Die Morgenpatrouille war gerade zurückgekehrt und hatte keine neuen Gerüche oder Spuren von Streunern auf dem WolkenClan-Territorium gemeldet. Dennoch spürte Habichtschwinge die tiefe Verunsicherung innerhalb des Clans. Echoklang hatte keine weiteren Besuche vom SternenClan erhalten, und jede Katze war sich bewusst, wie furchtbar unsicher ihre Zukunft war.
Am Fuß des Großen Felshaufens teilte Scharfkralle die Jagdpatrouillen ein. »Spatzenschweif, du führst eine an«, befahl er, »und Wespenbart, du übernimmst eine weitere. Ich führe die dritte an. Blattstern möchte, dass die älteren Krieger sich verstärkt beteiligen, falls wir auf die Streuner stoßen.«
»Wird gemacht, Scharfkralle«, miaute Spatzenschweif und fuhr die Krallen aus. »Wäre mir ein Vergnügen, auf die Streuner zu treffen. Ich könnte noch ein bisschen Fell gebrauchen, um mein Nest auszupolstern.«
»Habichtschwinge, du kommst mit mir«, fuhr Scharfkralle fort, während sich die Katzen auf die drei Gruppen aufteilten. »Du auch, Dunkelschweif. Dass du kämpfen kannst, wissen wir, aber ich habe dich noch nie jagen sehen.«
»Gerne, Scharfkralle«, erwiderte Dunkelschweif mit einem Nicken.
Habichtschwinge freute sich ebenfalls, dass sein Vater ihn ausgewählt hatte. Vielleicht ist er gar nicht mehr so böse auf mich.
Während Scharfkralle sich darum kümmerte, dass die anderen Patrouillen das Lager verließen, schlüpfte Dunkelschweif neben Habichtschwinge und stand so dicht neben ihm, dass sich ihre Pelze berührten.
»Hast du deine Freundin heute Morgen schon gesehen?«, fragte er Habichtschwinge und deutete mit den Ohren auf Kieselpfote, die ein paar Schwanzlängen entfernt mit Regen am Frischbeutehaufen plauderte.
Sofort glühte Habichtschwinges Pelz vor Scham. »Meine Freundin?«, murmelte er.
»Kieselpfote. Ich sehe doch, wie du sie immer anstarrst«, miaute Dunkelschweif mit einem belustigten Zwinkern in den Augen. »Nun sag bloß nicht, dass du sie nicht magst.«
»Ähm …« Habichtschwinge scharrte mit den Pfoten.
»Du musst öfter mit ihr reden und herausfinden, was du für sie empfindest«, meinte Dunkelschweif weiter. »Und das geht nicht, indem du sie meidest!«
»Ich meide sie doch nicht«, miaute Habichtschwinge.
»Und Maulwürfe können fliegen!«, spottete Dunkelschweif. »Und so wie Kieselpfote dich anschaut, muss sie sich wohl auch über ihre Gefühle klar werden.«
Vielleicht hatte Dunkelschweif ja recht. In Habichtschwinges Augen trat ein Leuchten, gleichzeitig war es ihm unangenehm, dass ihm der Streuner dieses Gespräch aufzwang. »Glaube ich nicht …«, murmelte er.
Dunkelschweif schnippte ihm mit der Schwanzspitze übers Ohr. »Entweder mag Kieselpfote dich auch oder eben nicht, aber du musst es wissen, damit du eine Entscheidung treffen kannst. Sonst ist es irgendwann zu spät.«
Habichtschwinge rang sich ein lachendes Miauen ab. »Ich bin noch ein junger Kater«, maunzte er, »und Kieselpfote ist eine Schülerin. Da mache ich mir doch noch keine Gedanken, dass mir die Zeit davonläuft.«
Ich würde es Dunkelschweif gegenüber zwar nie zugeben, aber ich habe tatsächlich angefangen, über die Zukunft nachzudenken. Seltsam.
Dunkelschweif schüttelte amüsiert den Kopf. »Das meine ich doch gar nicht.«
Habichtschwinge bemerkte einen merkwürdigen Unterton in Dunkelschweifs Stimme. »Ob ich mit Kieselpfote zusammen bin oder nicht, kann dann ja nicht so wichtig sein.«
»Doch, kann es«, erwiderte der Streuner mit dunkler und geheimnisvoller Stimme. »Es ist die wichtigste Entscheidung überhaupt. Bei der Auswahl der Katzen an seiner Seite darf man sich keine Fehler erlauben.«
Zum Glück rief Scharfkralle in dem Moment zum Aufbruch. Während die anderen beiden Patrouillen die Schlucht hinaufgeklettert waren, um oben im Waldstück zu jagen, führte Scharfkralle seine Gruppe flussabwärts, wo die Schlucht breiter wurde und zu beiden Seiten des Ufers Büsche und spindelige Bäume wuchsen.
Habichtschwinge hoffte, die Dinge mit seinem Vater auf der Jagd vielleicht wieder ins Lot zu bringen, doch bei dem Gedanken, dass ihn Scharfkralle wieder anschnauzen könnte, rumorte ihm vor Angst der Magen. Auch wollte er vor Dunkelschweif nicht unbedingt wichtige Dinge mit Scharfkralle besprechen.
Stattdessen konzentrierte er sich darauf, Beute aufzuspüren, um seinen Vater vielleicht mit einem guten Fang zu beeindrucken. Als sie sich durchs Gebüsch schoben, blieb Scharfkralle plötzlich stehen, dann tauchte er unter einen Holunderbusch und kehrte mit einer Maus im Maul zurück.
»Gut gemacht!«, miaute Dunkelschweif bewundernd. »Ich habe sie noch nicht mal gerochen.«
Scharfkralles Schnurrhaare zuckten. »Wundert mich nicht.«
Offenbar war sein Vater von Dunkelschweif immer noch nicht sehr beeindruckt. Habichtschwinge wünschte, der weiße Streuner würde etwas fangen, damit zumindest die frostige Atmosphäre besser würde.
Nachdem Scharfkralle Erde über die Maus gescharrt hatte, damit man sie später einsammeln konnte, zog die Patrouille weiter. Habichtschwinge tappte am Fluss entlang, bis er zu einer Stelle kam, wo das Ufer weggebrochen war und eine kleine steinige Landzunge bis ins Wasser reichte. Zwischen den Steinen turnte eine Wühlmaus herum.
Habichtschwinge ging in Lauerstellung und schlich sich langsam an die Beute heran. Auf einmal flog etwas Weißes an ihm vorbei. Dunkelschweif stürzte über das Ufer, landete auf der Maus und zerquetschte sie mit seinen Vorderpfoten.
»Die habe ich gerochen«, verkündete er und sprang mit der Maus zurück an Land.
Habichtschwinge versuchte, sich nicht darüber aufzuregen, dass Dunkelschweif ihm ganz klar die Beute gestohlen hatte. Hauptsache, der Clan hat zu fressen. Dennoch ärgerte er sich, besonders, weil er seinen Vater gerne mit seinen Jagdkünsten beeindruckt hätte.
Sie zogen weiter, entfernten sich immer mehr vom Lager. Habichtschwinge wurde noch wachsamer, spitzte die Ohren. Ob sie den Streunern wohl wieder begegnen würden? Im Gebüsch bewegte sich etwas, aber es war bloß ein Kaninchen, das ins Freie hoppelte und sich keiner Gefahr bewusst war. Doch wenn eine Katze es erschreckte, würde es sofort wieder ins Unterholz abtauchen.
»Habichtschwinge«, flüsterte Scharfkralle.
Scharfkralle beschrieb einen weiten Bogen mit dem Schwanz, während er mit den Ohren auf das Kaninchen deutete.
Er will, dass ich mich von hinten anschleiche.
Habichtschwinge lief los, achtete darauf, dass er gut Abstand hielt und der Wind dem Kaninchen nicht seinen Duft in die Nase wehte. Scharfkralle hatte Dunkelschweif bedeutet, sich zurückzuhalten.
Habichtschwinge tauchte in die Büsche ab und kroch lautlos vorwärts, bis er unter einem Zweig hindurch das Kaninchen sah, das friedlich mümmelnd im Gras saß. Um Scharfkralle zu zeigen, dass er in Position war, reckte er den Schwanz in die Höhe.
Sofort stieß Scharfkralle ein wildes Knurren aus und stürzte sich auf das Kaninchen. Das Kaninchen quiekte vor Angst und stürmte auf die Büsche zu. Scharfkralle setzte hinterher. Habichtschwinge machte sich bereit. Das muss ich kriegen!
Das Kaninchen stürzte sich förmlich in Habichtschwinges Pfoten. Er packte es mit den Vorderpfoten und tötete es mit einem gekonnten Biss in den Nacken. Triumpf durchströmte ihn, als er mit der Beute im Maul aus dem Gebüsch kam.
»Gut gemacht, ihr beide«, miaute Dunkelschweif, doch er klang kühl, als wäre er nicht sonderlich begeistert davon, dass Habichtschwinge mit seinem Vater zusammengearbeitet hatte.
Aber warum sollte ihn das stören?
Scharfkralle nickte Habichtschwinge anerkennend zu. Auch wenn er nichts sagte, kam es Habichtschwinge vor, als würde die Spannung zwischen ihm und seinem Vater allmählich abebben.
Dennoch wirkte Scharfkralle auf dem Rückweg distanziert.
Ich wünschte, ich könnte einfach so mit ihm reden. Habichtschwinge dachte an das Gespräch mit Springschweif zurück. Aber ich weiß nicht, was ich noch sagen soll.
Habichtschwinge war ein klein wenig enttäuscht, dass Scharfkralle nach ihrem gemeinsamen Jagderfolg immer noch so kühl gewesen war. Er dachte daran, was Dunkelschweif zu ihm gesagt hatte, bevor sie aufgebrochen waren: dass Katzen sich entscheiden mussten, wen sie an ihrer Seite haben wollten.
Vielleicht möchte mich mein Vater nicht an seiner Seite haben, dachte Habichtschwinge traurig. Könnte das sein? Dann schüttelte er sich und nahm sich vor, etwas fröhlicher zu sein. Das kann nicht wahr sein. Scharfkralle und ich sind eine Familie. Egal, was passiert ist, wir halten zueinander. Bei dem Gedanken, dass er und sein Vater schon wieder zueinanderfinden würden, besserte sich seine Laune. Keiner von uns geht irgendwohin. Wir haben noch das ganze Leben vor uns, um das wieder hinzukriegen.
Dunkelschweifs Worte hatten ihn aber noch auf etwas anderes aufmerksam gemacht. Es war Zeit, dass er Kieselpfote aufsuchte. Er fand sie am Fluss, wo die Strömung das Ufer ausgespült hatte und eine Lache entstanden war. Immer wieder tauchte sie ihre Pfote ins Wasser und ließ einen Regen aus glitzernden Tropfen niedergehen.
Mir ist nie aufgefallen, dass ihr Fell so glänzt! Und wie sie ihre Pfote bewegt, so voller Anmut!
Kieselpfote schaute zu Habichtschwinge auf. »Hallo«, grüßte sie. »Wusstest du, dass es hier Fische gibt? Aber die lassen sich nicht fangen.«
In der Lache sah er winzig kleine, silberne Fische, die am sandigen Grund hin und her flitzten. Ohne Kieselpfote anzuschauen, miaute er: »Ich möchte dir etwas sagen.«
»Okay …« Kieselpfote wirkte erstaunt, aber freundlich.
Habichtschwinge bohrte seine Krallen nervös in den Boden. »Mir … mir tut es leid, wie ich dich nach Dämmerpfotes Tod behandelt habe. Ich wollte dir nur sagen, dass ich dir nie die Schuld gegeben habe.«
Er riskierte einen Blick. Kieselpfote blinzelte ihn glücklich an. »Das habe ich mir schon gedacht«, erwiderte sie.
»Hast du?« Habichtschwinge fiel ein Stein vom Herzen.
Kieselpfote wandte sich verlegen ab, was Habichtschwinge seinerseits wieder verlegen machte. Doch gleichzeitig kribbelte ihm der Pelz vor Aufregung.
»Na ja … ähm … dann ist ja alles klar«, meinte er. »Dann können wir ja auch Freunde sein.«
Kieselpfote blinzelte immer wieder kurz zu ihm herüber. »Ich denke schon.«
Habichtschwinge verneigte sich vor ihr und zog sich in seinen Bau zurück, dabei spürte er, dass sie ihm mit dem Blick folgte. Ihm ging es besser, endlich hatte er sich entschuldigt, aber er war immer noch verwirrt, wenn er an sie dachte.
Ob es ihr wohl genauso geht, wenn sie an mich denkt?
Als er sich nach Sonnenuntergang zum Schlafen ins Nest legte, war er immer noch durch das Gespräch mit Kieselpfote aufgeputscht. Eigentlich wollte er wach bleiben, um an sie zu denken, aber ihm taten die Beine weh, und er war erschöpft von der Jagd.
Um ihn lagen seine Clan-Gefährten zusammengerollt, die Angst und Anspannung der Nacht zuvor fiel von ihm ab. Der Clan hatte gut gefressen und die Patrouillen hatten weder Streuner noch Waschbären ausgemacht.
Vielleicht wird ja am Ende doch noch alles gut …
Instinktiv wollte Habichtschwinge den Clan wecken. Aber die anderen schliefen tief und fest und wären sicher maulig, wenn die Geräusche nun nichts zu bedeuten hatten und er ihnen die verdiente Erholung raubte.
Habichtschwinge kam auf die Pfoten, schlüpfte leise zwischen Sandnase und einem schnarchenden Hasensprung hindurch und gelangte nach draußen zum Pfad. Der Mond schien etwas heller als in der Nacht zuvor, dennoch konnte er im fahlen Licht keine Bewegung entdecken.
Von der gegenüberliegenden Seite der Schlucht wehte eine sanfte Brise rüber, doch die brachte nur die vertrauten Gerüche des Waldes mit sich. Habichtschwinge wollte gerade wieder ins Nest zurückkehren, als er weiter oben auf dem Pfad erneutes Rascheln hörte.
Könnten es Waschbären sein? Oder Streuner oder Hunde oder womöglich Zweibeiner?
Habichtschwinge prüfte die Luft, aber er konnte nichts Ungewöhnliches ausmachen, nichts Alarmierendes.
Dann drehte der Wind und kam vom Rand der Schlucht. Nun hatte er den Geruch ganz eindeutig in der Nase.
Katzen!
Mit Entsetzen sah Habichtschwinge dunkle Gestalten am Rand der Schlucht auftauchen und wie Wasser den Pfad hinunterströmen. Es kamen immer mehr, mehr Katzen, als er sich in seinen schlimmsten Albträumen hatte vorstellen können. Im Mondlicht erkannte er den schimmernden Pelz des silbergrauen Katers.
Streuner. Die Streuner, die uns auf der Patrouille angegriffen haben, aber es sind mehr. Sehr viel mehr. Sie sind in der Überzahl …
Ihm schlug das Herz bis zum Hals, als ihm klar wurde, was vor sich ging.
Streuner griffen das WolkenClan-Lager an!