eigenen Privatkrieg, und es gibt niemals einen Waffenstillstand. Kommen Sie herein.«

Meg, die sich inzwischen von Hut und Mantel befreit hatte, stand mit offenem Mund in der Tür des Wohnzimmers, und wurde erst durch einen sanften Stoß von Lizzie ermuntert, weiterzugehen. Während die anderen sich unterhielten, blieb Meg die ersten zehn Minuten stumm. Sie ließ jedoch ihre Blicke durch den Raum schweifen, soweit es ihr möglich war, ohne den Kopf allzusehr zu verdrehen. Sie wußte schließlich, daß es unmanierlich war, sich im Haus anderer Leute allzu neugierig zu gebärden. Doch ein Zimmer wie dieses hatte sie noch nie gesehen, nicht einmal in einem Kinofilm. Und diese Leute unterhielten sich mit Lizzie wie ganz normale Menschen! Abgesehen vom Tonfall ihrer Stimmen konnten sie ebensogut die Nachbarn von nebenan sein.

Plötzlich ging die Tür auf, und die junge Frau steckte ihren Kopf herein. »Ich muß noch saubermachen«, rief sie. »Pedro war wohl schlecht gelaunt und hat seinen Futterbehälter umgeworfen. Wahrscheinlich vermißt er Matty. Hat jemand angerufen?«

»Nein, Liebes, noch nicht.«

James und Edith wechselten besorgte Blicke. Lizzie hätte am liebsten ausgerufen: »Es ist alles in Ordnung. Ich kann ihn ja verstehen.« Sie war der Meinung, Jean warte auf einen Anruf von Richard, um die Zeit zu vereinbaren, wann sie ihn an der Bushaltestelle abholen solle.

Edith erklärte gerade die Zimmerverteilung. »Wir haben uns sehr beeilt, die Räume herzurichten. Für heute nacht haben wir Meg neben Ihnen einquartiert; aber vielleicht hält sie sich später lieber bei Phyllis und Mary auf. Es gibt dort noch einen hübschen kleinen Anbau, der nur ordentlich gelüftet werden müßte. Aber das können wir ja später besprechen.« Sie nickte Meg zu. »Und hier kommt unser Tee. James, bitte hilf Phyllis.«

»Ich wüßte nicht, warum ich das tun sollte«, murrte James und erhob sich widerstrebend.

Meg beobachtete die Szene mit einem Gesicht, das vor Vergnügen leuchtete. Lizzie konnte sich vorstellen, wie gut Meg hierher paßte, wie gerne sie in die Kabbeleien eingreifen würde, was sie aber vorläufig aus Ehrfurcht gegenüber Edith und James und dem vornehmen Haus noch nicht wagte. Megs Bezeichnung für die beiden wäre sicher ›Adeligen‹ Und das waren sie im wahrsten Sinn des Wortes. Nur wenige Stunden zuvor hatte Lizzie sich ausgemalt, wie sie mit ihnen ihr Leben verbringen und von ihnen lernen würde, denn ihr war bewußt, wie unwissend sie in manchen Dingen war. Wieder verspürte sie den Drang zu weinen.

Dieser Wunsch beherrschte sie auch während des Tees; und als später Edith an ihre Zimmertür klopfte und eine Unterhaltung mit ihr begann, fühlte Lizzie wieder ihre Augen feucht werden, als sie ihr erzählte, was zu Hause geschehen war.

»Ich glaubte, Mr. Fulton hatte Sie gebeten, seine Frau zu werden. Richard sagte etwas in dieser Richtung«, meinte Edith. Lizzie schüttelte den Kopf. »Nicht in Worten, Edith«, antwortete sie. »Er hat immer nur Andeutungen gemacht. Aber Sie verstehen doch, daß ich nicht länger dort bleiben konnte, nicht wahr?«

»Nein, meine Liebe, das konnten Sie wirklich nicht.« Edith war empört. »Eine unmögliche Situation. Und diese Person! Sie war immer schon hitzköpfig, ungestüm und unberechenbar, und das wird sie auch bleiben.«

Lizzie lächelte schwach. »Eines der ersten Dinge, die Geoff herausstrich, war, daß Janis sich nun ganz verändert habe und daß ich gut mit ihr auskommen würde.«

»Niemals!«

»Das sagte ich auch: Niemals! Wie auch immer, Meg hat ein nettes Häuschen in Shields und …«

»Nun, das können wir später besprechen. Sobald Richard zurück ist, können wir das gemeinsam bereden. Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie sich ein wenig ausruhen können. In einer Stunde gibt es Abendessen. Legen Sie sich ein wenig hin mit Ihrem Baby. War das Fläschchen in Ordnung?«

»Ja, vielen Dank.«

»Die Köchin ist begeistert, daß wir jetzt ein Baby im Haus haben. Ein Kind im Haus ist eine große Bereicherung. Ruhen Sie sich nun aus, meine Liebe. Wir sehen uns beim Essen und sprechen später weiter.«

Noch mehr sprechen. Wozu? Sogar wenn Jean ein engelhaftes Wesen wäre, konnte Lizzie sich nicht vorstellen, mit ihr und Richard unter einem Dach zu leben, nachdem die beiden verheiratet waren.

Als Meg erfuhr, daß sie gemeinsam mit den Gastgebern essen sollte, gab sie Lizzie zu verstehen, daß sie lieber in der Küche bei Mary und Phyllis bliebe. Ob Lizzie das wohl unauffällig einfädeln könne? Lizzie konnte. Und mm war das Abendessen beinahe vorüber, und Lizzie, die Jean gegenübersaß, wünschte, diese würde einen Moment mit ihrem Geplapper aufhören, denn sie sprang unaufhörlich von einem Thema zum nächsten. Doch plötzlich, als das leise Läuten des Telefons von der Halle herüberdrang, verstummte sie.

Jean blickte in die Runde. »Würdet Ihr mich entschuldigen?«

»Natürlich, meine Liebe, geh nur.«

Lizzie beobachtete, wie Jean förmlich aus dem Zimmer rannte. Als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, stieß Edith einen Seufzer aus. Jean ermüdet sie bereits, dachte Lizzie. Wie wird es sein, wenn sie hier lebt? Doch Edith liebte ihren Sohn und würde alles tun, um ihn glücklich zu sehen.

Die Unterhaltung stockte, und eine Weile aßen sie schweigend. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und da stand diese große, hübsche junge Frau mit einem solchen Ausdruck der Liebe und des Entzückens auf ihrem Gesicht, daß es Lizzie einen Stich ins Herz versetzte. Jean sagte nichts, sondern ging zum Tisch und stellte sich hinter ihren Stuhl, dessen Lehne sie fest packte. Sie hatte den Kopf gesenkt, doch als sie ihn wieder hob, konnte man auf ihrem strahlenden Gesicht Tränen sehen. James erhob sich von seinem Platz, ging auf sie zu und legte den Arm um ihre Schultern. »Ich hab’s dir doch gesagt«, meinte er. »Niemand kann George versenken.«

Jean drückte ihr Gesicht an James’ Schulter, dann blickte sie auf und sah Edith an. »Ich … ich habe wirklich mit ihm gesprochen! Sie haben kein einziges Schiff verloren, und nicht einen Mann! Sie sind leicht getroffen worden, aber es wurde kaum Schaden angerichtet. Herrlich! Er kommt am Wochenende her. Stell dir vor, Tante Edith, er kommt!« Impulsiv küßte sie Edith auf die Wange. Diese umfaßte mit ihren Händen Jeans Gesicht und sagte: »Wir sind ebenso erleichtert wie du, meine Liebe. Wir haben immer gesagt, keine Nachrichten sind gute Nachrichten, und wir haben recht behalten.«

Jean wandte sich an Lizzie. »Sie müssen mich für eine alberne Gans halten, weil ich nicht aufgehört habe zu reden, seit Sie angekommen sind. Aber sehen Sie, George, mein Ehemann, ist seit Monaten auf See, und ich habe nichts von ihm gehört, und obwohl es keine Berichte über versenkte Schiffe gab, habe ich trotzdem … na ja, Sie verstehen. Es tut mir leid, wenn ich zuviel geredet habe, aber … aber wir haben vor zwei Tagen erfahren, daß sein Schiff vielleicht einläuft. Ein Freund gab uns den Hinweis, und seitdem konnte ich nicht aufhören zu reden.«

»Setz dich und iß zu Ende«, sagte James. »Soviel Aufregung wegen eines gewöhnlichen Kapitäns. Wenn er wenigstens Admiral wäre oder Churchills Adjutant, oder Eisenhowers Stellvertreter, aber wozu die ganze Erregung um einen gewöhnlichen Kapitän? Noch dazu mit dem Namen George!«

Diese Sätze hätten normalerweise helles Gelächter hervorgerufen; statt dessen blickten alle besorgt auf Lizzie, die ihr Gesicht mit den Händen bedeckte und weinte ‒ nicht leise, wie sie es seit Stunden gewollt hatte, sondern laut und hemmungslos.

Man führte sie vom Tisch weg zu einem bequemen Sessel, und Edith befahl: »Hol etwas Brandy, James.« Jean fragte verwirrt: »Habe ich das ausgelöst mit meinem dramatischen Auftritt?«

»Nein, nein, es ist einfach eine Reaktion auf das, was sie in letzter Zeit durchgemacht hat, und … weißt du, das Baby ist erst wenige Wochen alt, und die Entbindung war sehr schwierig, soviel ich weiß. Sie ist erschöpft. Am besten bringen wir sie zu Bett.«

»Nein, nein.« Lizzie versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Schwer atmend sagte sie: »Es … es tut mir leid.« Mit tränenverschmiertem Gesicht blickte sie zu Jean auf. »Es ist… weil Ihr Mann in Sicherheit ist.«

Aber natürlich war es nicht nur, weil Jeans Mann sicher war, sondern weil sie überhaupt einen Ehemann hatte, und weil dieser Ehemann nicht Richard hieß.

»Es geht mir schon besser. Bitte verzeihen Sie mir.«

»Da gibt es nichts zu verzeihen, Mädchen. Trinken Sie das.« Ein Glas wurde ihr unter die Nase gehalten. Als sie von dem Brandy nippte, verschluckte sie sich und mußte husten. »Das schmerzt mich«, bemerkte James bitter. »Immer verschlucken sich die Frauen am Brandy und vergeuden die Hälfte. Für Frauen ist Brandy einfach zu gut.«

»Sei still, James!«

»Ist schon gut, meine Liebe. Ich versuche nur, zu … zu…« Er ging. Lizzie, die sich in den Sessel zurücklehnte, verspürte den Drang zu lachen, ebenso laut wie sie vorher geweint hatte. Doch sie fürchtete, daß es in einen hysterischen Anfall übergehen würde und verbiß es sich. So viel war in dieser kurzen Zeit geschehen. Und Richard … nun, Richard konnte immer noch ihr gehören. Sie mußte nur warten, bis er nach Hause kam.

Es war schon spät abends, als Edith ihren Sohn an der Eingangstüre begrüßte. Sie hatte den Lastwagen in die Einfahrt rumpeln gehört und zu Lizzie gesagt: »Bleiben Sie sitzen, meine Liebe. Das ist Richard. Er wird entzückt sein, Sie zu sehen.« Damit war sie aus dem Zimmer geeilt. Und nun zog sie ihren Sohn an der Hand durch die Halle und legte den Finger auf den Mund.

»Was ist los?« fragte Richard verwirrt im Flüsterton.

»Leg deinen Mantel ab«, gab Edith ebenfalls flüsternd zurück.

»Laß mich doch wenigstens reingehen. Was ist denn los?«

»Viel ist los. Du warst nur sechsunddreißig Stunden weg, aber inzwischen ist eine Menge passiert.«

»Jean? Hat sie etwas von George gehört?«

»Ja, aber nicht ›von George‹, sondern George selbst. Er ist gesund und munter in Portsmouth eingelaufen, und am Wochenende kommt er her.«

»Oh, gut. Jetzt wird sie endlich aufhören, jedesmal einen Veitstanz aufzuführen, wenn das Telefon läutet. Also … was ist los?«

»Lizzie ist hier.«

»Lizzie?« Er blinzelte überrascht. »Lizzie? Warum?«

»Ich muß mich kurz setzen«, erwiderte Edith und zog sich einen Stuhl heran. »Ich bekomme noch einen Herzanfall von all der Aufregung, bevor die Nacht vorüber ist. Ich gebe dir nur einen kurzen Bericht; zu gegebener Zeit wird sie dir alles selbst ausführlich erzählen. Man hat sie sozusagen aus dem Haus geworfen.«

»Was!«

»Warte, es kommt noch besser. Deine Ex-Frau beabsichtigt, wieder zu heiraten.«

»Nun, das überrascht mich nicht.«

»Sie wird den Mann heiraten, von dem du mir erzählt hast, er würde Lizzie und ihr Kind nehmen ‒ diesen Fulton.«

»Geoffrey Fulton? Das ist unmöglich. Er … er hat mir doch selbst gesagt, er würde Lizzie heiraten.«

»Was immer er dir gesagt hat, Lizzie hat mir bereits erzählt, daß er sie nur benutzt hat. Wie es scheint, hatten er und Janis eine Affäre, die bereits während ihrer Schulzeit begann. Ihr Vater hat ihn damals aus dem Gut geworfen. Deshalb ging er zur Armee. Jedenfalls scheinen die beiden ihr Verhältnis da fortgesetzt zu haben, wo sie es beendet hatten, und das schon seit Monaten. Doch soviel ich zwischen den Worten herauslesen konnte, ist Lizzie deshalb nicht das Herz gebrochen. Aber sie hat das Haus als ihr Heim betrachtet und hatte ein Kind zu versorgen, so hat sie keinen anderen Ausweg gesehen. Du siehst also, Richard«, sie wackelte mit dem Zeigefinger, »es hat ihr niemand einen Heiratsantrag gemacht.«

»Mutter, bitte, das ändert doch nichts. Setz dir keine Flausen in den Kopf.«

»Ich kann mir unmöglich mehr Flausen in den Kopf setzen, als schon darin sind.«

»Mutter, ich werde das Mädchen nicht bitten, mich zu heiraten, und dabei bleibt es. Ich werde ihr Freund bleiben und für sie tun, was ich kann. Siehst du nicht, in welcher Lage ich mich befinde? Und schau Lizzie an, sie ist ein hübsches Mädchen, voller Lebensfreude. Sie verdient …«

»Jawohl, sie verdient einen guten Mann und ein gutes Zuhause. Beides kann sie hier finden. Sei nicht dumm, Richard.«

»Es hat keinen Zweck, Mutter. Du mußt mir glauben, wenn ich dir sage, daß ich weder Lizzie noch ein anderes Mädchen bitten könnte, meine Frau zu werden.«

»Na schön, dann frag sie eben, ob sie in Sünde mit dir leben möchte, nur laß sie nicht aus deinem Leben verschwinden. Ich gehe zu Bett. Ich bin sehr, sehr müde. Zuerst Jean und ihre verständliche Nervosität während der letzten Tage, und jetzt das ‒ das ist beinahe zuviel für mich.«

»Es tut mir leid, Mutter.« Richard beugte sich vor, legte seine Hände auf Ediths Schultern und küßte sie auf die Wange. Edith streichelte sein narbiges Gesicht und sagte: »Mein lieber Junge, bitte sei gescheit, tu es für mich.« Sie schüttelte den Kopf und ging zur Tür, doch bevor sie hinausging, drehte sie sich noch einmal um. »Sie sitzt im Wohnzimmer. Wünsch ihr gute Nacht von mir.«

Richard zögerte lange, bevor er die Tür zum Wohnzimmer aufstieß. Dort, zwischen dem Glühen der Tischlampe und den Flammen des hellen Holzfeuers im Kamin, saß Lizzie. Er eilte zu ihr und begrüßte sie: »Hallo, Lizzie. Das ist eine Überraschung, aber eine sehr, sehr erfreuliche. Meine Liebe, es ist schön, Sie zu sehen.« Er streckte seine Hände aus.

Lizzie erhob sich aus dem Sessel und legte ihre Hände auf seine. »Hallo, Richard«, sagte sie leise, um danach sachlich zu fragen: »Hatten Sie eine gute Fahrt? Ich hörte, Sie haben Rinder gekauft.«

»Ach das. Ja, ich habe ein paar gekauft, aber ich war ein wenig zu spät dran, die besten waren schon weg. Aber wie geht es Ihnen?«

»Jetzt geht es mir gut. Hat Ihre Mutter Ihnen die Geschichte erzählt?«

»Lassen Sie mich die Essenz hören.« Richard zog Lizzie mit sich zur Couch, wo sie sich Seite an Seite niederließen. »Ich bin erstaunt. Geoff sagte mir, er wolle Sie heiraten. Ich kann einfach nicht glauben, daß er ein solcher Narr ist. Sich wieder mit Janis einzulassen, nach allem, was geschehen ist!« Er schüttelte den Kopf. »Es muß ein Schock für Sie gewesen sein. Fühlen Sie sich sehr verletzt?«

»Nicht so sehr, wie Sie vielleicht glauben, Richard. Ich war wütend, ja. Ich hätte ihn beinahe geschlagen.« Sie lächelte, und Richard meinte: »Das hätten Sie wirklich tun sollen, und zwar mit etwas Hartem.«

»Es war hart genug: eine Bronzestatuette.« Richards schmale Lippen gaben seine weißen Zähne frei, als er lauthals lachte. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie Sie eine Bronzestatuette schwingen.«

»Sie wären überrascht.« Lizzies Gesicht wurde wieder ernst und ihr Ton ruhig, als sie fortfuhr: »Können Sie verstehen, warum ich ihn überhaupt in Betracht gezogen habe? Sehen Sie, jenes Haus war das einzige Heim, das ich kannte. Und ich habe schließlich ein Kind, für das ich sorgen muß. Und dann gibt es da noch jemanden, der mir viel bedeutet.«

»Noch jemanden?«

»Ja«, nickte sie, »doch er hat mich nicht gefragt.«

»Nun, dann war er ein Dummkopf.«

»Das würde ich nicht sagen.«

»Weiß er von ihrer mißlichen Lage?«

Lizzie nickte. »Ja, er weiß davon.«

»Und dennoch hat er nichts unternommen?«

»Nein.« Lizzie schüttelte den Kopf und senkte den Blick. »Sehen Sie, ich habe einmal zufällig ein Gespräch mitgehört, das er mit seiner Mutter geführt hat. Ich glaube, sie wollte, daß er mir einen Antrag macht, aber er sagte, er will nicht.« Sie sah ihn an. »Er sagte, er würde mich niemals fragen.«

Richard schloß die Augen und zerrte mit den Zähnen an seiner narbigen Unterlippe. Lizzie beobachtete ihn, während sie fortfuhr: »Also bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn zu fragen: Willst du mich heiraten, Richard?«

Er senkte schweigend den Kopf. Sanft und bittend sprach Lizzie weiter. »Bitte, bitte, Richard. Ich … ich wußte nicht, wie sehr ich dich liebe, bis Jean uns an der Haltestelle abgeholt und die ganze Zeit über dich geredet hat. Ich glaubte, ihr beide würdet heiraten. Da wurde mir bewußt, wie stark mein Gefühl für dich ist, stärker als alles, was ich zuvor gefühlt habe. Ich habe Andrew geliebt, aber da war ich ein junges Mädchen. Ich werde Andrew immer lieben, weil ich sein Kind habe, aber was ich für dich empfinde, Richard, ist die Liebe einer erwachsenen Frau.«

»Oh, Lizzie.« Sein ganzer Körper zitterte, als er sich an Lizzies Brust warf und seinen Kopf an ihrem Hals vergrub. Sie hielten sich eng umschlungen, bis er sie von sich wegschob und sie durchdringend ansah. »Schau mich an, Lizzie, schau mich genau an. Ich werde nie viel anders aussehen als jetzt. Ja, sie haben das Auge gerichtet, und ein bißchen den Mund, und jetzt befassen sie sich mit meinem Ohr, aber die Narben werden bleiben, und die Haut wird immer so steif aussehen wie jetzt. Ich werde dich niemals mit zwei weit geöffneten Augen betrachten können, Lizzie. Also schau mich genau an.«

»O Richard, sei nicht albern. Seit ich dich zum ersten Mal sah, habe ich dich wieder und wieder angeschaut. Ich sehe die Narben. Aber ich sehe auch, was dahintersteckt. Es ist seltsam«, Lizzie lächelte, »aber ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du anders aussehen könntest. Ich liebe dich, so wie du bist. Ja, das tue ich, Richard. Ich liebe dich.«

»O meine Liebe, meine Liebste.« Richard drückte sie an sich und vergrub wieder den Kopf an ihrer Schulter.

Lizzie schob ihn sanft weg, nahm sein Gesicht in ihre Hände und sah ihm in die Augen. Dann legte sie ihre Lippen auf seinen Mund, und er erwiderte ihren Kuß so heftig und leidenschaftlich, daß Lizzie einen Moment lang glaubte, ersticken zu müssen.

Als der Kuß zu Ende war, lehnte Richard sich zurück. Seine Schultern sanken herab und sein Kopf fiel auf seine Brust. »Verzeih mir«, murmelte er, »daß ich mich aufgeführt habe wie ein Stier in der Arena. Es … es war so eine lange Zeit, und ich habe so oft an dich gedacht. Ich werde versuchen, mich nicht mehr wie ein Wilder zu benehmen.«

Lizzie rückte näher an ihn heran und lehnte ihre Wange an seine. Er legte seine Arme sanft um sie und sagte: »Ich kann es nicht glauben; ich kann es einfach nicht glauben! In einer Sekunde werde ich aufwachen und feststellen, daß es wieder nur ein Traum war. Ich habe ganz gegensätzliche Träume: Entweder schlafe ich mit einer wunderschönen Frau«, ‒ er drückte Lizzie fest an sich ‒ »oder ich schreie Zeter und Mordio, während ich mich im Bett umherwälze und meinen Kopf mit den Händen umklammere; dann kommen meine Eltern und versuchen, mich aufzuwecken … Bist du bereit, einige schlaflose Nächte auf dich zu nehmen? Denn diese Träume ‒ nicht die von den schönen Frauen ‒ werden sicher noch eine Zeitlang wiederkehren.«

»Mach dir keine Sorgen, ich werde es mit beiden Arten von Träumen aufnehmen. Wenn du von schönen Frauen träumst, werde ich dich ohrfeigen, um dich zu wecken; für die anderen Träume werde ich einen Eimer Wasser bereithalten, denn wenn du anfängst zu schreien, weckst du das Baby auf.«

»Ach, das Baby!« Richard richtete sich kerzengerade auf. »Das habe ich doch glatt vergessen. Wie hast du es genannt? Du sagtest, du wolltest sie nach deiner Mutter nennen.«

»Ich nenne sie Jane.«

»Ist sie schon getauft?«

»Nein. Und ich werde sie auf den Namen Jane Edith taufen lassen.«

»Ja, Jane Edith Boneford, denn von jetzt an ist sie meine Tochter. Andrew würde sich darüber freuen.«

»Danke, Richard.« Lizzies Stimme klang weich.

»O Liebling, du sollst mir für nichts danken, denn bis zum Tage meines Todes werde ich Gott dafür danken, daß du mich liebst. Ich war nie besonders fromm, doch welcher Gott auch im Himmel wohnt, ich werde ihn ehren; denn du hast mich wieder zu einem Menschen gemacht… o Lizzie, Lizzie.«