Über christliche Nächstenliebe, Soldatsein unter Hitler und Todsünden

Wie haben Sie sich das Wertegerüst, dem Sie sich heute noch verpflichtet fühlen, aufgebaut? Vermutlich beginnt es mit einer christlichen Erziehung im Elternhaus?

 

Hauptsächlich war es der Einfluss meiner Mutter. Meine Eltern gehörten verschiedenen Konfessionen an, der Vater war evangelisch, die Mutter katholisch. Damals war eine katholische Trauung in dieser Konstellation nur möglich, wenn sich der protestantische Teil, also mein Vater, verpflichtete, die Kinder im katholischen Glauben aufziehen zu lassen.

 

Das war wohl in Bayern so.

 

Nein, das war in Göttingen, in Niedersachsen – also im damaligen Preußen. Beachten Sie: Meine Eltern haben 1923 geheiratet. Also, meine Mutter nahm Einfluss auf meine christliche Erziehung, mein Vater hielt sich dabei zurück. Ich war dann Messdiener und nahm in der Schule am Religionsunterricht teil. In der Zeit des Nationalsozialismus hörte der am Gymnasium auf, wenn man vierzehn war. Doch wurde er als privater Unterricht, an dem ich teilnahm, im Pfarrhaus fortgesetzt. In der Folgezeit – etwa im Krieg – hatte ich auch Phasen größeren Zweifelns. Erst in der RAF-Zeit wurde mir wieder klarer, was mein Glaube für mich bedeutete.

 

Sie mussten abwägen zwischen einem Menschenleben und dem, was sonst von Bedeutung war. Da half Ihnen eine Instanz wie Gott?

 

Ja, ich hatte und habe eine persönliche, eine lebendige Gottesvorstellung. Die Überlegung war in diesem Fall einfach: Tue dein Äußerstes, prüfe dein Gewissen, versuche auch mit der Person

 

Gottes zu sprechen, doch gib dich dann in die Hand des Herrgotts. Mir hat dieser Gedanke eine gewisse Festigkeit gegeben. Ich erinnere mich auch noch an eine Predigt, die der Bischof Georg Moser wenige Tage vor der Ermordung von Hanns Martin Schleyer in einer Stuttgarter Kirche hielt. Da äußerte er sich ganz ähnlich.

 

Als Kind, als junger Mann waren Sie also noch nicht besonders gottesfürchtig, eher ein durchschnittlicher Ministrant – oder wie habe ich mir das vorzustellen?

 

Genau so. Sie dürfen dabei nicht vergessen, dass ich in der Zeit des NS-Gewaltregimes aufgewachsen bin; 1933 war ich sieben Jahre alt. Kirche, Religion und Hitlerjugend – das hat natürlich Spannungsverhältnisse ausgelöst. Außerdem, und das habe ich schon in meinen früheren Büchern erwähnt, trat mein Vater im Oktober 1932 der NSDAP bei. Für diesen Entschluss waren wohl der Vertrag von Versailles und die hohe Arbeitslosigkeit ausschlaggebend. Nach wenigen Jahren, ich glaube ab 1935 oder 1936, zog er sich von allen politischen Aktivitäten zurück – in der Erkenntnis, dass dieser Parteieintritt ein Irrtum war. Manchmal redete er später so kritisch über das NS-Regime und über Hitler, dass ich zu ihm sagte: »Vater, du bist doch Beamter« – er war Universitätsprofessor –, »du bekommst doch dein Geld von diesem Staat, wieso redest du so schlecht über ihn? Wie geht das?« Er hat das dann aber nicht weiter vertieft.

Ich selbst war in der Hitlerjugend. Doch da ich sportlich nicht sonderlich leistungsfähig war, hatte ich mich in einem »Fähnlein« – so nannte man die kleinere Einheit – um die finanziellen Dinge zu kümmern. Später war ich auf der Kreisebene Kulturbeauftragter, und als solcher hatte ich mich um den Theaterring, das Laienspiel und musikalische Aktivitäten zu kümmern. Gelegentlich ging es auch um Veranstaltungen, bei denen die Nazi-Ideologie eine Rolle spielte.

 

Gab es Teile dieser Ideologie, denen Sie zugestimmt haben? Gab es etwas, das Ihnen gefallen hat?

 

Dass Deutschland in der Welt wieder an Gewicht gewann, dass die Arbeitslosenzahlen zurückgingen, das gefiel mir. Auch dass es wieder eine Wehrmacht gab, und ebenso verbuchte ich darunter den »Anschluss« Österreichs 1938. Noch heute bin ich davon überzeugt, dass die Nazis bei freien Wahlen im Sommer 1938 einen hohen Prozentsatz erreicht hätten.

Ich erinnere mich aber auch daran, dass mein Vater nach Kriegsausbruch sagte, der Krieg sei nicht zu gewinnen. »Den gewinnt er nicht!«, war ein Ausspruch, den er oft wiederholte. Na ja, und dann war ich selbst Soldat, seit Juli 1943. Ich hatte mich freiwillig gemeldet, weil mein Jahrgang – 1926 – sehr stark von der Waffen-SS umworben wurde. Dorthin wollte ich unter keinen Umständen. Aber man war vor dieser nationalsozialistischen Parteitruppe erst in Sicherheit, wenn man einen Wehrmachtsannahmeschein hatte.

Das ganze Ausmaß der Verbrechen des NS-Gewaltregimes ist mir erst nach dem Krieg allmählich klar geworden. Vorher gab es ein einziges Erlebnis, das darauf hinwies. Ich befand mich im Herbst 1943 mit einer schweren Gelbsucht in einem Lazarett in der Bretagne, in Rennes. Als es mir besser ging, arbeitete ich in der Schreibstube des Stabsarztes mit. Manchmal saß da ein kleiner Kreis von Kameraden zusammen, und es wurde erzählt. In dieser Runde sagte ein älterer Obergefreiter – er war vielleicht Mitte zwanzig, ich siebzehn: »Ihr wisst ja gar nicht, was alles in Russland passiert, wie da Menschen ihr Leben verloren haben.« Wir Jüngeren hörten ihm zu, schließlich fragte einer: »Ja, meinst du die Russen?« Der Obergefreite lachte nur und wehrte ab: »Nein, nein, ganz andere Dinge.« Wir bedrängten ihn, wollten mehr darüber erfahren, was er meinte, aber er weigerte sich, weiter darüber zu reden.

 

Richard von Weizsäcker, der ehemalige Bundespräsident, hat am 8. Mai 1985 im Bundestag eine Rede anlässlich des 40. Jahrestags der Befreiung vom Nationalsozialismus gehalten. In dieser sagte er: »Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten.«

 

Ich selbst bin nie im Osten gewesen. Nachdem ich als Soldat in Frankreich im Einsatz war, kam ich nach Italien.

 

Aber Sie haben die brennenden Synagogen in Deutschland erlebt, die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938?

 

Ja. Das Gymnasium, auf das ich damals in Gießen ging, war nur ungefähr 120 Meter von einer Synagoge entfernt. In der Pause, es war der 10. November 1938, sahen wir Rauch aufsteigen, und es knisterte auch. Wir liefen zur Synagoge hinüber und konnten dort sehen, dass Polizei und Feuerwehr zwar da waren, aber den Brand nicht löschten, sondern beförderten. Kurz danach kam unser Lehrer, um uns wieder zurückzuholen. Wir fragten ihn, was das denn zu bedeuten hätte, warum man denn das Feuer nicht löschen würde. Darauf antwortete er: »Ja, das ist die Volkswut. Schon früher hat es in der Geschichte Fälle gegeben, in denen man die Juden auf diese Weise für Untaten gestraft hat. In diesem Fall hat das Attentat eines Juden auf den deutschen Legationsrat Ernst von Rath in Paris die Volkswut geschürt.« Unser Lehrer war kein Nazi, eher ein Deutschnationaler. Später, als die Schule vorbei war und ich wieder zu Hause, fragte ich meine Mutter: »Werden die christlichen Kirchen auch einmal auf diese Weise behandelt? Werden sie eines Tages auch verschwinden wie die Synagogen?« Sie war der Meinung, dass dies nicht passieren würde, und mein Vater, dem ich die Fragen ebenso stellte, gab gleichfalls ein Nein zur Antwort. Er fügte noch hinzu, dass die Juden Sonderbestimmungen unterlägen.

 

Waren unter Ihren Klassenkameraden Juden?

 

Wir hatten in unserer Klasse keine jüdischen Mitschüler. Aber in der Unter- oder Oberprima meiner Schule gab es zwei Jüdinnen – vielleicht war es auch eine Jüdin und ein Jude, genau weiß ich es nicht mehr. Die schieden spätestens 1938 aus dem Gymnasium aus.

 

Michael Verhoeven hat 2008 einen beeindruckenden Dokumentarfilm gedreht, in dem auch das Verhalten deutscher Nachbarn zu ihren jüdischen Mitbürgern thematisiert wird. Die Dokumentation hat den Titel Menschliches Versagen und zeigt, dass die Deutschen oft schon im Voraus wussten, welche Wohnung von jüdischen Nachbarn aufgelöst, wer »verlegt« werden sollte. Die Deutschen gingen zu diesen Wohnungen und betätigten sich quasi als Schnäppchenjäger. Und es waren keine Einzelfälle, sondern dieses Verhalten war weit verbreitet. Das gab es wohl in jeder Stadt, für jeden Ort in Deutschland. Ich frage mich: Wo war damals das moralische Gerüst? Was hatte es einem erlaubt, dass man so handelte?

 

Das ist eine durchaus berechtigte Frage – und in erster Linie auch eine Frage an die beiden christlichen Kirchen. Clemens August Graf von Galen, der 1933 zum Bischof von Münster ernannt worden war, protestierte öffentlich gegen die Euthanasie, die Ermordung von Geisteskranken, und das mit einem gewissen Erfolg. Aber einen öffentlichen Protest in vergleichbarer Weise gegen das, was den Juden widerfahren ist, hat es in dieser Deutlichkeit nicht gegeben. Bis heute beschäftigt sich die katholische Kirche mit der Frage, ob Papst Pius XII. lauter und klarer hätte reden sollen. Historiker setzen sich damit auseinander, wie sein Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus zu beurteilen ist. Man muss auch daran erinnern, dass es den Antisemitismus schon vor 1933 gegeben hat. Hinzu kam eine in Deutschland weit verbreitete und verwurzelte Obrigkeitshörigkeit, deren sich das NS-Gewaltregime intensiv bediente.

 

Und Sie persönlich – wie haben Sie die Auseinandersetzungen mit den Erfahrungen dieser Zeit geprägt?

 

Als mir das Ausmaß der seinerzeitigen Verbrechen in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren allmählich bewusst wurde, begann ich mich mit der Frage nach deren Ursachen zu beschäftigen. Bis heute ist es für mich ein unglaublicher Widerspruch, dass Menschen eines Volkes, das einen Goethe, einen Schiller, einen Kant, einen Lessing hervorgebracht hat, zu solchen Gräueltaten fähig waren. Darunter waren ja ganz »normale« – das Wort spreche ich in Anführungszeichen – Leute. Reichsbahner und Polizeibeamte zum Beispiel. Es gibt Untersuchungen, die nachgewiesen haben, dass sogenannte Polizeikompanien an den Massenmorden in der Ukraine beteiligt waren. Werte oder gar Menschenrechte spielten da keine Rolle. Stattdessen galt der »Führer« als allwissend und als allmächtig. Meine Schlussfolgerung war: So etwas darf sich niemals wiederholen. Und dafür habe ich mich dann auch mein Leben lang engagiert.

 

Erinnern Sie sich, in welcher Gefühlslage Sie Soldat geworden sind? Sie sagten, Sie haben sich freiwillig gemeldet, um der Waffen-SS zu entgehen. Gab es da bei Ihnen noch einen Rest – ich sage jetzt nicht Begeisterung, aber einen Rest eines tatsächlichen Wollens, diesen Krieg zu führen, um zu gewinnen?

 

Ich muss das noch einmal ganz deutlich sagen: Als ich eingezogen wurde, war ich siebzehn Jahre und vier Monate alt. Bei Einladungen in Schulen frage ich die Schüler immer: »Wie alt seid ihr?« Danach schildere ich ihnen, wie vor achtundsechzig Jahren in dem gleichen Alter meine Lebenssituation war. Da kommen die aus dem Staunen nicht heraus. Nun ja – ich wurde zur Infanterie nach Kassel eingezogen. Begeisterung oder Stolz war nicht dabei. Da die Luftangriffe schon begonnen hatten, begleiteten mich eher andere Gefühle und Überlegungen: Wie überlebt man als Soldat? Wie komme ich lebend wieder nach Hause? Dass wir den Krieg gewinnen würden, war im Juli 1943 – also nach Stalingrad – schon ziemlich unwahrscheinlich. Manchmal hörte man von den sogenannten Wunderwaffen und den Raketen V1 und V2 als »Vergeltungswaffen«. Aber man sah auch, wie das Gebiet unter unserer Kontrolle immer rascher schrumpfte. Und viele haben sich an das Ende des Napoleonischen Russlandfeldzugs erinnert …

 

Sie wurden in Kassel eingezogen, wohin kamen Sie dann?

 

Nachdem ich drei Wochen bei der Infanterie in Kassel war, wurden wir zur weiteren Ausbildung nach Zentralfrankreich verlegt, in die Gegend von Orléans. Neben der Ausbildung sollten wir gleichzeitig Besatzungsaufgaben wahrnehmen. Anschließend hatte ich einen ROB-Lehrgang zu absolvieren, das hieß, ich wurde zum Reserveoffiziersbewerber. War man Abiturient, ging das ganz automatisch. Der Lehrgang war in der Normandie. Dort bekam ich dann auch diese unangenehme Gelbsucht und lag, das erwähnte ich schon, fünf Wochen in Rennes im Lazarett. Wieder gesund, wurde ich zurück in die Normandie geschickt, danach nach Erfurt verlegt. Im Juli 1944 musste ich das erste Mal an die Front. Mit der Bahn ging es von Erfurt aus über den Brenner und Südtirol in die Nähe von Florenz. Die Südtiroler waren noch in guter Stimmung, weil die italienische Herrschaft über Südtirol zusammengebrochen war. Weiter ging es an den Arno, rund zwanzig Kilometer von Florenz entfernt. Dort war es aber relativ ruhig, ein paar Spähtrupps und sonst Abwarten in der Hauptkampflinie. Im September Verlegung nach Rimini. Hier bin ich durch eine unfallbedingte Verletzung am Unterschenkel in einen üblen Zustand geraten und kam dann mit einem Lazarettschiff von Rimini nach Venedig.

Von Venedig ging es nach Meran. In dieser Südtiroler Stadt konnte ich mich in einer Pension erholen, die zu einem Lazarett umfunktioniert worden war. Im Dezember ’44 ging es über den Brenner nach Hause, nach Erfurt, und zwar in eine sogenannte Genesendenkompanie. Dort wurden im Jahr 1945 fast alle Soldaten, die sich dort befanden, zu Einsatzgruppen zusammengestellt und Richtung Osten in Marsch gesetzt – zu dieser Zeit hatten die Russen schon die Weichsel überquert und waren bis zur Oder vorgedrungen. Ich hatte aber großes Glück, weil man mich nicht dorthin, sondern wieder zu meiner Einheit nach Italien schickte. Anfang März 1945 wurde ich südlich von Bologna verwundet und lag wieder vier Wochen im Lazarett, bis ich im April erneut zu meiner Einheit zurückkehrte. In der gab es einen Hauptfeldwebel, der eine gewisse Sympathie für mich hatte. Er – ich war inzwischen zum Unteroffizier befördert worden – teilte mir mehrere Handwerker und fünf Kühe zu und trug mir auf, sie nach Norden an einen Ort zu führen, auf den sich die Division zurückziehen würde. Dann hätte man dort wenigstens ein bisschen Verpflegung, und die Handwerker könne man auch immer gebrauchen. Aber der Hauptfeldwebel hatte die Möglichkeit, zu dieser Zeit Kühe über den Po zu bringen, überschätzt.

In der Gegend von Vicenza wurde unsere kleine Gruppe von Partisanen gefangen genommen. Diese führten uns – und das war nicht sehr ermutigend – auf einen Friedhof. Zu unserer Erleichterung tauchte aber bald ein katholischer Geistlicher auf, der zwar nicht Deutsch sprach, aber uns durch seine Gesten beruhigte. Vier, fünf Stunden später erschienen Amerikaner, farbige Amerikaner. Von der NS-Propaganda waren wir in dieser Hinsicht ja sehr einseitig indoktriniert worden. Aber sie waren sehr freundlich zu uns.

Um es abzukürzen: Man brachte uns in ein Lager in der Nähe von Bologna. In diesem blieben wir aber nur kurz, es ging dann nachts in Richtung Pisa. Morgens gegen fünf Uhr marschierte unsere Gefangenenkolonne am Schiefen Turm vorbei, dann weiter nach Coltano. In dem Lager von Coltano erlebte ich den 8. Mai 1945, den Tag der Kapitulation. Wieder hatte ich Glück. Schon Ende Juli wurde ich aus der Gefangenschaft entlassen. Ein bisschen heruntergekommen und mager, wurde ich mit anderen Kameraden in einen der Züge verladen, die nun wieder über den Brenner fuhren. In Heufeld, in der Nähe von Bad Aibling, wurde ich wenige Tage später auf einen Lastwagen gesetzt. Der fuhr uns aber nicht in die amerikanische, sondern in die französische Zone in Mainz. Das war riskant. Denn die Franzosen nahmen von den Amerikanern entlassene Gefangene wieder in Beschlag und transferierten sie zur Arbeit nach Frankreich. Aber es gab eine Notbrücke über den Rhein, und über diese konnte ich mich unkontrolliert auf den Weg nach Hause zu meinen Eltern machen, die immer noch in Gießen wohnten. Meine gute Mutter, die noch dunkles, schwarzes Haar hatte, als ich das letzte Mal im Dezember ’44 in Urlaub war, war inzwischen schneeweiß geworden. Die Freude der Eltern war groß, ihr Sohn war wieder bei ihnen. Auch mein Bruder Bernhard, den ich als Ersten auf der Straße traf, freute sich sehr.

 

Im Vergleich zu Soldaten an anderen Teilen der Front hatten die, die in Venetien oder in der Toskana waren, in Gebieten, in denen die Deutschen dann später gern Urlaub machten, vergleichsweise milde Umstände.

 

Ja.

 

Viele Soldaten berichteten, dass sie durch die Schrecken des Krieges, aber auch aufgrund des eigenen Überlebenswillens Dinge getan haben, von denen sie vorher nie gedacht hätten, dass sie dazu in der Lage wären. Sie waren entsetzt über die eigene Veränderung. Haben Sie das auch an sich erleben müssen?

 

Ich muss nochmals betonen, dass ich, verglichen mit den Jahrgangskollegen, die in Russland kämpfen mussten, wirklich Glück hatte. Deshalb blieben mir solche Erfahrungen erspart.

 

Haben Sie die Schrecken des Krieges überhaupt am eigenen Leib erfahren?

 

Es sind Kameraden in meiner unmittelbaren Nähe gefallen, haben neben mir ihr Leben verloren. Sie lagen tot neben mir am Boden. Als ich selbst verwundet wurde, war das ein Bauchschuss, aber kein Magenschuss. Der Magen blieb unverletzt. Auch da habe ich wieder Glück gehabt.

 

Und Sie selbst haben auch geschossen?

 

Ich habe auch geschossen, natürlich. Nicht so, dass ich auf einen konkreten Menschen gezielt hätte. Aber wenn man mit einem Maschinengewehr oder einer anderen Waffe in den Wald schießt oder in ein Getreidefeld, in dem sich Schatten bewegen, dann weiß man, dass dies Menschen töten kann. Jedoch: Kriege zu führen und zu schießen war in der deutschen Geschichte bis dahin eine Selbstverständlichkeit. Soll ich die ganze Reihe von 1866 über 1870/71 bis hin zum Ersten Weltkrieg aufzählen? Heute ist – Gott sei Dank – Frieden für die meisten von uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden, über die mir zu wenig nachgedacht wird.

 

Ich wundere mich: Sie sagten, dass Sie in der RAF-Zeit wieder stark den Gottesbezug gefühlt haben. Ich hätte jetzt vermutet, dass Sie angesichts der vielen glücklichen Umstände, die Ihnen im Zweiten Weltkrieg widerfuhren, ein besonders nahes Gefühl zu Gott entwickelt hätten. Im Sinne von, da wacht einer über mich und passt auf, dass mir nichts geschieht. Ging es Ihnen nicht so? Oder haben Sie den Glauben in dieser Zeit eher verloren?

 

Damals war ich eher etwas glaubensferner. Jedenfalls hat mich der Gedanke, ich müsse dem Herrgott besonders dankbar sein, weil er zugelassen hat, dass Kameraden fielen, dass aus meiner Klasse sechs Mitschüler den Krieg nicht überlebten, während ich infolge günstiger Umstände nicht getötet wurde, nicht besonders beschäftigt. Ein Gefühl, an das ich mich erinnere, war einfach die Freude darüber, überlebt zu haben.

 

Aber man hätte den Gottesbezug auch ganz verlieren können. Immerhin erlebten Sie eine Realität, die mit dem Ideal einer gerechten Welt überhaupt nichts mehr zu tun hatte.

 

Frau Maischberger, das ist ein Punkt, der mich immer wieder beschäftigt. Das ist die Frage nach der Theodizee, der Frage: Warum lässt Gott das zu? Warum hat Er Auschwitz zugelassen? Warum hat er die Dinge zugelassen, über die wir reden? Da ist meine Antwort heute die folgende: Gott hat dem Menschen die Willensfreiheit gegeben und die Fähigkeit, Gut und Böse voneinander zu unterscheiden. Damit liegt die Verantwortung für menschliche Verbrechen, für menschliche Untaten bei den Menschen selbst. Es ist ihre Sache. Wenn man Gott abverlangt, dass er da im Einzelnen eingreift, muss man sich überlegen: Wann genau soll er eingreifen? Und soll er die Willensfreiheit der Menschen reduzieren, gar beseitigen? Aber ist der Mensch dann noch ein Mensch oder nicht eher ein Automat? Ich weiß, dass dies alles aus der Sicht der Opfer nicht leicht zu verstehen und zu akzeptieren ist. Doch das Böse ist nun einmal in der Welt.

Viel schwerer tue ich mich mit Dingen, die sich in der Natur ereignen und deren Gesetzmäßigkeit folgen. Also mit Tsunamis, mit Erdbeben, mit Erdplatten, die sich verschieben. Da walten Naturgesetze, die nicht von Menschen geschaffen sind und nicht mit einem freien Willen erklärt werden können, die nach christlicher Vorstellung vom Herrgott stammen. Und da Gott die Welt auch mit der Möglichkeit solcher Naturkatastrophen ausgestattet hat, frage ich mich, warum Er es zulässt, dass es dabei immer wieder Hunderttausende von Toten gibt. Darauf eine einigermaßen überzeugende Antwort zu finden, ist verdammt schwer.

 

Haben Sie denn eine Antwort gefunden?

 

Ja, jedenfalls eine Antwort, mit der ich leben kann. Sie lautet: Der Friede Gottes – so steht es in einem der Paulusbriefe – ist höher als alle menschliche Vernunft. Die menschliche Vernunft stößt aber an Grenzen, wenn wir ihre Maßstäbe an die Ratschlüsse Gottes anlegen wollen. Mit dieser Antwort beruhige ich mich dann. Wissen Sie, eine Welt ohne eine konkrete Gottesvorstellung, eine Welt, in der alles nur Zufall ist, nur Evolution, in der es keinen unbewegten Beweger gibt, der das Ganze lenkt, in der der Tod das absolute Ende ist – wäre das eine sinnvollere, eine lebenswertere Welt? Für mich nicht.

 

Ich lasse dies stehen und frage: Sie haben einige Prinzipien und Werte aufgezählt, die aus der Bibel stammen, aus dem Grundgesetz, aus dem Humanismus und der Kant’schen Philosophie …

 

Hierher gehören wohl noch die Kardinaltugenden, also Weisheit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Tapferkeit. Und auch die Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Höflichkeit, Fleiß und Zuverlässigkeit.

 

Dann mache ich es mir einfach und frage, gegen welche Werte und Tugenden haben Sie verstoßen?

 

Mein Privatleben schließe ich jetzt mal aus. Da habe ich sicher nicht immer alles richtig gemacht. Wir reden hier über den politischen Bereich. Ja, da hat mein Ego manchmal schon eine stärkere Rolle gespielt, als es das bei voller Anwendung aller bisher genannten Kriterien hätte tun sollen.

 

Eitelkeit wäre eine solche Sünde?

 

Ja, ja, ja. Der Wille, öffentlich wahrgenommen zu werden zum Beispiel. Insgesamt bin ich mit mir einigermaßen im Reinen, denn es gab in meinem Leben auch keine Karriereplanung. Wer in Bayern ein sehr gutes zweites juristisches Staatsexamen hatte – und das hatte ich –, der konnte davon ausgehen, dass seine berufliche und damit seine materielle Sicherheit ein für alle Mal gewährleistet war. Ich habe mich auch nicht nach den Aufgaben, die mir dann übertragen wurden, gedrängt. Sie sind auf mich zugekommen. Der Gedanke, mit dreiunddreißig Jahren in München für das Amt des Oberbürgermeisters zu kandidieren, stammte nicht von mir. Ich habe es getan, weil mir Freunde nachdrücklich dazu rieten und ich mir dieses Amt allerdings auch zutraute. Ich habe mich nicht nach Bonn gedrängt, und 1981 nach Berlin erst recht nicht. Ich übernahm lauter Aufgaben, bei denen sich die Zahl meiner Mitbewerber in sehr engen Grenzen gehalten hat oder in Wahrheit gegen null tendierte. Na ja, und bei der Kanzlerkandidatur gegen Helmut Kohl im März 1983 war die Zahl der Bewerber ebenfalls überschaubar. Ich sagte: »Verflucht noch mal, ihr könnt doch nicht der Sozialdemokratie und den Menschen zumuten, dass wir jetzt, nachdem Helmut Schmidt aus verständlichen Gründen die Kandidatur abgelehnt hat, händeringend über Wochen nach jemandem suchen.« Also habe ich in Gottes Namen diese Aufgabe übernommen. Im eigentlichen Sinne eitel war das alles nicht.

Noch etwas: Neben der anständigen Erledigung meiner Arbeit war mir stets der unmittelbare Kontakt zu den Menschen wichtig. Im Münchner Rathaus sowieso, dann mit Hilfe des von mir zunächst in München und dann in Berlin eingerichteten Bürgerbüros. In Berlin waren es in zwölf Jahren rund viertausend Menschen, die zu mir persönlich kamen, denen ich zuhörte und denen ich in etwa einem Fünftel der Fälle in irgendeiner Weise helfen konnte.

Doch was habe ich falsch gemacht? Bei den innerparteilichen Streitigkeiten in München bin ich mit meinen Gegnern hin und wieder zu heftig umgegangen. Manche ihrer Äußerungen habe ich auch zu wörtlich genommen.

 

Das wäre aber durch die Eitelkeit abgedeckt, oder?

 

Eher war es mangelnde Selbstbeherrschung. Ein Fehler fällt mir jetzt noch ein. Manchmal habe ich eine gewisse Neigung, Dinge im Zweifel besser zu wissen als andere. Pedanterie und Besserwisserei – das ist mir nicht ganz fremd. Auch tue ich mir mit dem Delegieren von Arbeiten schwer.

 

Aber das wäre doch keine Todsünde!

 

Nein, aber eine Sünde wäre es zu lügen. Dass ich im politischen Bereich gelogen hätte, glaube ich aber nicht. Vielleicht müsste man da meine damaligen Gegner fragen. Es gab jedoch eine andere Sache, bei der ich mich schwergetan habe, das war bei der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs. Das war ja auch ein Konflikt mit meiner Kirche.

 

Jedoch kein Verstoß gegen eine Tugend, die Sie sich selbst auferlegt hatten?

 

Das ist zwar richtig, aber es war ein Wertekonflikt. Heute kann man sagen, dass wir ein Schwangerschaftsrecht haben, das zu den lebensfreundlichsten in ganz Europa gehört. Mit intensiver Beratung und Hilfe, das aber die letztendliche Entscheidung der Frau respektiert.

 

Das heißt, von Ihrem christlichen Wertegefüge her hätten Sie im Prinzip die Liberalisierung des Paragraphen 218 ablehnen müssen?

 

Aus kirchlicher Sicht ja. Aber ich persönlich halte die gefundene Regelung für mit dem christlichen Wertegefüge vereinbar. Dabei erinnere ich an den Konflikt um die Beratungstätigkeit von »donum vitae«.