Eigentlich hätten wir, Herr Dr. Vogel, in Zeiten moderner Kommunikation miteinander chatten sollen.
Dazu müssten wir miteinander fliegen. Aber wohin sollen wir denn zusammen fliegen?
Ich meine nicht jetten, sondern chatten – im Internet chatten, so wie man im Netz E-Mails verschickt und Begriffe googelt.
Ach so, schwätzen, quatschen … Nun ist mir alles klar.
Man kann auch simsen. Politik per SMS wird ja nicht nur von Angela Merkel gemacht, auch der amerikanische Präsident Barack Obama nutzt diesen Weg. Wir leben in einer beschleunigten Welt, in einer Welt hoher Geschwindigkeiten. In einem aktiven politischen Leben wäre man wohl ohne Handy und Internet vollkommen aufgeschmissen. Oder kann man sich dieser Entwicklung noch entziehen?
Wahrscheinlich nicht. Dennoch halte ich es auch in heutigen Zeiten für möglich, dass man nicht während einer wichtigen Kabinettssitzung ständig die Mobiltelefone bedient und eine SMS nach der anderen verschickt. Die Kanzlerin könnte als Vorsitzende sagen: »Herrschaften, während wir hier beraten, werden die Handys ausgestellt. Wir machen alle fünfzig Minuten zehn Minuten Pause, dann könnt ihr simsen oder was immer ihr wollt. Aber dann ist wieder Schluss.« Und es wäre nicht nur eine Sekundärtugend, würde man die Mobiltelefone ausschalten. Denn letztlich überfordert es das menschliche Denk- und Reaktionsvermögen, wenn man gleichzeitig zuhören, diskutieren und seine verschiedenen Geräte bedienen will. Und auch Herrn Obama gegenüber würde ich mir einen Ratschlag erlauben: »Hören Sie, Sie haben eine Weltverantwortung von höchstem Gewicht. Sie müssen doch um Gottes willen auch mal für eine Stunde diese Dinger ausschalten können, um nachzudenken und mit Ihren Vertrauten zu reden.« Ich halte diese technischen Errungenschaften nicht für eine Fehlentwicklung oder gar Katastrophe – zu diesen Menschen gehöre ich nicht –, aber man sollte sich nicht von ihnen beherrschen lassen. Besonders dann nicht, wenn man große Verantwortung trägt. Dass in einer Fraktionssitzung unter meinem Vorsitz gesimst worden wäre, kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen. Das hätte ich nicht geduldet.
Sehen Sie das Internet als ein Instrument der heutigen Aufklärung, oder ist es auch ein moderner Pranger?
Da muss ich mich aus einem – wie ich glaube – einleuchtenden Grund sehr zurückhalten. Denn ich gehöre zu der schrumpfenden Minderheit, die nicht am Internet teilnimmt. Ich habe dafür auch einen ganz individuellen Grund. Ich fürchte nämlich, wenn ich erst einmal am Netz wäre, dann würde ich Stunden mit Googeln zubringen, um irgendetwas immer noch genauer herauszufinden. Es ist besser, wenn ich das nicht tue. Gelegentlich ist die Einführung des Internets mit der Erfindung der Buchdruckkunst verglichen worden. Diese Parallele kann ich einigermaßen nachvollziehen. Hinzu kommen aber andere Aspekte. So die jederzeitige Erreichbarkeit, die Möglichkeit der ständigen Einflussnahme, die Möglichkeit, dass man nicht nur zwei oder drei Leute mit einer brieflichen Nachricht erreichen kann, sondern über das Internet plötzlich Zehn-, ja Hunderttausende von Menschen, um auf deren Meinung Einfluss zu nehmen. Auch die Versuchung, sich selbst schutzlos der Öffentlichkeit preiszugeben. Das sind alles Faktoren, die man bedenken muss. Andererseits bestreite ich nicht: Für die Entwicklung in Ägypten beispielsweise, aber auch in anderen arabischen Ländern spielten und spielen die elektronischen Medien eine substanzielle Rolle. Es wäre gut, wenn wir den gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Neuerung noch mehr Aufmerksamkeit widmen würden.
Ihre Suchtgefahr besteht also in einem Informationshunger?
Meine Suchtgefahr ist verbunden mit der von mir eingestandenen Pedanterie. Ich will es immer genau wissen, und ich will es so genau wissen, dass mich keiner widerlegen kann, was Fakten und Richtigkeit angeht. Jetzt macht sich das bemerkbar, indem ich im Papierbereich nachforsche. Aber wenn ich bei Google dranhängen würde, wäre das sicher noch viel schlimmer.
Haben Sie die Aufnahmen am Tag des Rücktritts von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg gesehen? Sie zeigen Kanzlerin Angela Merkel auf der CeBIT in Hannover, in ihrer Hand ihr Handy. Angeblich empfing sie in diesem Moment die Nachricht über den Rücktritt und reichte das Handy dann weiter an die neben ihr stehende Bildungs- und Forschungsministerin Annette Schavan. Viele dachten beim Betrachten der Fotos: Die scheinen ja ganz zufrieden zu sein über das, was sie da gerade auf dem Handy gelesen hatten. So wurde gleich wieder eine neue Nachricht in die Welt gesetzt. Wie unmittelbar und global Informationsvermittlung heute passiert, zeigten die Ereignisse in Fukushima. Durch die fast zeitgleich per Satellit übertragenen Bilder des Atomwracks, in dem die Kernschmelze stattfand, hatten wir den Eindruck, unmittelbar dabei zu sein. Ganz anders noch bei dem Reaktorunfall 1986 in Tschernobyl, von dem wir erst Tage später erfuhren, und zwar erst auf Nachfrage. Ist diese Unmittelbarkeit ein Vor- oder ein Nachteil für politisches Handeln?
Sowohl als auch. Die Reaktion von Frau Merkel auf die Nachricht vom Rücktritt des Herrn zu Guttenberg ließ vermuten, dass sie darüber nicht sehr unglücklich war. In manchen Fällen können Bilder starke emotionale Eindrücke hervorrufen und so die rationale Auseinandersetzung mit dem konkreten Problem erschweren. Aber solche Aufnahmen können auch Informationen vermitteln, die sich mit dem Ohr allein so nicht wahrnehmen lassen. Nicht immer reicht das gesprochene oder das geschriebene Wort aus. Mit meiner Frau habe ich mehrere Spezialsendungen über die Katastrophe in Japan gesehen. Und ich muss sagen, dass diese Berichterstattung insgesamt eher hilfreich war. Auf jeden Fall hat die Unmittelbarkeit von Bildern dieser Art einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung von Ereignissen und das Urteil, das sich der Betrachter dann bildet.
Man kann jedenfalls vermuten, dass die Bilder aus Japan einen Einfluss auf den Ausgang der Wahlen im März 2011 in Baden-Württemberg hatten, obwohl wir weit entfernt von diesem Inselstaat leben. Welchen Herausforderungen sind in Zukunft Landespolitiker unterworfen, wenn damit zu rechnen ist, dass der sprichwörtlich gewordene umgefallene Sack Reis in China die eigenen politischen Konzepte völlig über den Haufen wirft?
Was Sie da ansprechen, zeigt, wie weit die Globalisierung der Welt fortgeschritten ist und wie sehr sie auch uns erfasst hat. Nicht die Entfernung, in der ein Ereignis stattfindet, sondern die Wirkungen, die von ihm ausgehen können, sind entscheidend. Das müssen auch Landespolitiker im Bewusstsein haben. Wir werden wohl unter dem Gesichtspunkt der Globalisierung darauf noch näher zu sprechen kommen.
Darf eigentlich ein einzelner Unglücksfall herangezogen werden, um eine ganze Technologie zu verdammen, die vielleicht Industrienationen bei ihrer Weiterentwicklung helfen würde?
Erste Bemerkung: Fukushima war nicht der erste atomare Unglücksfall. Davor gab es die Beinahe-Kernschmelze in Harrisburg, und es gab Tschernobyl. Trotzdem tut die schwarz-gelbe Koalition so, als wäre Fukushima etwas ganz Neues. Zweite Bemerkung: Die Anwendung einer Technik, die einen GAU mit schrecklichen Auswirkungen verursachen kann, ist nur zu verantworten, wenn die Verantwortlichen sagen: »Es wird auf diesem Gebiet nie ein menschliches Versagen und nie einen technischen Fehler oder einen Materialfehler und folglich auch keinen GAU geben.« Damit beanspruchen Menschen aber auf diesem Gebiet Allwissenheit und Allmacht. Und das ist in meinen Augen gotteslästerlich. Meine Zweifel, was die Kernenergie betrifft, waren schon vor Tschernobyl gewachsen. Erhard Eppler hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Hätten wir auf ihn gehört, hätte es vielleicht die Grünen nicht gegeben. Und als sich dann der GAU in Tschernobyl ereignete, habe ich am 14. Mai 1986 in einer Bundestagsrede ganz konkret den Ausstieg gefordert. Den hat meine Partei dann im August 1986 auf einem Parteitag in Nürnberg beschlossen. Schon damals hat sie dargetan, wie das vor sich gehen soll, ohne die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes zu gefährden.
Bundeskanzlerin Merkel hat ihren Richtungswechsel in der Atompolitik mit den Bildern aus Fukushima begründet. Ist es nicht lobenswert, die eigene Meinung zu ändern?
Diese Bilder waren in der Tat eindrucksvoll und haben die Menschen sehr bewegt. Aber wie gesagt: Was war denn an dem dortigen Atom-GAU wirklich neu? Und warum wurde erst jetzt eine Ethikkommission eingesetzt und nicht schon vor der Laufzeitverlängerung?
Einen interessanten Hinweis auf die Überlegungen, die angestellt wurden, verdanken wir übrigens Herrn Brüderle, damals noch Bundeswirtschaftsminister. Nach einem schriftlichen Protokoll des BDI soll er auf einer Zusammenkunft dieses Verbands der Deutschen Industrie gesagt haben, die sieben älteren Atommeiler habe man wegen der bevorstehenden Landtagswahlen abgeschaltet. Ausschließen kann man das nicht.
Genau das wurde bis zu diesem Zeitpunkt vehement bestritten, obwohl es offensichtlich war. Für wie dumm halten die Politiker die Bürger mittlerweile?
Ihre Frage generalisiert mir zu stark. In Bezug auf Herrn Brüderle hätte ich damals zunächst gesagt, er sei der erste Anwärter auf einen Wahrheitspreis, sollte je ein solcher verliehen werden. Aber diese Chance hat er durch merkwürdige Dementis wieder zunichtegemacht.
Aber die Konsequenz aus der Tatsache, dass ein Repräsentant des Volkes die Wahrheit sagte, ja beim Wahrheit-Sagen ertappt wurde, ist die, dass er als Wirtschaftsminister nicht mehr im Dienst ist.
Das mag eine Rolle gespielt haben. Aber der Fraktionsvorsitz, in den er wechselte, ist ja durchaus auch einflussreich. Hauptgrund für diesen Wechsel war wohl der Wunsch des neuen FDP-Vorsitzenden Rösler, der besseren Außenwirkung wegen das Bundesgesundheitsministerium mit dem Bundeswirtschaftsministerium zu vertauschen.
Welchen Schaden hat Rainer Brüderle dem politischen System durch sein Handeln zugefügt?
Er hat denen Auftrieb gegeben, die ohnehin politikskeptisch sind und deshalb Erklärungen, wie sie Brüderle zugerechnet werden, eigentlich schon für mehr oder weniger selbstverständlich halten. Und die deshalb sagen: »Ach, die Politik richtet sich sowieso nicht nach zuverlässigen Kriterien. Die entscheidet nicht anhand abgewogener Argumente, sondern sie blickt nur auf Umfrageergebnisse und die nächsten Wahlen.« Das, so meinen sie, sei in der Politik ähnlich wie bei Zeitungsverlagen, die nach ihren Auflagen schauen, und bei Fernsehanstalten, die stets die Einschaltquoten im Visier haben.
Warum unterlaufen drei Parteien, die schon in unterschiedlichsten Konstellationen lange an der Macht waren und überhaupt nicht als unerfahren gelten dürfen, so viele Fehler in so kurzer Zeit? Sind wir in eine Phase getreten, in der sich die Schlagzahl der Geschehnisse für bedachtes und überlegtes politisches Handeln zu sehr erhöht hat? Man braucht sich nur die Weltereignisse anzuschauen – die Erdbeben und die schon erwähnten havarierten Atomkraftwerke in Japan, die Revolutionen im arabischen Raum, die neu die Frage nach Krieg und Frieden stellen, die Finanzkrise, die mittlerweile ganze Staaten bedroht –, all das geschieht in einer hohen Geschwindigkeit, mit einer ungeheuren Vehemenz. Sind Sie froh, nicht mehr in der Verantwortung zu stehen und jeden Tag eine Antwort finden zu müssen?
Zum Teil schon. Doch würde ich deshalb nicht aus der Politik davonlaufen, wenn ich noch jünger wäre. Übrigens: Auch in der Vergangenheit gab es Zeitabschnitte mit hohen Schlagzahlen. Da muss ich nur an den 11. September 2001 denken, an die Wochen vor dem Irakkrieg, an die RAF-Anschläge im Herbst 1977. Und wir dürfen auch nicht verdrängen, dass das Verhältnis zwischen Ost und West bis 1989 keineswegs spannungsfrei war. Die Sorge, dass das auch in einem atomaren Konflikt münden könnte, war durchaus gegenwärtig. Ich gebe aber zu, dass die Akzeleration großer Ereignisse und Probleme zugenommen hat.
Doch sie taugt nicht als Entschuldigung für Fehler?
Nein, keineswegs. Meines Erachtens ist eine gewisse Kurzatmigkeit insbesondere bei den Regierungsparteien eingetreten. Sie handeln und entscheiden oft von heute auf morgen. Und zwar auch in Fällen, in denen die Umstände nicht dazu zwingen. Dabei geht es doch um Herausforderungen, für deren Bewältigung man zuverlässige und belastbare Fakten und Kriterien braucht. Auch sind Diskussionen nötig, die sich nicht im Austausch von Vorwürfen oder kleinen Bosheiten erschöpfen, sondern wirklich versuchen, Argumente zu erfassen, um zu einer möglichst breiten Einigung zu kommen. Ich will ein Beispiel nennen: Die Ostpolitik Willy Brandts war ursprünglich außerordentlich umstritten. Aber mehr und mehr ist diese Ostpolitik doch zu einer gemeinsamen Politik geworden. Hans-Dietrich Genscher rechne ich hoch an, dass er die Linie der Ostpolitik auch nach dem Koalitionswechsel im Jahre 1982 durchgehalten hat. Und das hat nicht nur uns geholfen, sondern auch dem Frieden in Europa.
Wenn eine politische Führung unter dem Eindruck einer größeren Zahl von Nachrichten durch die Globalisierung steht, es mit einer Beschleunigung durch das Internet und einer verstärkten Emotionalität durch die Macht der Bilder zu tun hat, benötigt sie dann nicht ein tragfähiges Gerüst, um Entscheidungen treffen zu können? Braucht sie nicht einen inneren Kompass oder Kriterien, die auch dann standhalten, wenn es mal unübersichtlich wird?
Ja, das braucht die Politik in jedem Fall. Und sie muss ihre Kriterien den Menschen auch mitteilen und sie dann durchhalten. Generelle Urteile über das politische Handeln – meist negativer Art – sind in diesem Zusammenhang unangemessen. Es gibt auch genug positive Beispiele. Ich könnte auch Namen von Politikern nennen, die solche Beispiele gegeben haben, verzichte aber darauf, weil ich keinen der nicht Genannten verletzen will. In jedem Fall hat von den noch Lebenden Helmut Schmidt so gehandelt.
Na gut, aber der regiert schon lange nicht mehr.
Das stimmt. Aber er äußert sich immer wieder zu den zentralen politischen Problemen und gibt auf seine Weise Orientierung. Und das ebenso pointiert wie klar. Man muss ihm nicht immer zustimmen, aber man muss sich mit seinen Positionen und seinen Argumenten beschäftigen. Übrigens: Es ehrt unser Volk, dass ein Mann wie Helmut Schmidt das höchste Ansehen überhaupt genießt.
Ich möchte aber ganz bewusst über die jetzige Politikergeneration reden. Wer aus dem aktuellen politischen Personal, ich beharre darauf, flößt Ihnen persönlich Vertrauen ein? Bei wem haben Sie das Gefühl, das ist jemand, der auch über den Augenblick hinaus denkt?
Also gut, dann nenne ich doch auf der Bundesebene ein paar Namen. Allerdings betone ich, dass es sich nur um eine Auswahl handeln kann. So nenne ich Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel, Peer Steinbrück oder Wolfgang Thierse. Dann Wolfgang Schäuble, mit dem ich zu meiner Zeit manch harten Strauß ausgefochten habe. Oder Thomas de Maizière. Auch der Bundestagspräsident, Herr Lammert, gehört dazu. Und Herrn Trittin würde ich allmählich auch nennen.
Und was halten Sie von Ursula von der Leyen?
Das ist eine gewandte Politikerin, die sich selbst wirksam zu präsentieren weiß. Und zudem als siebenfache Mutter in der Politik eine Ausnahmeerscheinung. Auch ihr billige ich eine bestimmte Grundorientierung zu. Imponiert hat mir übrigens Annette Schavan durch eine ehrliche Äußerung während der Guttenberg-Wochen. Da antwortete sie auf die Frage, ob sie sich heimlich für ihren Kabinettskollegen schäme: »Als jemand, der selbst vor einunddreißig Jahren promoviert hat und in seinem Berufsleben viele Doktoranden begleiten durfte, schäme ich mich nicht nur heimlich. «
Wie stehen Sie zu dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer?
Nun bringen Sie mich fast dazu, Noten zu verteilen. Ich empfand Achtung für ihn, als er 2004 als Sozialpolitiker die von der CDU und CSU präsentierten Gesundheitskompromisse heftig kritisierte und von seiner Funktion als Vizefraktionsvorsitzender zurücktrat. Das hat mir gefallen. Dann hatte er aber als bayerischer Ministerpräsident eine Phase, in der es schwer vorauszusagen war, was er wohl zu ein und derselben Sache am Nachmittag des gleichen Tages oder am nächsten Morgen sagen würde. In der Frage des Atomausstiegs hat er sich allerdings wohl endgültig festgelegt. Leider ohne wenigstens einmal klipp und klar zu sagen, dass er sich in dieser Sache über Jahrzehnte hin geirrt hat.
Kommen wir noch einmal auf die Kriterien zurück. Welche hätten Ihnen geholfen, um sich zum Beispiel eine Meinung zu den Unruhen in Libyen zu bilden, um zu wissen, ob man den Rebellen in diesem Land Unterstützung zusichern sollte oder nicht? Wäre Ihnen Bündnistreue wichtiger oder das Prinzip der Nichteinmischung in innere Belange eines souveränen Staats?
Unter dem Gesichtspunkt des Schutzes von Menschenrechten verdienen die Rebellen Unterstützung gegen einen Diktator, der auch vor massenhaften Tötungen von Zivilpersonen nicht zurückschreckt. Diese Unterstützung hat ihnen der UN-Sicherheitsrat durch einen Beschluss über die Durchsetzung einer Flugverbotszone gewährt und damit zugleich das Völkerrecht in dieser Richtung weiterentwickelt. Dass sich die Bundesrepublik bei diesem Beschluss der Stimme enthalten und damit ihre westlichen Verbündeten brüskiert hat, ist mir unverständlich. Zu einer Mitwirkung an militärischen Maßnahmen hätte uns dieses Stimmverhalten nämlich keineswegs verpflichtet. Wir hätten vielmehr darauf verweisen können, dass unsere militärischen Möglichkeiten durch Afghanistan und weitere laufende Einsätze schon voll in Anspruch genommen sind und die Bundeswehr sich außerdem in einer Strukturreform befindet. Vielleicht hat die Enthaltung ja auch auf die damals bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz gezielt. Außerdem: Dass man militärische Hilfe für die Aufständischen in Libyen ablehnt, kurz darauf aber Panzer an die Machthabenden in Saudi-Arabien liefert, lässt sich wohl kaum unter einen Hut bringen.
Als Christ kann man sich wiederum die Frage stellen, ob man Leid verhindern kann, indem man neues Leid hinzufügt. Denn Bomben aus der Luft sind sicherlich ein zugefügtes Leid.
Dazu hat sich der Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz Robert Zollitsch 2010 in einem Gastbeitrag der Frankfurter Rundschau sehr abgewogen geäußert: »Für die katholische Kirche gilt dabei, dass sie das Konzept des ›gerechten Friedens‹ in den Mittelpunkt der Friedensethik stellt. Nicht die immer auch notwendige Klärung der Legitimität von vielleicht noch hinnehmbarer Anwendung militärischer Mittel ist deren Zentrum. Vielmehr versucht sie, jene Handlungsweisen zu bestimmen, die eine Überwindung von Gewalt ermöglichen und den Frieden unterstützen. In diesem Zusammenhang kann militärischem Handeln unter gewissen Voraussetzungen eine Gewalt eindämmende und damit für eine gewisse Zeit notwendige Rolle zufallen.« Dem stimme ich zu.
Ich wäre gespannt zu erfahren, nach welchen Kriterien Sie eine Entscheidung in einer schweren Finanzkrise treffen? Durch verschuldete Länder wie Griechenland, Portugal oder Italien rückt sie immer wieder ins Zentrum. Nun hat etwa ein Land wie Griechenland seine »Hausaufgaben« im Sinne einer finanzpolitischen Stabilität nicht ordentlich gemacht, und in diesem Fall stehen zwei Aspekte zur Disposition. Einerseits die Solidarität im europäischen Raum, die Ihnen wichtig ist, andererseits ist die Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen in Deutschland nicht zu vernachlässigen, will man ihnen doch keine Schulden in einer Höhe aufhalsen, die nicht mehr bezifferbar wäre. Wie würden Sie entscheiden?
Das ist in der Tat eine schwierige Abwägung. Im Gegensatz zum Ausstieg aus der Atomenergie gibt es hier für mich kein absolutes Argument. Zuerst muss aber einmal Klarheit darüber geschaffen werden, was die Summen, die häufig genannt werden, eigentlich bedeuten. Zunächst geht es nämlich im Wesentlichen »nur« um Kredite und Bürgschaften. Inwieweit sie in Anspruch genommen werden, kann heute niemand mit Sicherheit voraussagen. Dennoch: Wenn auch die mögliche Belastung sehr hoch sein könnte, ist die Übernahme dieses Risikos in meinen Augen geboten. Denn ein Auseinanderbrechen der Eurozone würde gerade uns als Exportnation besonders hart treffen. Das schon deswegen, weil eine nationale deutsche Währung, zu der wir dann ja wohl zurückkehren müssten, sogleich intensiv aufgewertet und unser Export entsprechend verteuert würde. Auch für die Europäische Union wäre eine solche Entwicklung ein fundamentaler Rückschlag. Aber »Schirme« allein genügen nicht. Notwendig ist eine europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik. Diese Erkenntnis beginnt sich ja inzwischen durchzusetzen. Jean-Claude Trichet, der Präsident der Europäischen Zentralbank, hat ja sogar einen europäischen Finanzminister gefordert.