Habichtschwinge wurde von der Stimme seines Vaters aus dem Schlaf gerissen, die quer durch das Lager hallte: »Alle Katzen, die alt genug sind, Beute zu machen, fordere ich auf, sich am Großen Felshaufen zu einem Clan-Treffen zu versammeln!«
Rings um Habichtschwinge sprangen die Clan-Gefährten auf und stürmten aus dem Kriegerbau. Habichtschwinge kam taumelnd auf die Pfoten und schüttelte sich Moosreste aus dem Fell. Die lange Reise und der Schock über die neuerlichen Angriffe steckten ihm noch in den Gliedern. Obwohl die Sonne schon hoch über den Bäumen stand, hatte er das Gefühl, kaum geschlafen zu haben.
Habichtschwinge verließ als Letzter den Bau, folgte Glückspfote und Sturmherz den Pfad hinunter, wo Scharfkralle bereits am Großen Felshaufen wartete. Von Blattstern keine Spur – wahrscheinlich erholte sie sich noch –, aber die beiden Streuner Dunkelschweif und Regen standen etwas abseits der sich versammelnden Menge.
Habichtschwinge ließ sich neben seiner Schwester Wolkennebel plumpsen. »Was jetzt?«, flüsterte er.
Wolkennebel schüttelte den Kopf. »Hör einfach zu.«
»Der WolkenClan wurde ein zweites Mal angegriffen«, miaute Scharfkralle, nachdem die Katzen zur Ruhe gekommen waren. »Wir müssen unsere Strategie ändern. Zunächst werden wir größere Patrouillen losschicken. Auch wenn wir die Waschbären fürs Erste vertrieben haben, halten sie uns für schwach und werden garantiert wieder angreifen.«
»Das klingt vernünftig«, murmelte Habichtschwinge.
»Jede Katze wird also öfter Patrouille laufen«, stimmte ihm seine Schwester zu und leckte sich eine Wunde an der Schulter, »aber wenn das die Waschbären abhält, lohnt es sich.«
Habichtschwinge entging nicht, dass einige seiner Clan-Gefährten Dunkelschweif und Regen misstrauische Blicke zuwarfen. Das erinnerte ihn daran, wie feindselig sich Scharfkralle und Nebelfeder gestern Abend verhalten hatten, nachdem sie vom Scheitern der Mission erfahren hatten.
Auch er selbst war vor der zweiten Mission Dunkelschweif gegenüber feindselig gewesen. Damals haben es mir alle Katzen übel genommen, jetzt scheinen sie ihn ebenfalls als Bedrohung zu empfinden.
Doch Habichtschwinge hatte seine Meinung geändert. Nach allem, was er mit Dunkelschweif auf der Reise erlebt hatte, und besonders, nachdem er gesehen hatte, wie der Tod seines Freundes Kröte ihn mitnahm, konnte er nicht anders, als ihm zu trauen.
Das Misstrauen, das sich unter den Clankatzen breitmachte, zeigte sich auch in Wespenbarts Miene, als er sich mit einem Seitenblick auf die beiden Streuner erhob. »Was, wenn die Bedrohung nun im Lager ist?«
Jede Katze wusste, was er meinte, und alle Köpfe wandten sich zu Dunkelschweif und Regen um. Ein oder zwei Katzen fauchten und eine rief: »Ja! Was ist damit?«
Dunkelschweif ließ sich durch Wespenbarts Anschuldigung nicht aus der Fassung bringen. Er stand auf und verneigte sich höflich vor Scharfkralle, als wollte er um Erlaubnis bitten, sprechen zu dürfen.
»Ich wollte dem Clan nicht schaden«, miaute Dunkelschweif. »Aber ich gebe zu, dass ich Fehler gemacht habe. Sicher spricht es doch für mich, dass ich alles dafür tun möchte, um es wiedergutzumachen. Und dass ich immer noch hier bin, um es in Ordnung zu bringen. Zählt das etwa nicht?«
Wespenbart schnippte abschätzig mit dem Schwanz. »Streuner gehören nicht in einen Clan. Sie werden das Leben im Clan nie verstehen«, knurrte er. »Unmöglich!«
»Das stimmt«, pflichtete ihm Scharfkralle bei. »Clan-Katzen haben Regeln, Streuner haben keine. Clan-Katzen lernen, füreinander zu sorgen, Streuner denken nur an ihr eigenes Überleben. Dunkelschweif ist keiner von uns und wird es auch nie sein.«
»Das ist unfair!« Habichtschwinge sprang auf die Pfoten. »Scharfkralle, du weißt doch, dass Dunkelschweif tapfer für den Clan gekämpft hat, als die Waschbären angegriffen haben. Und du hättest sehen sollen, wie traurig er war, als Kröte umgekommen ist. Dunkelschweif hat einen Freund verloren, genau wie wir. Das Letzte, was er jetzt braucht, sind unsere Vorwürfe.«
Ihm war nicht wohl dabei, seinem Vater zu widersprechen und sich für eine Katze starkzumachen, die er noch nicht lange kannte. Vor allem wollte er nicht schon wieder mit Scharfkralle streiten und schon gar nicht vor dem gesamten Clan. Dennoch war er überzeugt davon, dass sein Vater diesmal zu hart und ungerecht vorging.
Scharfkralle fuhr zu seinem Sohn herum und funkelte ihn empört an. »Warum musst du mir immer widersprechen?«, wollte er wissen. »Dunkelschweif ist kein Ersatz für deinen Wurfgefährten und verdient nicht mehr Loyalität als deine Familie!«
»Warte … Ich bin sicher, dass Habichtschwinge das so nicht gemeint hat«, mischte sich Springschweif ein, aber Scharfkralle nahm keine Notiz von ihr und starrte Habichtschwinge unverwandt an.
Habichtschwinges Fell sträubte sich. Wie ein Grashalm im Wind wurde er von seinen Gefühlen umhergewirbelt. Die Worte seines Vaters erfüllten ihn mit Kummer und Zorn, gleichzeitig verstand er überhaupt nicht, warum sein Vater so etwas sagte. Als ihm klar wurde, dass ihn alle Katzen anschauten, brannte sein Pelz vor Scham.
Der Druck wurde so groß, dass er es nicht mehr aushielt. Auch wenn es ihn so unreif wie ein neugeborenes Junges erscheinen ließ, konnte er nicht anders, er fuhr mit einem verächtlichen Schwanzschnippen herum und preschte davon in seinen Bau.
Nun wirkt es auch noch so, als würde ich schmollen, aber es ist mir auch egal, was die anderen Katzen denken. Wenn mein Vater so ungerecht zu ihnen wäre, wären sie genauso wütend.
Im Kriegerbau warf sich Habichtschwinge ins Nest und gab sich seiner Wut hin. Doch nach ein paar Herzschlägen schon bohrten sich Schuld und Scham wie ein Dorn in seinen Bauch.
Wenn meine Clan-Gefährten auf Patrouille gehen, will ich dabei sein. Ich möchte mithelfen, das Lager zu sichern. Verflixter Fuchsdung … warum musste ich mich nur wie ein bockiges Junges aufführen!
Habichtschwinge atmete tief durch und stellte sich auf die Pfoten, um den Bau zu verlassen. In dem Moment fiel ein Schatten über den Boden und Kieselpfote steckte den Kopf in den Eingang. Sie hatte Habichtschwinge hier am allerwenigsten erwartet. Seltsam. Ich habe seit unserer gemeinsamen Mission nicht mehr mit ihr gesprochen.
»Alles okay?«, fragte Kieselpfote. »Dass dich dein Vater so heruntergeputzt hat, muss schlimm gewesen sein. Und dann auch noch vor dem gesamten Clan.«
Im ersten Augenblick wusste Habichtschwinge nicht, was er sagen sollte. Vor Kieselpfote wollte er keine Schwäche zeigen. Gleichzeitig fragte er sich, was es wohl bedeutete, dass sie die Clan-Versammlung verließ, um nach ihm zu sehen.
Das ist mir jetzt zu viel.
»Mir geht’s gut«, blaffte er. »Ich brauche kein Mitleid.«
Kieselpfote sah ihn gekränkt an und verließ wortlos den Bau. Habichtschwinge folgte ihr.
Das lief ja toll. Warum kann ich nicht ein Mal nachdenken, bevor ich was sage?
»Kieselpfote, warte!«, rief er.
Die braun-weiß gefleckte Kätzin blieb stehen und drehte sich nach einem Herzschlag zu ihm um. »Was?«
»Tut mir leid«, miaute Habichtschwinge. Auch wenn er wusste, dass er im Unrecht war, fielen ihm die Worte schwer. »Ich hätte dich nicht anschnauzen sollen.«
Kieselpfote zögerte. »Schon gut«, erwiderte sie schließlich und senkte den Kopf. Dann sprang sie die Schlucht hinunter, wo ihr Bruder Petersilienpfote bereits wartete.
Von den Ohren bis zur Schwanzspitze durchströmte ihn ein warmes Gefühl. Ich bin froh, dass ich mich entschuldigt habe. Ich will nicht mehr mit ihr streiten.
Sein Blick wanderte weiter zum Großen Felshaufen, wo die Katzen noch immer um Scharfkralle versammelt waren. Dem gesträubten Fell und den zuckenden Schwänzen nach zu urteilen, diskutierten sie weiter. Am Hang gegenüber kletterten Dunkelschweif und Regen den felsigen Pfad hinauf und führten eine Patrouille mit Glockenpfote, Sandnase und Nebelfeder an.
Habichtschwinge spannte die Muskeln an und wollte ins Tal stürmen, um die Patrouille noch einzuholen. Mit einem Seufzer entspannte er sich wieder. Auch wenn ich das Lager noch so gerne beschützen möchte, bringt es nichts, wenn ich Dunkelschweif nachlaufe. Dadurch bringe ich Scharfkralle bloß noch mehr auf.
Er wartete bis die Patrouille verschwunden war, und zog sich dann wieder in den Bau zurück.
Im Lager ging es allgemein friedlicher zu. In den letzten Tagen hatten ihn seine Clan-Gefährten nicht mehr gelöchert, warum die Mission gescheitert war und sie Feuersterns Familie nicht gefunden hatten.
Blattstern schien sich von dem Verlust eines ihrer Leben zu erholen und hatte dem Clan vom Großen Felshaufen verkündet, dass sie nichts weiter unternehmen würden, bis Echoklang eine weitere Vision vom SternenClan erhielte. »Vielleicht«, hatte sie miaut, »ist die nächste Prophezeiung eindeutiger.«
So ganz überzeugt davon, dass Blattstern recht hatte, war Habichtschwinge nicht. Bislang war der Rat des SternenClans nicht gerade hilfreich. Was, wenn sie uns gar nicht unterstützen wollen? Andererseits konnte er sich auch nicht vorstellen, warum sich die Kriegerahnen gegen sie stellen sollten. Aber mehr Pech als wir hätte man gar nicht haben können und dafür muss es doch einen Grund geben …
Hoppelfeuer, der die Patrouille leitete, führte sie aus dem Unterholz hinaus aufs offene Gelände. Beim Näherkommen entdeckte Habichtschwinge einen neuen Zweibeinerstein aus frisch geschnittenen, flachen Stöcken, der den verbrannten ersetzte. Dichtes Laub verdeckte die versengten Stellen am Baum. Sogleich wurde Habichtschwinge wieder traurig.
Als wäre mein Bruder nie hier gewesen …
Während sie an dem Blattgrüne-Zweibeinerort vorbeitappten, vermied er es tunlichst, Kieselpfote anzusehen. Er wollte nicht daran erinnert werden, dass er sie statt Dämmerpfote gerettet hatte, und er wollte auch Kieselpfote wegen dieses furchtbaren Tages keine Schuldgefühle machen.
Als sie das äußerste Ende des WolkenClan-Territoriums erreicht hatte, kehrte die Patrouille um. »Nichts zu vermelden, dem SternenClan sei Dank!«
Als sie das bewaldete Gebiet oberhalb der Schlucht erreichten, entdeckte Habichtschwinge Dunkelschweif, der aus Richtung des Zweibeinerorts zu kommen schien und im Schutz der Bäume Richtung Lager zurücklief.
Was macht er nur, er gehört doch keiner Patrouille an?
Ihm prickelte der Pelz, als er sah, wie Dunkelschweif sich niederkauerte und mit dem Kopf ruckartige Bewegungen vollführte, als würde er sich übergeben. Doch nach einer Weile kam der Streuner wieder auf die Pfoten und trottete in aller Seelenruhe zurück Richtung Zweibeinerort.
Das ist ja eigenartig …
»Du, Hoppelfeuer, ich muss mal dringend mein Geschäft verrichten«, rief Habichtschwinge ihm zu. »Ich komme nach.«
Hoppelfeuer signalisierte mit dem Schwanz seine Zustimmung und verschwand mit Nesselspritzer, Sandnase und Kieselpfote im Unterholz. Habichtschwinge lief zu der Stelle, wo Dunkelschweif angehalten hatte. Auf dem Boden sah und roch er Zweibeinerfressen.
Habichtschwinge blieb ein paar Herzschläge vor den Resten stehen. Im Grunde war er nicht sonderlich verwundert, denn Streuner aßen ja bekanntlich alles, aber was ihn erstaunte, war, dass das Fressen gar nicht wirklich gegessen worden war. Dunkelschweif hatte sich nicht übergeben. Er hatte das Essen nur im Maul getragen und dann dort fallen lassen.
Vielleicht mochte er es nicht. Sofort wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie sehr es seinem Bruder Dämmerpfote geschmeckt hätte. Aber warum geht er dann zurück zum Zweibeinerort?
In der Ferne war Dunkelschweif noch schemenhaft im Gras auszumachen. Habichtschwinge entschloss sich, ihm zu folgen, blieb aber auf Abstand und achtete auch darauf, dass der Wind von vorne kam, sodass der Streuner ihn nicht wittern konnte.
Ohne zu ahnen, dass er verfolgt wurde, trottete Dunkelschweif weiter und bog zwischen den ersten Zweibeinernestern in einen schmalen Donnerpfad ein. Habichtschwinges Pfoten kribbelten vor Anspannung. Da will ich nicht hin! Dann holte er tief Luft, um sich innerlich zu wappnen. Was Dunkelschweif kann, kann ich auch!
Habichtschwinge sah sich vorsichtig um, hielt Ausschau nach Zweibeinern und Monstern, während er Dunkelschweifs Pfotenspuren folgte. Zum Glück blieb Dunkelschweif schon bald stehen und quetschte sich unter einer glänzenden Barriere zwischen zwei Hecken durch.
Habichtschwinge gab ihm einen kleinen Vorsprung. Nachdem er sich selbst durchgezwängt hatte, fand er sich auf einer kleinen Wiese wieder, die von Büschen umgeben war, die leuchtend bunt blühten. Hinter der Wiese erhob sich ein Zweibeinerbau aus rotem Stein. Ihm schwirrte der Kopf vor lauter fremden Eindrücken.
Von Dunkelschweif keine Spur, aber hinter dem Bau waren merkwürdige klimpernde Geräusche zu vernehmen. Kurz darauf kam der Streuner um die Ecke geflitzt.
Voller Angst, entdeckt zu werden, flitzte Habichtschwinge schnell unter einen Busch. Dort duckte er sich keuchend, während Dunkelschweif nur eine Schwanzlänge von ihm entfernt vorbeilief. Ich hoffe nur, dass diese komischen Zweibeinerblüten meinen Geruch überdecken. Vor Anspannung grub er die Krallen in die Erde. Dunkelschweif hatte schon wieder Zweibeinerfressen im Maul.
Was will er nur damit? Essen wollte er es ja gar nicht.
Nein, er bringt es irgendwo hin. Aber welchen anderen Nutzen konnte Zweibeinerfressen haben?
Der weiße Kater war so in seine Aufgabe vertieft, dass er Habichtschwinge in seinem Versteck nicht bemerkte. Abermals zwängte er sich unter der glänzenden Barriere durch und lief den gleichen Weg zurück, den er gekommen war.
Habichtschwinge, der ihm weiter folgte, sah, dass er das Zweibeinerfressen auf halbem Weg zwischen dem Zweibeinerort und der anderen Portion fallen ließ. Anschließend machte er sich zum Lager auf.
Habichtschwinge folgte ihm langsam nach, unsicher, was er von der Sache halten sollte. Er hatte den Eindruck, Dunkelschweif auf der letzten Mission etwas nähergekommen zu sein und behaupten zu können, dass der Streuner im Grunde seines Herzens gut war. Aber was soll das nur?
Ich könnte ihn fragen. Doch dann müsste er dem Freund gestehen, dass er ihn bespitzelt hatte. Er denkt ohnehin schon, dass ihm keiner traut. Und ich bin sein einziger Freund.
Doch beim Anblick des Zweibeinerfressens hatte Habichtschwinge ein mulmiges Gefühl. Ich muss mir gut überlegen, was ich tun will. Vielleicht führt er ja nichts Böses im Schilde.
Schweren Herzens schlich sich Habichtschwinge zurück ins Lager. Ich möchte Dunkelschweif trauen. Ich hoffe nur, dass wir das auch wirklich können.