Über Josef Ackermanns Wertefundament, Wutbürger und globale Mühsal

Ein anderer Aspekt der Wertediskussion: Ökonomischer Erfolg war häufig gleichbedeutend mit dem Wohlstand der Bürger. Demnach hätte Herr Ackermann das richtige Wertefundament und Sie das falsche.

 

Langsam. Die Einzelproblematik der Millionenempfänger, der Millionenvergütungen ist zu trennen von der Frage, ob für den Wohlstand der Bürger der ökonomische Erfolg und damit das Wachstum des Bruttosozialprodukts das allein entscheidende Moment ist. Wenn es wächst, ist anscheinend alles in Ordnung. Wenn es stehen bleibt oder sinkt, läuten die Alarmglocken. Das bezweifle ich aber.

 

Firmengewinne, Bankengewinne, persönlicher Besitz, wer was verdient – das sind unsere Maßstäbe.

 

Ich bleibe einmal beim Bruttosozialprodukt. Was trägt dazu bei, dass es steigt? Da gibt es doch auch negative Faktoren. Behebung von Umwelt- oder Unfallschäden zum Beispiel oder sinnlose Ausgaben. Dann ist aber vor allem die Frage zu stellen: Ist die Vorstellung von einem guten beziehungsweise erträglichen Leben wirklich in erster Linie vom Wachstum abhängig? Kommt es nicht eher auf die Lebensqualität an? Müssen wir nicht viel deutlicher unterscheiden, was wachsen soll und was nicht wachsen soll? Das ist ein Kapitel, mit dem wir uns in Zukunft intensiv zu beschäftigen haben. Dass Firmen Gewinn anstreben, ist ein Bestandteil unserer Marktordnung. Sie müssen das ja auch, um investieren zu können. Aber was fangen sie mit dem Gewinn an, der darüber hinausgeht? Es gibt übrigens Unternehmen, die sich den Regeln der Gemeinnützigkeit unterwerfen und trotzdem erfolgreich sind. Und was die Gewinnmaximierung angeht, da sollten auch Obergrenzen eine Rolle spielen, deren Überschreitung für mich Maßlosigkeit – neuerdings spricht man von Gier – bedeutet. Eine Aussage wie: »Unser Ziel ist ein Jahresgewinn von 25 Prozent«, hat mir bisher in keiner Weise eingeleuchtet.

 

Aber in der Bankenwelt ist das ganz selbstverständlich.

 

Da waren in letzter Zeit eher Verluste in mindestens dieser Höhe selbstverständlich.

 

Wie würden Sie Ihr Wertefundament einem Josef Ackermann beibringen wollen, wenn er es nicht von allein findet?

 

Wenn er das wünscht, würde ich zunächst einmal ein Gespräch mit ihm führen.

 

Aber Sie verstehen, worauf ich hinauswill?

 

Das ist mir schon klar. Dazu könnte ich anmerken: Wir erleben gerade eine Phase der Individualisierung – und das ist auch etwas Gutes, wenn Menschen aus eigener Überzeugung handeln und nicht, weil sie einem bestimmten Milieu angehören und einfach mit den anderen mitlaufen, mitmarschieren. Weh tut es mir, wenn jemand diesen Schritt ohne eigenes Nachdenken über Werte unternimmt.

 

Noch einmal zurück zu der Überlegung, wie Sie jemanden von Ihren Werten überzeugen wollen, der auf der anderen Seite steht. Nehmen wir jetzt als Beispiel nicht Josef Ackermann, sondern ein anderes: Einige islamische Staaten haben das, was im Koran steht, zum rechtsgültigen Maßstab gemacht, und zwar in manchen Ländern eins zu eins. Wie wäre es denn, wenn wir die Vorschriften aus der Bibel in Gesetze fassen würden?

 

Zwischen der christlichen und der muslimischen Religion gibt es mehr Übereinstimmungen, als es uns bewusst ist. Aber es gibt auch den großen Unterschied, den Sie angesprochen haben. Denn nach einer im Islam weit verbreiteten Auslegung des Koran sind seine Lehren gleichzeitig für das Gemeinwesen verbindlich. Da gibt es dann keine Trennung und keine Religionsfreiheit. Und es gibt nach dieser Auslegung auch andere Zwänge, die wir als Verstoß gegen die Menschenwürde ansehen. Wir haben dieses Stadium spätestens im Zeitalter der Aufklärung endgültig verlassen. Und meine Kirche hat das dann immerhin im Zweiten Vatikanum ausdrücklich anerkannt. Jetzt sollte der Islam eine ähnliche Entwicklung durchlaufen. Und Ansätze dafür sind ja erkennbar.

 

Ich habe nach einem Weg gefragt, wie man die Menschen zu einem wertebewussteren, einem ethischeren Leben bewegen kann. Hier kann ich noch keine Renaissance, keine Epochenwende erkennen. Sie etwa?

 

In meinem Leben habe ich Zehntausende, ja wohl an die Hunderttausend von unmittelbaren Berührungen mit Menschen gehabt. Es ist doch so, dass Anstand nach wie vor für viele Menschen eine Rolle spielt. Haben wir nicht auch ein großes Maß an gegenseitiger Hilfe, die geleistet wird? Ist Dominik Brunner, der 2009 in München getötet wurde, weil er sein Leben einsetzte, um andere zu retten – ist das wirklich nur ein abnormer Einzelfall? Ich würde nicht sagen, dass der Ellenbogen für die Mehrheit der Menschen das maßgebende Organ ist. Ich glaube, auch das Herz ist nach wie vor für viele wichtig.

 

Sie sind tatsächlich ein Optimist. Es gab einmal einen Vorschlag, Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn im Grundgesetz zu ergänzen.

 

Es wäre eine gute Ergänzung gewesen. Ich erinnere mich noch an Konrad Elmer, evangelischer Pfarrer und Gründungsmitglied der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, der nach 1990 in der Gemeinsamen Verfassungskommission dafür gekämpft und große Unterstützung gefunden hat. Bei richtiger Auslegung ist der Aufruf zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn im Grundgesetz inhaltlich schon enthalten. Aber es wäre eine gute Sache gewesen, dies ausdrücklich in seinen Text aufzunehmen, und zwar an seinem Anfang. Elmers Vorstoß war eine Zeit lang aussichtsreich, verlor dann aber leider an Unterstützung bei Teilen der Union und der FDP. Übrigens steckt der Gedanke des Gemeinsinns auch im Artikel 14 des Grundgesetzes, in dem es um die Garantie des Eigentums geht. Wissen Sie, warum diese Garantie auch gegeben wurde? Weil es im zweiten Absatz heißt: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.«

 

Mir fehlt es nur nach wie vor an der Umsetzung.

 

Ja, die könnte stärker sein, da stimme ich Ihnen zu. Gerade im Bodenrecht.

 

Sie glauben, das Grundgesetz müsste in dieser Hinsicht, wenn überhaupt, nur in diesem Punkt ergänzt werden. Ansonsten ist es, so wie es da steht, brauchbar und bedarf keiner Korrekturen?

 

Es ist die beste Verfassung, die wir je in unserer Geschichte hatten. Es hat zur Entwicklung unseres Landes einen wesentlichen Beitrag geleistet. Erneuerungen müssen natürlich von Zeit zu Zeit vorgenommen werden, zuletzt waren diese gelegentlich zu häufig. Auch die Sprache in den neuen Artikeln war nicht mehr die anfängliche Grundgesetzsprache, sondern zu oft eine Art Gesetzes-oder zum Teil sogar Verordnungssprache. Und vergessen Sie nicht: Wir haben eine Einrichtung, die dafür sorgt, dass das Grundgesetz lebendig bleibt und immer wieder eine Konfrontation mit der Realität stattfindet – es ist das Bundesverfassungsgericht.

 

Ja, richtig, Ihre Lieblingsinstitution.

 

Dieses Gericht hat zum Erfolg der Bundesrepublik einen ganz wesentlichen Beitrag geleistet – und das bestätige ich immer wieder gern. Sicher, als Justizminister habe ich mich über manche Entscheidungen geärgert und gesagt: »Wie kommt ihr denn dazu? Ihr mischt euch zu stark in die Politik ein!« Aber wenn man die Rechtsprechung insgesamt verfolgt, kann ich nur den Hut vor dieser Institution ziehen. Und wissen Sie, das ist auch eine, die offenbar das Vertrauen der Menschen genießt. Haben Sie schon Wutbürger gegen das Karlsruher Gericht auftreten sehen? Kann man sich das vorstellen? Ich nur schwer.

 

Stellt man sich den Herausforderungen unserer Zeit, kann man sehr viele Blickwinkel haben, regional, überregional, global. Mich würde interessieren, welches Ihr persönlicher Blickwinkel ist, wenn Sie diese Frage beantworten: Was sind die wichtigsten Herausforderungen, die sich uns als Gesellschaft, als Gemeinschaft stellen?

 

Zunächst einmal ist das in meinen Augen die Globalisierung, die Tatsache, dass mehr und mehr Probleme nur noch auf der Weltebene, also von der Menschheit insgesamt, gelöst werden können. Ich hege in diesem Zusammenhang durchaus Sympathie für den Begriff »Weltinnenpolitik«. Neben der Globalisierung ist die technische Entwicklung eine weitere Herausforderung für die Zukunft. Auch dieses Problem ist ein globales, und es steht in enger Verbindung mit der gefährlichen Veränderung, aber auch der Rettung unseres Klimas. Angesichts von Katastrophen wie in Fukushima oder der Unruhen in den arabischen Ländern haben wir dieses Thema ein wenig aus dem Blickfeld verloren, aber es wird rasch wieder zurückkehren. Bei der Globalisierung ist auch die Ökonomisierung zu erwähnen, Stichwort »Banken- und Finanzkrise«.

Eine weitere Herausforderung ist die Verschiebung der weltpolitischen Gewichte. Es gab eine Zeit, in der die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion ungefähr gleich stark waren, danach folgte eine Phase, in der die USA nahezu unilateral den Lauf der Weltentwicklung bestimmt hat. Doch das hat sich schneller geändert, als es von vielen vorausgesehen wurde. Schon in den neunziger Jahren hat Helmut Schmidt immer wieder betont, dass wir auf eine Multipolarität zusteuern. Da er ein guter Kenner Chinas ist, wies er schon damals auf die Bedeutung dieses Landes hin. Und heute ist China im Zuge eines beispiellosen Modernisierungsprozesses zu einem wirtschaftlichen und politischen Faktor geworden, dessen Gewicht ständig wächst. Es ist übrigens auch ein gewaltiger Gläubiger der Vereinigten Staaten. Aber neben China gibt es – auch wenn wir es nicht ganz im Blick haben – Indien mit über 1,2 Milliarden Menschen. Es gibt ebenso Brasilien, das sich immer weiter nach vorne bewegt.

Also, die Multipolarität ist eine Herausforderung, mit der wir in Zukunft zurechtkommen müssen, wobei innerhalb dieser Multipolarität die Vereinigten Staaten weiterhin eine wichtige Rolle spielen werden. Für mich ist diese Entwicklung ein wesentliches Argument für die Meinung, dass ein Zerfall der Europäischen Union gerade das Gegenteil dessen wäre, was wir jetzt dringend brauchen. Nur eine intakte Europäische Union kann in der Multipolarität mithalten. Die einzelnen europäischen Staaten und auch wir können es nicht.

Eine globale Herausforderung ist weiter die demografische Problematik, denn anders als bei uns, wo die Bevölkerung abnimmt, ist die Zunahme der Weltbevölkerung geradezu explosiv. In meiner Schulzeit habe ich gelernt, dass es insgesamt 1,8 Milliarden Menschen gibt, jetzt sind es ungefähr 6,9 Milliarden, also in knapp siebzig Jahren über fünf Milliarden mehr.

Kommen wir zur europäischen Herausforderung. Die verlangt nach einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und nach einer Wirtschafts- und Finanzpolitik, die unsere Euro-Währung stabilisiert und stützt.

Es folgen dann die nationalen Fragen. Da ist zum einen der demografische Veränderungsprozess. Dazu gehören höhere Lebenserwartung, Pflegebedürftigkeit, überhaupt die gesamte Pflegeproblematik. Aber auch die Frage, ob man an starren Altersgrenzen festhalten soll. Warum sollen Menschen nicht bis siebenundsechzig, bis neunundsechzig arbeiten, wenn sie dies wollen und können? Ja, man braucht sie wahrscheinlich sogar. Migration ist ein Problem, soziale Gerechtigkeit, Bildung – bei diesen Gebieten wird die nationale Zuständigkeit nach wie vor ganz erheblich sein.

Und bei all diesen Herausforderungen darf nicht vergessen werden, dass wir uns mit dem Sinn des Daseins beschäftigen sollten, mit dem Sinn unseres Lebens. Und dazu gehört, sich nach Kriterien umzusehen, die nicht nur für das gelingende Leben des Einzelnen wichtig sind, sondern die auch für die Gemeinschaft gelten. Da schiebt sich für mich erneut die Diskussion in den Vordergrund, ob wirklich das Bruttosozialprodukt und sein Wachstum das de facto entscheidende Kriterium bleiben kann. Oder ob man nicht vielmehr das qualitative Wachstum und die Lebensbefindlichkeit der Menschen stärker in den Blick nehmen soll. Es erreichen Sie sicher noch Briefe von Menschen, die Ihnen schreiben …

 

O ja!

 

… was ist der Tenor dieser Schreiben? Was bewegt die Menschen?

 

Meistens geht es in den Briefen um sehr persönliche Fragen. Das hängt in letzter Zeit auch mit der bekannt gewordenen Entscheidung von meiner Frau und mir zusammen, in ein Altenwohnheim zu ziehen. So schildert mir etwa in einem dieser Briefe ein Mann seine Situation und die seiner Ehefrau, die seit zwölf Jahren pflegebedürftig ist, und dass sie alles, was ihnen an materiellen Hilfsmitteln zur Verfügung gestanden hat, aufgebraucht haben. Andere fühlen sich ungerecht behandelt oder bitten um einen Rat. Jeder, der mir schreibt, bekommt eine Antwort. Manchmal endet sie mit dem Satz: »Wahrscheinlich hätten Sie eine positivere Antwort von mir erwartet.« Aber aufgrund meiner Lebenserfahrung weiß ich: In Menschen Illusionen zu wecken, auf die dann nach einigen Wochen umso bitterere Enttäuschungen folgen, ist für die Betroffenen schlimmer, als ihnen wahrheitsgemäß gleich zu Beginn zu sagen, dass ich ihnen in diesem Fall beim besten Willen nicht helfen kann.

 

Was Sie mitbekommen, ist die »Conditio Humana«, die privaten Sorgen der Menschen, und im Hintergrund haben Sie die »Conditions Globales«?

 

Ja, aber das gehört zusammen. Ob Menschen bei uns in Deutschland ein gelungenes Leben führen können, hängt wesentlich mit der Weltentwicklung zusammen. Wenn ich zurückdenke: Was ging es mich als Schüler an, was in China, Australien oder am Nordpol passierte. Das war unendlich weit weg. Aber jetzt ist das vollkommen anders. Um 1840 brauchten die Bayern noch vier Tage, um von München aus an ihre fränkische Grenze zu gelangen, und heute kann man innerhalb eines Tages von München aus die entferntesten Plätze der Welt erreichen. Und Informationen sind weltweit in kürzester Zeit verfügbar.

 

Sind Sie angesichts der Situation, dass wir auf der Welt immer mehr Menschen werden, angesichts der Tatsache, dass wir mehr gemeinsame Entscheidungen treffen sollten – was ja in sich ein Widerspruch zu sein scheint –, ein Optimist geblieben?

 

Im Grunde meines Herzens bin ich immer ein Optimist geblieben. Das würde ich nie leugnen. Als Grund für meinen Optimismus könnte ich auch auf eine kurze Darstellung der Geschichte nach 1945 verweisen.

 

Die da wäre?

 

Wenn mir am 8. Mai 1945 einer die Entwicklung unseres Landes oder Europas vorausgesagt hätte, ich hätte ihn für einen Narren gehalten. Sie hat dann aber alle Erwartungen übertroffen.

 

Und warum?

 

Es würde etwas dauern, wenn ich Ihnen das erzähle.

 

Wir haben Zeit.

 

Na gut. Der 8. Mai 1945 war der Tag, an dem in der amerikanischen Armeezeitung Stars and Stripes – das war im Gefangenenlager unsere einzige Nachrichtenquelle – von der bedingungslosen Kapitulation berichtet wurde. Ich konnte ein bisschen Englisch, und so habe ich das Gelesene übersetzt und an eine Holztafel gehängt.

 

Mit welchem Gefühl?

 

Nicht im Gefühl der Befreiung – das zu behaupten, wäre nicht redlich. Aber ich war erleichtert darüber, dass das Morden und Töten ein Ende gefunden hatte. Endlich waren auch die Luftangriffe vorbei. Aber gleichzeitig war ich ebenso mit unserer totalen Niederlage konfrontiert. Weizsäcker schilderte diese Schwankungen in den Wahrnehmungen ja in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985.

Aber nun: Wenn uns am 8. Mai 1945 dort im Gefangenenlager einer gesagt hätte: »Kinder, regt euch nicht so auf! Ich weiß, jetzt seid ihr verzweifelt, aber ich bitte euch, in vier Jahren werdet ihr ein Grundgesetz haben, das mit seiner Werteordnung eine Antwort auf das NS-Gewaltregime gibt. Ihr werdet einen Rechts-und Sozialstaat konstituieren, eine Demokratie, einen föderalen Staat, der auch funktionieren wird. Ihr werdet auch ein Gericht haben, ein Verfassungsgericht, das seine Sache sehr gut machen wird. In zehn bis zwölf Jahren werdet ihr eure zerstörten Städte im Wesentlichen wieder aufgebaut haben. Es werden zwar über zehn Millionen aus ihrer Heimat fliehen oder vertrieben werden, aber in erstaunlich kurzer Zeit werdet ihr sie integrieren, ohne dass es zu schweren Konfrontationen kommt. Wirtschaftlich werdet ihr schon in den fünfziger Jahren wieder besser leben als vor dem Krieg, und es wird, wenn auch mit Unterbrechungen, kontinuierlich nach oben gehen. Ihr werdet sogar Exportweltmeister werden. Und trotz der furchtbaren Verbrechen in der Zeit des NS-Gewaltregimes werdet ihr wieder in der Weltgemeinschaft euren Platz finden. Ein Deutscher, nämlich euer Bundeskanzler, wird 1971, sechsundzwanzig Jahre nach Kriegsende, den Friedensnobelpreis bekommen. 1972 werdet ihr in München, der Stadt, die während der NS-Zeit den Titel ›Hauptstadt der Bewegung‹ trug, bei Olympischen Spielen die Welt zu Gast haben. Und die Deutsche Einheit wird zustande kommen, ohne einen Schuss und ohne einen Tropfen Blut.« Hätte uns das im Lager einer gesagt, wir hätten gerufen: »Der Mann ist wahnsinnig!« Oder: »Der verhöhnt uns!« Doch es sollte so kommen, wenn auch all dies nicht vom Himmel fiel. Und die so oft geschmähten Parteien haben daran ganz wesentlich, ja entscheidend mitgewirkt.

Da nenne ich nur Konrad Adenauer, der sich für die Westbindung engagierte, und mit besonderer Akzentuierung Willy Brandt wegen seiner Ostpolitik. Für die europäischen Perspektiven füge ich Helmut Schmidt hinzu. Denn der Gedanke des Euros wurde noch in seiner Zeit und der des damaligen französischen Staatspräsidenten Giscard d‘Estaing entwickelt. Doch auch Helmut Kohl verdient als engagierter Europäer erwähnt zu werden. Und über den Atomausstieg haben wir schon gesprochen.

 

Was war denn Ihre Vorstellung über die Zukunft des Landes, wenn es denn eine gab?

 

Am 8. Mai ’45 dachte ich in erster Linie daran, dass wir herangezogen werden, um die Schäden zu beseitigen, die wir in ganz Europa angerichtet haben. Und an diesem Tag hätte ich auch nicht geglaubt, dass ich so rasch aus der Gefangenschaft entlassen würde, denn die Verwüstungen waren groß, zwar nicht so sehr in Italien, aber in Frankreich, in Osteuropa – man hätte uns gut zu deren Beseitigung heranziehen können. Dann beschäftigte mich noch der Morgenthau-Plan, von dem ich in Stars and Stripes gelesen hatte. Er war 1944 vom amerikanischen Finanzministerium entwickelt worden. Danach sollten wir entindustrialisiert werden und nur noch ein Agrarland sein. Es war ebenso die Rede davon, dass Deutschland unter den Siegermächten in vier Besatzungsgebiete aufgeteilt wird. Ich erinnerte mich auch an meine letzte Fahrt durch Deutschland von Erfurt über den Brenner im Januar 1945. Da lag so viel in Trümmern. Die Zukunft erschien uns deshalb grau und verhangen.

 

Sie dachten, Sie würden mehr oder weniger in Höhlen leben?

 

Höhlen nicht gerade, denn es gab immerhin noch Häuser, in denen Menschen, wenn auch sehr dicht beieinander, lebten. Hatte man als vierköpfige Familie anderthalb Zimmer, so war das damals schon viel. Und als ich dann nach Hause kam, entwickelte man zunächst auch keine großen Ansprüche. Es ging darum, dass man genug zu essen hatte, ein Dach über dem Kopf, besonders in diesen jämmerlichen Wintern 1945/46 und 1946/47 nicht gotterbärmlich fror und irgendwo einen beruflichen Anknüpfungspunkt erwischte. In meinem Fall war es das Studium.

 

Ich habe eine ketzerische Nachfrage. Glauben Sie, dass der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands von den USA aus rein ökonomischen Interessen heraus nicht auch kaltblütig kalkuliert war? Überwog da nicht die finanzpolitische Vernunft vor humanistischem Gedankengut? War es den Amerikanern nicht wichtiger, ein starkes Deutschland als Exportpartner zu haben, als ein Land, das in die Steinzeit zurückkehrte?

 

Über die Kalt- oder Warmblütigkeit der Amerikaner will ich nicht spekulieren. Aber Sie haben insofern recht, als die Entscheidung gegen den Morgenthau- und für den Marshallplan für den Wiederaufstieg unseres Landes von substanzieller Bedeutung war. Wichtig war da für uns schon die Stuttgarter Rede des US-Außenministers James Byrnes im September 1946, die als »Hoffnungsrede« aufgenommen wurde. Denn sie kündigte eine Wende in der Besatzungspolitik der Vereinigten Staaten an und verwarf den Morgenthau-Plan. Danach folgte, knapp zwei Wochen später, am 19. September, die Rede von Winston Churchill in Zürich, in der er von einem gemeinsamen Europa sprach – wenn auch ohne Großbritannien. Insbesondere die Feststellung Churchills, dass ein zukünftiger Friede nur über eine Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich zu erreichen sei, war damals geradezu visionär. Und als dann der Marshallplan 1948 in Kraft trat, so war das doch ein gewaltiger Unterschied zu dem Vertrag von Versailles 1919. Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg eine Siegermacht, die dem besiegten Volk half und dadurch auch bestimmte emotionale Empfindungen auslöste. Später hatte die weitere Hilfe natürlich auch etwas mit dem wachsenden Ost-West-Konflikt zu tun. Ob das alles nur ökonomischen Überlegungen entsprang, bezweifle ich doch sehr.

 

In Ansätzen hatten wir über christliche, humanistische Werte versus ökonomische, realpolitische Werte gesprochen. Hätten sich die Siegermächte an christlichen Werten orientiert, speziell katholischen, hätten sie dann nicht – überspitzt formuliert – sagen müssen: »So, jetzt müsst ihr erst einmal sühnen«? Das wäre eine völlig andere Entscheidung gewesen als die, die dann getroffen wurde, die eher dem kapitalistischen Prinzip folgte.

 

Da muss ich Ihnen widersprechen. Diejenigen, die uns schon 1945 geholfen haben, das waren gerade christliche Gruppen, die Quäker beispielsweise. Wenn ich mir allein vorstelle, was München an Hilfe aus der Schweiz, aus dem protestantischen St. Gallen erhalten hat. Da kommen einem keine christlich begründeten Sühneforderungen in den Sinn. Im Übrigen ist es ja auch ein christlicher Gedanke – ich will jetzt nicht sagen: »Liebet eure Feinde« –, aber dass man sich versöhnt. Auch wenn der amerikanische Präsident Harry Truman sich nicht in erster Linie aus christlichen Erwägungen für den Marshallplan und für das Nein zum Morgenthau-Plan durchgerungen haben sollte.

 

Sie glauben tatsächlich, dass die ökonomischen Werte gegenüber den christlichen nicht überwogen?

 

Sie standen sich jedenfalls nicht in der Quere.

 

Aber sind ökonomische Interessen nicht manchmal auch gute Kriterien für eine Entscheidung?

 

Es ist immer eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Und will man hier die Bibel anführen, dann könnte man dieses berühmte Gleichnis von den anvertrauten Talenten zitieren, das im Matthäus- und im Lukasevangelium überliefert ist. In dieser Erzählung schildert Jesus einen Mann, der für längere Zeit verreisen will und sein Vermögen seinen Knechten anvertraut. Er rief sie zu sich, und dem einen Knecht überließ er fünf Talente Silbergeld, dem zweiten zwei und dem dritten eines, je nach den Fähigkeiten der Knechte. Ihr Auftrag war: »Macht Geschäfte damit, bis ich wiederkomme. « Als der Mann nach langer Zeit zurückkehrte, mussten die Knechte Rechenschaft ablegen. Der, der fünf Talente erhalten hatte, brachte fünf weitere. Dafür bekam er höchstes Lob. Der Knecht, der zwei Talente erhalten hatte, zeigte seinem Herrn, dass er noch zwei dazugewonnen hatte. Er wurde auch noch höflich behandelt. Der letzte Knecht übergab aber nur sein eines Talent, mit der Begründung, er hätte so viel Angst vor der Strenge des Herrn gehabt, dass er das eine Talent einfach nur in der Erde versteckte. Dieser Knecht wurde übel beschimpft, denn er hatte nicht gewirtschaftet. Danach können Christen durchaus auch ökonomische Aspekte in Betracht ziehen.