Wir sind etwas vom Thema abgekommen, aber trotzdem war es interessant, etwas über Ihr Verhältnis zum Luxus zu erfahren. Nun gut. Die Finanzkrise war eine der einschneidenden Veränderungen, die Sie in Bezug auf die Zukunft unseres Landes angeführt haben, die Atomkatastrophe in Fukushima und die Positionsveränderung der Bundesregierung eine weitere. Auch da eine Nachfrage: Können Sie die letzten Veränderungen in der Atompolitik nachvollziehen?
Nur sehr mühsam. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist vor zehn Jahren unter der Verantwortung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer in einer durchaus befriedigenden Weise geregelt worden. Und zwar nicht allein durch ein entsprechendes Gesetz der rot-grünen Koalition, das gegen den lebhaften Widerstand von Union und FDP durchgesetzt werden musste, sondern auch durch eine Vereinbarung mit der Atomwirtschaft. All die Fragen, die jetzt wieder eine Rolle spielen, etwa, ob wir Strom aus anderen Ländern einführen müssen, inwieweit die Strompreise steigen würden und wie und in welchem Umfang die erneuerbaren Energien zu fördern sind, waren beantwortet.
Dann hat die schwarz-gelbe Bundesregierung das alles im September 2010 über den Haufen geworfen und die Laufzeiten verlängert. Jetzt dreht sie sich ein knappes halbes Jahr später um 180 Grad und will noch schneller aussteigen, als Rot-Grün das beschlossen hat.
Ich kann mich an keine derart kurzfristige und zugleich politisch totale Kehrtwende erinnern. Und das alles ohne eine ausreichende Befassung des Parlaments. Ja, die Union hat das Thema noch nicht einmal für wichtig genug gehalten, um es auf einem eigenen Parteitag zur Diskussion zu stellen.
Warum hat die Regierung Merkel den rot-grünen Ausstieg aufgekündigt? War das eine Geldfrage, weil die neue Brennelemente-Steuer die Staatsfinnazen aufbessern sollte?
Nein, das denke ich nicht. Es mag eine Rolle gespielt haben, dass einige andere europäische Länder die Kernenergie stark nutzen, so etwa Frankreich, und man sich von ihnen nicht zu sehr unterscheiden wollte. Aber letzten Endes war es wohl der Druck, den die vier großen Energieunternehmen in Deutschland – E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW – auf die Regierung ausübten. Auch wollte man wohl zeigen, dass man die Dinge besser beurteilen könne als Rot-Grün, dass Rot-Grün eigentlich nur Panik verbreite.
Ist die Energiewende, die kommen soll, nur positiv, oder sehen Sie darin für den Bürger kurz- und mittelfristig auch eine finanzielle Last, die er gar nicht tragen möchte?
Zwischenzeitlich sind ja alle politischen Kräfte in der Bundesrepublik für den Ausstieg aus der Atomenergie. Es ist sogar ein Wettlauf in Gang gekommen darüber, wer früher aussteigt. Das ist ein einmaliger Vorgang, und das sehe ich insgesamt positiv. Natürlich wird es bei der Realisierung noch genügend Probleme geben. So bei der Aufstellung von Windrädern, beim Bau von Fernleitungen und in finanzieller Hinsicht. Das wissen die Bürger. Aber diese Probleme sind lösbar, wenn das Mögliche rechtzeitig getan wird.
Und Sie halten den Ausstieg für unumkehrbar?
Es würde der Politik einen schlimmen Schlag versetzen, wenn die Union oder die FDP noch einmal einen Purzelbaum schlagen würde. Nein, das nehme ich nicht an. Und das will ich auch niemandem unterstellen. Angela Merkel und Umweltminister Norbert Röttgen schon gar nicht. Sie würden ja damit auch ihre eigene Partei völlig ruinieren.
Noch etwas: Der Ausstieg wird den Ausbau der erneuerbaren Energien, der bei uns ja schon erheblich fortgeschritten ist, weiter beschleunigen. Unsere jetzt bereits weltweit führende Rolle auf diesem Gebiet wird deshalb noch zunehmen und sich auch in wirtschaftlichen Erfolgen niederschlagen.
Wird das Jahr 2011, was unsere Haltung zur Energie betrifft, eine nachhaltige Zäsur bedeuten?
Ja, und zwar über unser Land hinaus. Wenn uns der Atomausstieg gelingt, wird das in ganz Europa, ja sogar weltweit die Diskussion beleben. Ich bin sicher, dass wir da etwas anstoßen können, aber nicht im Sinne einer Belehrung der anderen, sondern im Sinne: »Kommt zu uns und schaut es euch an.« Ich könnte mir vorstellen, dass die Menschen in anderen Ländern sensibler werden, was Atomenergie anbelangt. So hat sich der Schweizer Bundesrat im Mai 2011 für einen langfristigen Ausstieg aus der Kernenergie mit dem Ziel entschieden, das letzte Schweizer Atomkraftwerk 2034 stillzulegen. Und selbst in Japan sind erstmals Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Kernkraft zu demonstrieren.
Übrigens: Wir sollten nicht vergessen, dass Österreich das erste Land der Welt war, das sich schon 1978 in einem Volksentscheid gegen die Nutzung der Atomkraft – ein schon gebautes Werk in Zwentendorf durfte deshalb nicht in Betrieb genommen werden – aussprach. Und kaum einer wird wissen, dass Italien nur neun Jahre später, also 1987, den Ausstieg ebenfalls in einem Volksentscheid beschlossen hat. Der Plan Silvio Berlusconis, dennoch vier neue Atomkraftwerke zu bauen, wurde erst vor wenigen Monaten durch einen weiteren Volksentscheid mit überwältigender Mehrheit zurückgewiesen.
Weiter einschneidend, Sie haben das angesprochen, sind die Veränderungen in der arabischen Welt, die friedlichen Revolutionen in Nordafrika, aber auch – damit verbunden – der Bürgerkrieg in Libyen. Diese Entwicklungen haben gezeigt, dass die Sehnsucht nach Freiheit, nach Menschenrechten oder auch nur nach Wohlstand lang bestehende Strukturen über den Haufen werfen kann. Sind die damit verbundenen Auswirkungen auch eine Gefahr für uns, weil sie einhergehen mit einer, im besten Fall, vorübergehenden Destabilisierung, mit Flüchtlingsströmen, von der Ölproblematik ganz zu schweigen?
Ein Skeptiker würde sagen: »Mit der Hoffnung seid bitte vorsichtig, denn ihr wisst ja noch gar nicht, was da am Ende wirklich herauskommt.« Ich bin in dieser Hinsicht eher ein Optimist. Allein die Tatsache, dass die Tunesier und die Ägypter in friedlicher Weise einen solchen Wechsel herbeiführen konnten, verdient große Hochachtung. Es ist ermutigend, dass sie sich tage- und wochenlang auf der Straße aufgehalten und demonstriert haben. Sie haben sich eingesetzt für mehr Freiheit, für Meinungsfreiheit, für Versammlungsfreiheit, für wirkliche Wahlen und für Demokratie. Sie wollten keine Präsidenten mehr, die als Diktatoren agieren und sich zudem bereichern. Das hat so doch noch vor kurzem niemand vorausgesehen. Libyen ist ein Sonderfall, und das hängt wohl mit der Person von Gaddafi zusammen. Muammar al-Gaddafi kann man nicht ohne Weiteres mit dem ägyptischen Staatschef Husni Mubarak oder mit dem tunesischen Präsidenten Ben Ali vergleichen. Aber auch da kann ich nur hoffen, dass am Ende Gaddafi auf der Verliererseite steht, denn sein Umgang mit seinem eigenen Volk und mit dem internationalen Terrorismus hat mich in der Vergangenheit manchmal sogar an seinem Geisteszustand zweifeln lassen. Aber selbst da, wo Machthaber mit Waffen und Gewalt gegen ihr Volk vorgehen, erheben sich Menschen, und das finde ich ganz außerordentlich. Syrien ist auch ein solcher Fall. Hier folgen die Mächtigen gegenwärtig eher dem Beispiel Gaddafis. Im Jemen ist die Lage schwer zu beurteilen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich nochmals unterstreichen: Die Vereinten Nationen haben als Sicherheitsrat seit einiger Zeit militärisches Eingreifen von außen erlaubt, wenn schwere Verletzungen der Menschenrechte vorliegen. Im Fall Libyen ist das besonders deutlich geworden. Und dass sich Russland und China dabei des Vetos enthielten, also ein solches Vorgehen möglich gemacht haben, ist unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten sehr bemerkenswert.
Ist das eine gute Entwicklung? Die Frage ist doch, wo denn die Grenze liegt. Muss man jetzt auch bei Baschar Hafiz al-Assad in Syrien eingreifen? Muss man die Chinesen zu einer besseren Politik gegenüber Tibet zwingen, und das mit militärischen Mitteln? Wenn man damit anfängt, das Prinzip der staatlichen Souveränität zu ignorieren, das ja nun schon sehr lange gilt – wohin führt uns das? Und wer soll am Ende entscheiden, was gutes Eingreifen ist und was nicht?
Die Notwendigkeit, Dinge abzuwägen und Präzedenzfälle im Auge zu behalten, das gehört einfach zur menschlichen Entwicklung. Die Entscheidung hat letzten Endes immer der Weltsicherheitsrat zu treffen. Er wird dabei das Ausmaß und die Intensität der Menschenrechtsverletzungen zu beachten haben. Alles, was man an China kritisieren kann und muss, lässt sich kaum mit dem vergleichen, was in Libyen geschieht. Aber da wir in einer realen Welt leben, ist auch zu berücksichtigen, gegen wen man solche Überlegungen anstellt. Libyen und China sind Länder völlig unterschiedlichen Gewichts. Das kann nicht außer Acht gelassen werden. Zudem hoffe ich, dass die Entwicklung in China zu weiteren Veränderungen führen wird. Wenn man bedenkt, welchen Weg China auf dem Gebiet der Menschenrechte seit Mao Zedong bis heute zurückgelegt hat, ist das doch ermutigend. Im Falle Syrien haben die Erörterungen im Weltsicherheitsrat bisher leider zu keinem positiven Ergebnis geführt.
Sie glauben also an einen Aufschwung der Menschenrechte – und zwar international?
Dass sich der Weltsicherheitsrat bei seinen Begründungen auf den Schutz der Menschenrechte stützt, das finde ich jedenfalls hoffnungsvoll.
Ihrer Meinung nach haben wir somit die Möglichkeit einer echten positiven Veränderung?
Ja. Nach den genannten Ereignissen kann wirklich eine neue Epoche beginnen, wobei ich natürlich nicht in der Lage bin, die weitere Entwicklung im Einzelnen vorauszusagen. Es kommt darauf an, wie wir alle mit dieser Chance umgehen und dass sich alle im Klaren sind, dass es eine solche ist.
Ganz leise füge ich noch hinzu: Diese ganzen Veränderungen zeigen auch, dass wir Menschen in bestimmter Hinsicht an unsere Grenzen gelangt sind. In technischer Hinsicht haben wir es schon erörtert, aber auch was das Wachstum angeht, haben wir Grenzen erreicht. Allmählich wird dies den Menschen bewusst. Die neuesten Entwicklungen sind somit auch eine Chance, unsere Lebensbedingungen insgesamt zu ändern. Damit sind nicht nur die eigenen gemeint – wir sind ein ganz kleiner Teil, wir machen gerade 1,3 Prozent der Weltbevölkerung aus –, sondern die der gesamten Menschheit. Diese ist nicht mehr nur ein abstrakter Begriff, mit dem man sich in edlen Stunden beschäftigt, sie ist auf einmal ganz konkret geworden.
Wie meinen Sie das?
Es gibt immer weniger Vorgänge, bei denen man sagen kann: Das betrifft uns doch überhaupt nicht. In Goethes Zeiten gab es nichts Schöneres, als an Sonn- und Feiertagen vor den Toren der Stadt zu promenieren und ein Gespräch über Krieg und Kriegsgeschrei zu führen, »… wenn hinten fern in der Türkei die Völker aufeinander schlagen«. So schildert es Goethe im Faust in seinem berühmten »Osterspaziergang«. Auch Kriege in der »Ferne« sind heute für uns regelmäßig Ereignisse, die auch uns angehen. Und weil Sie von Flüchtlingen gesprochen haben: Wenn wir die Kluft zwischen den Lebensverhältnissen der Menschen in weiten Teilen der Welt und unseren Lebensverhältnissen weiter anwachsen lassen, wenn wir die Klimakatastrophe nicht abwenden, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sich Millionen von Menschen gerade in Richtung Europa in Bewegung setzen. Sie können ja inzwischen auch im Fernsehen täglich sehen, wie wir leben.
Diese sehr schnellen Entwicklungen im arabischen Raum, die auch etwas mit der Kommunikationsveränderung zu tun haben, mit dem Internet, das die Dinge beschleunigt, lassen, ich sage es mal vorsichtig, die Politiker nicht alt, aber etwas langsam aussehen. Kann man von ihnen mehr verlangen, als nur auf die Entwicklungen zu reagieren? Sollte man von ihnen auch fordern, dass sie Orientierung geben, selbst in solch beschleunigten Zeitabläufen?
Ja, das sollte man. Es ist gut, wenn politisch Verantwortliche ihre Arbeit in dem Sinne tun, dass sie mit der Entwicklung Schritt halten und dass sie zu vernünftigen Lösungen kommen, aber sie sollen auch Orientierung geben. Ein gutes Beispiel dafür war die Ostpolitik von Willy Brandt. Und in der Frage des Atomausstiegs haben die Grünen und die SPD weiß Gott auch Orientierung gegeben. International fällt mir zur Klimafrage als Beispiel Al Gore ein.
Der leider nicht amerikanischer Präsident geworden ist.
Ja, leider.
Es ist also keine Überforderung der Politiker, ihnen zu sagen: »Wir möchten, dass ihr nicht nur verwaltet, sondern dass ihr uns Orientierung gebt«?
Das ist keine Überforderung. Es muss erkennbar gemacht werden, woran Politiker sich orientieren, und man muss die Kriterien benennen können, an denen sie sich selbst messen. Daran sollen sie dann auch von den Bürgerinnen und Bürgern gemessen werden.
Sie selbst sind als Jurist in den Politikerberuf gekommen. Wo hatten Sie am Anfang Ihre größten Lücken? Wo hatten Sie das Gefühl, dass Sie nicht auf der Höhe sind und nacharbeiten müssen?
Eine deutliche Lücke hatte ich im wirtschaftlichen Bereich und auch in der Finanzpolitik. Wenn ich das Stichwort »Umwelt« nenne, dann war das eine Lücke, die ich anfangs mit meiner ganzen Generation geteilt habe. Noch bis in die sechziger Jahre hinein wurde der Begriff »Umwelt«, wenn überhaupt, jedenfalls ohne besondere Betonung benutzt. Ich erinnere mich, dass das Thema bei unserer Entscheidung für den Ausbau eines Schienenschnellverkehrssystems in München in der Abwägung mit dem Individualverkehr wegen der Schadstoffbelastung durchaus eine Rolle spielte, der Begriff selbst aber noch kaum verwendet wurde. Erst im Laufe der Zeit habe ich mich dann konkret mit der Umweltpolitik befassen müssen. Und da die Außenpolitik in der Bundesrepublik von Anfang an ein ganz wichtiges Gebiet war, musste man sich auch hier auf dem Laufenden halten und durch Auslandsreisen seine Kenntnisse vertiefen. Im Übrigen sind juristische Grundkenntnisse in der Politik durchaus hilfreich. So zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Ermittlung des Sachverhalts und Beurteilung des Sachverhalts. Das wird in der Politik zu oft vermischt. Juristische Kenntnisse können auch dazu beitragen, die Bedeutung einer intakten Rechtsordnung und eines angemessenen Umgangs mit ihr ernster zu nehmen.
Aber ohne ein Wertefundament ist das alles nichts …
Richtig. Denn letzten Endes kann man nur etwas beurteilen, wenn man sich darüber im Klaren ist, worin das eigentlich Maßgebende besteht. Ist es der materielle Erfolg, die Macht, die Selbstdarstellung, das Wahrgenommenwerden? Oder das Gemeinwohl? Was ist entscheidend, wenn man am Ende des eigenen Lebens Bilanz ziehen will?
Sicher haben Sie sich damit in den letzten Jahren intensiv beschäftigt, und wahrscheinlich ist es nicht einfach, Ihre Wertordnung in wenigen Sätzen zu fassen. Versuchen Sie es trotzdem: Was sind für Sie die allgemeingültigen Werte, auf die man nie verzichten darf?
Die finden Sie im Grundgesetz. Das Grundgesetz regelt nämlich nicht nur die Gewaltenteilung und die föderale Gliederung unseres Staats. Und es ist auch nicht nur eine Sammlung von Verfahrensnormen und Zuständigkeitsbestimmungen. Vielmehr liegt ihm eine Wertordnung zugrunde, die sich in ihm auch ausdrückt. Sie war die Antwort des Parlamentarischen Rats auf die Ideologie des NS-Gewaltregimes. Ein zentrales Element dieser Wertordnung findet sich gleich im ersten Absatz des ersten Artikels, der lautet: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Diese Formulierung trifft den Wertcharakter der Eingangsnorm des Grundgesetzes wesentlich deutlicher als der im Parlamentarischen Rat zunächst an dieser Stelle auch als Antwort auf das Vorausgegangene vorgesehene Satz, dass der Staat für die Menschen und nicht die Menschen für den Staat da seien. Jedenfalls ist die unantastbare Menschenwürde für mich der Hauptgrundwert, aus dem sich weitere Werte ergeben. Etwa die Handlungsfreiheit, die durch die Handlungsfreiheit des anderen eingegrenzt wird, und die Meinungs- und Religionsfreiheit. Aber auch die Gerechtigkeit und die soziale Solidarität.
Eine andere fundamentale Antwort auf das Regime, das für den eine lange Zeit bejubelten Führer Allmacht und Allwissenheit beanspruchte, gibt schon die Präambel des Grundgesetzes. Dort heißt es unter anderem, das deutsche Volk gäbe sich dieses Grundgesetz in »Verantwortung vor Gott und den Menschen«. Damit wird klargestellt, dass der Mensch nicht die letzte Instanz ist, sondern dass er sein Tun und Lassen vor einer höheren Instanz zu verantworten hat. Dem haben übrigens im Parlamentarischen Rat auch Atheisten zugestimmt.
Es bleibt aber die Frage, woraus der Einzelne diese Werte ableitet. Das Grundgesetz überlässt dies dem Einzelnen und schreibt keine bestimmte Begründung vor. Das hat übrigens die Sozialdemokratie 1959 in ihrem Godesberger Programm ausdrücklich bekräftigt. Ich bekenne, dass ich die Wertordnung aus meiner christlichen Überzeugung herleite. Was die Menschenwürde angeht, leite ich sie beispielsweise von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen her. Gott schuf die Menschen nach seinem Bilde – heißt es in der Bibel. Also mit der Willensfreiheit, mit der Fähigkeit, Gutes und Böses voneinander zu unterscheiden, und auch der Fähigkeit zur Nächstenliebe. Aber ich respektiere es, wenn Menschen ihre Begründung aus anderen religiösen Überzeugungen, aus der Philosophie Immanuel Kants oder aus dem Humanismus ableiten. Auf jeden Fall halte ich es aber für wichtig, dass junge Leute rechtzeitig, also auch schon in der Schule, mit der Frage nach der Begründung dieser Werte konfrontiert werden. Und das nicht nur im Religions- oder im Ethikunterricht.
Das Grundgesetz lässt bei alldem immer noch einen hinreichenden Spielraum für die Auslegung seiner Wertordnung – etwa im Bereich der Grundrechte. Aber dafür haben wir eine hervorragende Institution, nämlich unser Bundesverfassungsgericht. In vielen Fällen hat es der Wertordnung insgesamt und speziell den Grundwerten des Grundgesetzes zur Geltung verholfen. Das auch dadurch, dass es sie auf ganz neue Entwicklungen angewandt hat.
Ich fasse kurz zusammen: Wichtig sind für das eigene Wertegebäude das Grundgesetz, die Bibel und Kant?
Ja. Auch Kants Lehre vom kategorischen Imperativ.
Angela Merkel, so vermute ich mal, würde Ihnen bei allen drei Elementen zustimmen. Und trotzdem scheint sie ein Wertefundament zu haben, das in gewisser Weise anpassungsfähiger ist. Wie erklären Sie sich das? Weil ein Begriff wie die Würde des Menschen im 21. Jahrhundert viel zu abstrakt und zu archaisch klingt? Weil man nicht mehr konkret definieren kann, was man darunter versteht?
Mir fällt es nicht schwer, die Würde des Menschen zu definieren. Ich verstehe darunter, dass der Mensch nie als Mittel missbraucht werden darf, dass jeder Einzelne einen Wert, aber niemals einen Preis hat. Und dass in jedem Menschen ein göttlicher Funke steckt. Mir haben die Entwicklungen in Nordafrika gezeigt, dass die Menschenwürde kein archaischer oder gar überholter Begriff ist. Da haben nämlich Menschen aufbegehrt und sich von Diktatoren nicht länger als Arbeits- oder Machtkapital behandeln lassen wollen. Sie sind aufgestanden, um für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Und sie haben sich jedenfalls ein Stück weit durchgesetzt.
Zum Wertefundament von Frau Merkel will ich mich nicht äußern. Dafür kenne ich sie zu wenig. Ziemlich volatil erschien allerdings in jüngster Zeit ihre Politik.
Christliche Nächstenliebe – die Menschen gehen immer seltener in Kirchen, sie beteiligen sich immer seltener an den Strukturen, die früher das Wertegerüst einer Gesellschaft aufrecht gehalten haben. Wie soll man dem begegnen? Mit einer gewissen Nonchalance? Indem man hofft, dass die Rückbesinnung schon von allein kommt?
Dass mehr Menschen in jüngster Zeit die Kirchen verlassen haben, hat auch mit deren eigenen Schwächen zu tun. In der katholischen Kirche spielen dabei die Missbrauchsfälle und die Art und Weise, wie sie damit und mit anderen Fragen, die die Gläubigen zunehmend beschäftigen, lange Zeit umgegangen ist, eine große Rolle. Als Stichworte nenne ich nur den Zölibat, die Frauenordination und den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen. Aber es spielt auch eine Rolle, dass die Zugehörigkeit zur Kirche früher für viele Menschen einfach eine Frage des Milieus war. Und manche Milieus haben den Gedanken an einen Kirchenaustritt erst gar nicht aufkommen lassen. Diese Milieus haben sich im Zuge der Individualisierung weitgehend aufgelöst. Soweit Individualisierung Selbstverantwortung bedeutet, kann ich das nicht bedauern.
Aber immerhin führte es dazu, dass man sich jeden Sonntag einen »Vortrag« anhörte – meinetwegen auch zwangsweise – und damit die Möglichkeit gegeben war, innezuhalten, selbst für die Unvernünftigen und Ungläubigen. Das gibt es nicht mehr.
Das nimmt ab. Aber immer noch sind es rund vier Millionen Katholiken, die den Sonntagsgottesdienst, und rund neun Millionen evangelische Kirchenmitglieder, die jedenfalls die Christvespern und Metten am Heiligen Abend besuchen. Aber auch die, die das nicht tun, haben wohl in ihrer Mehrheit noch gewisse christliche Grundvorstellungen. Sogar diejenigen, die aus der Kirche austreten, besitzen in nicht wenigen Fällen religiöse Bezugspunkte.
Vielleicht treten sie aus, weil sie Kirchensteuer zahlen müssen. Sollte man die abschaffen?
Das mag durchaus so sein. Dennoch bin ich gegen die Abschaffung der Kirchensteuer, weil ihr Wegfall allein schon im sozial-karitativen Bereich fühlbare negative Auswirkungen hätte. Außerdem setzt ihre Zahlung ja eine entsprechende individuelle Entscheidung voraus. Aber Ihre Frage zielte darauf ab, was man tun kann, um wieder stärker ein moralisches Gerüst zu haben. Natürlich sind da die Kirchen selbst gefordert. Aber auch andere große gesellschaftliche Institutionen von den Gewerkschaften über die Arbeitgeberverbände und die Sozialverbände bis hin zu den Medien und den Parteien. Verstärkt sollte jeder von uns auch darauf achten, welches Beispiel er gibt. Woran er sich selbst orientiert. Zu viele zeigen mit dem Finger stets nur auf andere, nicht auf sich selbst.
Aber ist dieses Wertefundament, das Sie da formulieren, tatsächlich tauglich für den politischen Alltag?
Ja.
Geben Sie mir ein Beispiel.
Beispielsweise ist doch die soziale Gerechtigkeit der Wert, der in der Auseinandersetzung über die Situation der Hartz-IV-Empfänger … Entschuldigung, aber ich finde, das ist eine ärgerliche Bezeichnung, weil damit Herrn Hartz zu einer Art Unsterblichkeit verholfen wird. ALG 2-Empfänger gefällt mir besser.
Den Namen Hartz hat aber der Sozialdemokrat Gerhard Schröder eingeführt.
Na gut. Aber wir müssen das nicht beibehalten, oder? Also: Die lange Diskussion über das Arbeitslosengeld 2 zeigt mir, dass die soziale Gerechtigkeit – und damit ein Wertmaßstab des Grundgesetzes – in der Politik eine Rolle spielt. Solidarität hat wiederum in der Entwicklungshilfe, aber auch in der Spendenfreudigkeit der Menschen im Falle von Katastrophen eine Bedeutung. Und dann haben wir noch ein Feld, auf dem die Grundwerte unmittelbar miteinander in Berührung kommen. Es ist das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit. Wie weit muss, darf, kann man die Freiheit einschränken, um Menschen Sicherheit zu geben, um sie vor Anschlägen zu schützen?
In diesem Zusammenhang beschäftigt mich ein Gedanke, den ich in der Diskussion sehr selten finde. Ich gehöre zu den Menschen, die gegen jede Art von Folter sind, und ebenso gegen maßlose Überwachungssysteme. Nur wird man diese Haltung auch dann mit mir teilen müssen, wenn in einem konkreten Fall ein Massenanschlag zu verhindern gewesen wäre, falls man gefoltert oder über bestehende Regelungen hinaus abgehört hätte und damit über das, was das Grundgesetz erlaubte, hinausgegangen wäre. Das mag im ersten Moment erschreckend klingen, aber die Abwägung führt dazu, dass uns die Achtung der Menschenwürde dazu zwingt, einen Anschlag hinzunehmen, den man wirklich nur durch Folter oder eine totale Überwachung hätte verhindern können. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Fall des ehemaligen stellvertretenden Frankfurter Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner. Der wollte das Leben eines entführten Jungen dadurch retten, dass er dem Entführer Gewalt androhte. Der gestand zwar seine Tat, wollte aber nicht verraten, wo er den elfjährigen Jakob von Metzler versteckt hielt. Daschner wurde später wegen Nötigung verurteilt. Die Tatsache, dass der Entführte zu dem Zeitpunkt, in dem Daschner den Täter bedrohte, schon tot war, spielte in diesem Zusammenhang rechtlich keine Rolle.
Aber wie soll in einem solchen oder ähnlichen Fall mit einem Menschen wie Wolfgang Daschner umgegangen werden?
So wie ich es eben geschildert habe. Daschner musste verurteilt werden, weil er gegen eine Grundnorm gehandelt hat. Daran ändert sich auch nichts, wenn seinem Handeln eine Gewissensentscheidung zugrunde lag. Eine solche Einlassung kann ich respektieren, wenn der Betreffende eben hinterher zu seiner Entscheidung steht und die Strafe annimmt.
Dies ist übrigens kein ganz neues Problem. Die Leute, die Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre gegen die Raketenstationierung und den NATO-Doppelbeschluss demonstriert haben, sagten ebenfalls, es sei ihnen so wichtig, dass sie dafür Gesetzesverletzungen in Kauf nehmen würden. Glaubwürdig war diese Begründung für mich dann, wenn sie anschließend im konkreten Fall auch eine Verurteilung akzeptierten.
Das heißt: Derjenige, der dem Entführer, dem Jurastudenten Magnus Gaefgen, Gewalt angedroht hat, um das Versteck des Kindes zu finden, der muss für seine eigentlich gute Tat in Kauf nehmen, dass er für immer und ewig aus dem Dienst entfernt wird?
Er muss die staatliche Sanktion akzeptieren. Ob dazu die Degradierung oder die Entfernung aus dem Dienst gehört, richtet sich nach den einschlägigen Bestimmungen.
Sie akzeptieren also eine Ausnahme von der Regel, aber die Regel selbst soll unangetastet bleiben?
Ich akzeptiere keine Ausnahme von der Regel. Ich respektiere Gewissensentscheidungen. Wenn Menschen sagen: »Ich weiß, das ist gegen das Gesetz, was ich tun werde, aber mein Gewissen sagt mir, dass ich es dennoch machen muss. Und ich will auch die Folgen in Kauf nehmen!« Dann bleibt die Regel auch in diesem Fall bestehen. Anders wäre es, wenn der Staat in solchen Fällen auf Sanktionen verzichten würde. Das darf nicht sein.
Hatten Sie je in Ihrem Leben eine solche Entscheidung zu treffen?
Meiner Erinnerung nach befand ich mich nie in einer solchen Situation. Doch während der Schleyer-Entführung und der Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut nach Mogadischu im Herbst 1977, durch die inhaftierte Mitglieder der RAF freigepresst werden sollten, kam ich ihr in gewissem Sinne nahe. Mit meinen Argumenten hatte ich ja unmittelbaren Einfluss auf das Leben oder Sterben von Menschen. Aber all diese Argumente bewegten sich im Rahmen unseres Grundgesetzes und seiner Wertordnung. Als der Sohn des von der Roten Armee Fraktion entführten und später ermordeten Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer, Hanns-Eberhard Schleyer, das Bundesverfassungsgericht anrief, um die Regierung zu zwingen, den Forderungen der Terroristen nachzugeben, wurde sein Antrag abgelehnt. Die Bundesregierung müsse selbst entscheiden, so das Gericht, welche Mittel sie einsetze, um das Leben Schleyers zu retten. Sie sei nicht gezwungen, zu diesem Zweck die Forderung der Terroristen zu erfüllen. Wir haben stattdessen die Suche nach Schleyer mit großem Nachdruck betrieben, um ihn zu befreien. Leider ist das nicht gelungen. Hier habe ich mein Gewissen geprüft. Es war aber mit dem, was getan wurde, im Einklang, obwohl das das Leben eines Menschen zunächst ernsthaft gefährdete und schließlich sein Ende mit verursacht hat. Es würde nun wohl zu weit führen, alle die Argumente wiederzugeben, die für diese Entscheidungen maßgebend waren.