Über Widerstand im eigenen Land, Thilo Sarrazin und Herrn von und zu Guttenberg

Wo stehen wir? Diese Frage ist kürzlich von einem Zeitzeugen beantwortet worden, der in seinem Leben noch ein paar Jahre mehr überblickt als Sie. Stéphane Hessel wurde 1917 in Berlin als Sohn des jüdischen Schriftstellers Franz Hessel geboren, war Widerstandskämpfer in der Résistance, er hat das Konzentrationslager Buchenwald überlebt und jetzt eine kleine Streitschrift geschrieben, die in Frankreich ein Bestseller geworden ist: Empört Euch! wurde 2011 ins Deutsche übersetzt. Hessel wählte als Ausgangspunkt seines Essays die Stunde null nach dem Zweiten Weltkrieg, die Zeit, mit der wir uns gerade auseinandergesetzt haben. Er schildert die Ziele und Ideale der Résistance, die Eingang in die Verfassung der Französischen Republik nach dem Krieg gefunden haben. Und er sagt, diese Errungenschaften, die Gründung eines Sozialstaats, die Verpflichtung für die Menschenrechte, seien heute gefährdet. Hessel ruft dazu auf, diesen Werten wieder zur Geltung zu verhelfen, er ist der Meinung, man müsse für die ehemaligen Ideale kämpfen, sich empören, um sie zu erhalten. Teilen Sie seine Ansicht?

 

Ein Schwerpunkt seiner Kritik und seiner Empörung sind die Fehlentwicklungen des Kapitalismus, des »Raubtierkapitalismus«, wie Helmut Schmidt es genannt hat. Übrigens sprach ja auch der frühere Bundespräsident Horst Köhler von einem »Monster«. Dass die Rahmensetzung, deren der Markt bedarf, mehr und mehr vernachlässigt worden und gegen das Gebot der sozialen Gerechtigkeit immer wieder verstoßen worden sei – diese Kritik kann ich durchaus teilen. Und zwar nicht nur hinsichtlich der globalen und der europäischen Ebene, sondern seit einiger Zeit auch für die nationale Ebene.

Dass die Menschenrechte heute in stärkerem Maße missachtet würden als früher – da bin ich mir nicht so sicher, ob er da recht hat. Sicher gibt es ein großes Defizit. Aber dagegen gibt es doch lebhafte Proteste, sehen wir nur nach China. Da wurde immerhin einem inhaftierten Oppositionellen – Liu Xiaobo – der Friedensnobelpreis verliehen. Und weltweit protestierte man gegen die Verhaftung des inzwischen gegen Kaution wieder freigelassenen großen chinesischen Künstlers Ai Weiwei. In Nordafrika wiederum ging und geht es nicht nur um den Protest gegen korrupte Diktaturen, sondern auch um Menschenrechte, etwa um die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit und die Demokratie.

 

Hessel bezieht den Verstoß gegen die Menschenrechte vor allem auf französische Verhältnisse, auf die Diskriminierung von Ausländern, auf den sozialen Abbau.

 

Ja, in diesen Punkten mag er teilweise recht haben.

 

Ihm geht es um den Zugang zu Bildung, um Entwicklungshilfe in Zeiten der Wirtschaftskrise, um die Alterssicherung, die nicht mehr garantiert ist. Er fragt sich, warum denn niemand aufsteht und eine Revolution anzettelt.

 

Ob man dazu unter europäischen Verhältnissen wirklich eine Revolution anzetteln muss, da setze ich dann doch ein Fragezeichen. Denn die Möglichkeit, notfalls durch hartnäckigen Protest und fortgesetzte Demonstrationen Korrekturen durchzusetzen, ist in Europa – jedenfalls bei uns in Deutschland – keineswegs gänzlich ausgeschlossen. Dafür ist das Thema Kernkraft ein gutes Beispiel. Und für eine vernünftige Lösung der Pflegefrage oder für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, für die ich in Übereinstimmung mit dem Grundsatzprogramm meiner Partei seit Jahr und Tag kämpfe, braucht man keine Revolution. Da braucht man beständige Argumentation – und dann wird sich das eines Tages durchaus ergeben. Im Übrigen, bei aller Kritik: Die soziale Situation ist in unserem Land sicher an nicht wenigen Stellen ungerecht und deshalb verbesserungsbedürftig. Aber sie ist insgesamt doch so, dass mindestens 80 Prozent der Menschheit gern unter unseren Verhältnissen leben würden.

Was Frankreich angeht: Dort will die Regierung das Ruhestandsalter von zweiundsechzig auf fünfundsechzig Jahre heraufsetzen. Also auf ein Alter, das bei uns schon seit Jahrzehnten gilt. Wir streiten über siebenundsechzig Jahre. Die anderen von Hessel angesprochenen französischen Themen kann ich zu wenig beurteilen. Eine wirkliche Revolution scheinen sie mir aber ebenfalls kaum zu rechtfertigen. Außerdem habe ich den Eindruck, dass man in Frankreich sehr gern und sehr lebhaft protestiert. Aber dann beschließt das Parlament oft genug das, wogegen protestiert worden ist, und dann ist die Sache auch wieder erledigt.

Jetzt aber zu Ihrer Kernfrage, die für mich hinter Ihren Ausführungen steht, der Frage, welche Kräfte auf die Politik Einfluss nehmen. Ja, natürlich nehmen die wirtschaftlich Mächtigen auf die Politik Einfluss, Medienmächtige nehmen auf die Politik Einfluss. Da gibt es immer wieder Beispiele dafür, dass man nicht nur informiert und kommentiert, sondern bestimmte Entscheidungen herbeiführen will. Auch durch besonders große Buchstaben auf der ersten Seite von Boulevardzeitungen. Aber zu diesem Kapitel gehört ebenso die Frage an die Bürgerinnen und Bürger, ob sie nur kritisch mit heruntergezogenen Mundwinkeln beiseite stehen und von ihrer Ohnmacht reden oder ob sie sich engagieren. Ob sie wirklich auf die Straße gehen, friedlich natürlich, oder sich sogar – man höre und staune – einer Partei anschließen, um die Ziele dieser Partei, die sie für richtig halten, gegen den Widerstand der Mächtigen voranzubringen.

 

Um Hessel noch mal zu hinterfragen : Seine Analyse zwingt ihn zu dem Schluss, dass wir eine neue Résistance brauchen, weil die Dinge so im Argen liegen. Dieser Aussage würden Sie widersprechen?

 

Ja. Wir brauchen ein starkes Bürgerengagement, das schon. Aber eine Résistance? Ich will mir kein nachträgliches Urteil über die Begrifflichkeit der Résistance anmaßen. Die war ja damals in Frankreich keine in sich geschlossene ideologische Gruppe, sondern hat von überzeugten Kommunisten bis hin zu Rechtskonservativen die Kräfte vereinigt, die der Besatzungsmacht Widerstand leisteten. Das lässt sich doch auf die Realität in unserem Land nicht übertragen.

 

Dann nenne ich es eben anders: Sehen Sie die Errungenschaften derjenigen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg Gedanken über ein Grundgefüge gemacht haben, das eine Gesellschaft zusammenhält, sehen Sie diese Errungenschaften – bei uns in Deutschland wäre es das Grundgesetz – generell bedroht?

 

Nein. Ich sehe das Grundgesetz und unser Grundgefüge nicht generell bedroht. Dabei berufe ich mich mit aller Vorsicht ausnahmsweise auch auf Umfragen. Danach wird die Demokratie von einer deutlichen Mehrheit unseres Volkes bejaht. Was kritisiert wird und wo Fragen auftauchen, das ist die Handhabung der Demokratie. Aber die Grundordnung selbst ist akzeptiert.

 

Doch sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene gelingt es uns nicht, das Auseinandergehen der Schere zwischen Arm und Reich zu stoppen. Sie haben vorhin von einer Weltinnenpolitik gesprochen – wenn man sich zum Beispiel nur das Ziel betrachtet, das auf dem UNO-Millenniumsgipfel 2000 formuliert wurde, bis 2015 die extreme Armut und den extremen Hunger auf der Welt zu halbieren oder zu beseitigen, so kann man eigentlich nur sagen, dass wir gescheitert sind.

 

Das war und ist ein ehrgeiziges, aber notwendiges Ziel. Und ich bedauere, dass es offenbar nur zur Hälfte erreicht wird. Infolgedessen müssen die Anstrengungen auf diesem Gebiet verstärkt und die Methoden der Hilfeleistung in Richtung Hilfe zur Selbsthilfe und für kooperative Einzelprojekte geändert werden. Öffnet sich die Kluft weiter, müsste auch mit einem gewaltigen Zustrom an Armutsflüchtlingen gerechnet werden. Deshalb liegt die Erreichung des in Rede stehenden Ziels auch in unserem eigenen Interesse.

 

Ein P. S: Als Hessels Schrift in Frankreich erfolgreich war, eroberte Deutschland schafft sich ab, das Buch des ehemaligen SPD-Senators in Berlin, Thilo Sarrazin, hierzulande die Bestsellerlisten. Jakob Augstein, Verleger und Journalist, sagte, das eine sei ein Buch der Hoffnung, nämlich das von Hessel, das andere eins der Niedertracht. Was sagt das eigentlich über den Unterschied zwischen Franzosen und Deutschen?

 

Augstein hat da sehr zugespitzt. Denn Diskriminierung von Migranten und entsprechende Auseinandersetzungen gibt es ja auch in Frankreich – und bei uns nicht nur »Niedertracht«, sondern ebenso konstruktive Integrationsbemühungen. Und weil Sie jetzt dieses Buch des Herrn Sarrazin ansprechen: Mir ist es ein Rätsel, warum es eine solche Nachfrage gefunden hat. Sicher, der Autor hat weit verbreiteten Gefühlen und Vorurteilen Nahrung gegeben. Eine Rolle spielt ebenso seine Begabung zur provokativen Selbstdarstellung. Die ist leider durch die Art der Reaktionen aus dem politischen Bereich unterstützt worden. So frage ich mich beispielsweise, ob es klug war, dass der Bundesvorstand meiner Partei sofort einen Ausschlussantrag gestellt hat. Eine Fortsetzung des Verfahrens hätte dazu geführt, dass er sich durch die Instanzen der Schiedskommissionen immer wieder öffentlich hätte präsentieren können. Es war daher wohl richtig, das Verfahren durch eine gemeinsame Erklärung zu beenden, die die Vorsitzende der Schiedskommission angeregt hat.

Inhaltlich ist seine Gen-Theorie inakzeptabel, und seine Problemdarstellung erscheint mir einseitig und polemisch. Wie man das Thema kritisch, aber durchaus sachlich behandeln kann, hat Kirsten Heisig in ihrem Buch Das Ende der Geduld: Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter gezeigt. Ebenso Heinz Buschkowsky, der Neuköllner Bürgermeister, indem er für die Anwendung bestehender Sanktionsmöglichkeiten eintritt, sich um die Berliner Rütli-Schule kümmerte und in seinem Stadtbezirk eine Reihe anderer Modellprojekte voranbrachte, die Kindern und Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft mehr Chancen geben.

Außerdem: Warum hat Sarrazin nicht auch positive Beispiele erwähnt? München wäre so eines. Hier machen die Menschen mit Migrationshintergrund rund 30 Prozent der Einwohner aus, hier gibt es einen starken türkischen Bevölkerungsanteil. Und all das, was Sarrazin da schreibt, ist doch in München gar nicht vorzufinden. Natürlich wurde hier ebenfalls über den Bau einer weiteren Moschee gestritten. Aber in einer Art und Weise, in der man unter baurechtlichen Gesichtspunkten wohl ähnlich über ein anderes zu entstehende Gebäude streiten würde. Noch ein Wort zum Titel: Deutschland schafft sich ab. Damit kritisiert er im Grunde auch die deutschen Mütter, weil sie weniger Kinder gebären als die Migrationsmütter. Ist sein Buch also ein Appell in dieser Richtung?

 

Ja, auch.

 

War es also auch ein Kampfbuch gegen deutsche Mütter?

 

Nein. Die richtigen Mütter sollen die richtigen Kinder bekommen, wenn ich ihn richtig verstanden habe.

 

Die richtigen deutschen Mütter?

 

Ja.

 

Das ist dann eine Art Auslese? Also, ich kann dem Buch wirklich nichts abgewinnen. Es mag ja sein, dass die eine oder die andere Tabelle etwas hergibt, die er da drin hat, aber …

 

… Sie müssen sich trotzdem noch einmal mit der Frage auseinandersetzen, warum das Buch von Sarrazin der Bestseller von 2010 war.

 

Das ist eine der Fragen, die ich nicht schlüssig beantworten kann. Eine andere Frage, auf die Sie vielleicht noch kommen, kann ich auch nicht beantworten. Nämlich warum der Herr von und zu Guttenberg eine solche öffentliche Begeisterung ausgelöst hat. Ich gebe ehrlich zu, es gibt Fragen, die kann ich einfach nicht beantworten.

 

Haben Sie denn Hypothesen, die sich einer Antwort nähern?

 

Ja. Bei Sarrazin, das sagte ich schon, ist es vielleicht der Umstand, dass er Leuten mit Vorurteilen – und die gibt es auf diesem Gebiet durchaus – den Eindruck vermittelt, es seien doch keine Vorurteile, sondern es seien zutreffende Tatsachen. So etwas kauft und liest man dann gern. Aber man kann erfreulicherweise sagen, dass das Buch bisher keine konkreten politischen Wirkungen ausgelöst hat. Wo ist denn die Politik in Richtung Migration seitdem verschlechtert worden?

 

Verbal. Selbst bei Sigmar Gabriel lässt sich nachweisen, dass es eine verbale Verschlechterung gegenüber Migranten gegeben hat.

 

Da müssten Sie mir zunächst sagen, was er konkret geäußert hat.

 

Im August 2010 legte Gabriel Sarrazin den Parteiaustritt nahe, im September sagte er dann: »Wer auf Dauer alle Integrationsangebote ablehnt, der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wie vom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen.«

 

Diese Aussage ist ziemlich akzentuiert, aber zugleich tritt Sigmar Gabriel ja sogar für eine Migrantenquote in unserer Partei ein.

 

Den oben genannten anderen Gruppen hat er aber mit Ausbürgerung gedroht. Und Politik besteht auch aus Worten.

 

Sicher. Aber wenn man sagt, das ist das Buch mit höchstem Verkaufsrekord, darf man nach den Wirkungen fragen. Doch selbst politische Kräfte in unserem Land, die gern in dieser Richtung Dinge aufgreifen, haben sich bisher höchstens in der Frage verkämpft, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht. Aber bei konkreten Maßnahmen wird doch das, was Herr Buschkowsky vertritt und tut, eher unterstützt. Und das unterscheidet sich in der menschlichen Wahrnehmung der Migranten ganz deutlich von dem, wie Sarrazin mit ihnen umgeht. Außerdem: Die Zuwanderung von Fachkräften soll ja gerade jetzt erleichtert werden.

 

Ich bleibe noch bei diesem Autor. Es wurde vielfach die Einschätzung abgegeben, dass Deutschland schafft sich ab auch deshalb gekauft wurde, weil die politischen, die intellektuellen Kreise es so scharf abgelehnt haben. Es sei der Ausdruck eines Volkes, das sich unverstanden und ungehört fühlt und das denkt, die eigenen vitalen Interessen werden nicht mehr wahrgenommen. Ist denn das ganz falsch?

 

Ganz falsch ist das nicht. Aber ganz richtig ist es erst recht nicht. In der Atomfrage beispielsweise hat die deutliche Mehrheit unseres Volkes gerade ihr vitales Interesse durchgesetzt und im Ergebnis die rot-grüne Ausstiegsentscheidung von 2002 wiederhergestellt. Darüber sprachen wir ja bereits. Und zum Migrationsthema und den Gründen für die hohe Aufmerksamkeit, die Sarrazins Werk gefunden hat, habe ich mich ja auch bereits geäußert.

Ihre Frage verleitet mich aber dazu, etwas grundsätzlicher auf die Entwicklung der Migrationspolitik in den letzten Jahren einzugehen. 2000 und 2001 habe ich in der Unabhängigen Zuwanderungskommission mitgewirkt. Rita Süßmuth war Vorsitzende, ich war stellvertretender Vorsitzender; wir haben ganz manierliche Arbeit geleistet. Das war eine Zeit, in der der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber noch gesagt hat: »Deutschland ist kein Einwanderungsland.« Dann hat es einige Zeit gedauert, bis es hieß: »Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland.« Und heute sagt auch die bayerische Staatsregierung: »Natürlich brauchen wir die Zuwanderung von Fachkräften.« Wir haben also auf diesem Gebiet eine wahrnehmbare Entwicklung. Ebenfalls hat die Zahl derer zugenommen, die mit türkischem Namen in den vorderen Rängen der Politik eine Rolle spielen. Da nenne ich nur Cem Özdemir als Vorsitzenden der Grünen. Oder Aygül Özkan und Bilkay Öney als Landesministerinnen türkischer Abstammung. Zudem gibt es jetzt in der Person von Herrn Rösler einen FDP-Chef vietnamesischer Abstammung. Man kann doch nicht sagen, dass das alles gegen den Willen des Volkes geschehen ist und deshalb Proteste hervorgerufen hätte. Noch ein weiteres Beispiel, das ich schon angesprochen habe. Was hat denn Heinz Buschkowsky aus der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln gemacht? Die Rütli-Schule war doch ein Musterbeispiel für die Sarrazinsche Katastrophendramatik. Heute ist allgemeine Meinung, dass die Rütli-Schule ihre Probleme in einer vorbildlichen Weise gelöst hat. Also: Ich negiere das von Ihnen angesprochene Problem keineswegs. Aber ich wehre mich dagegen, dass die tatsächlichen Fortschritte ganz aus dem Blick verschwinden und stattdessen Hoffnungslosigkeit, ja, Verzweiflung ausgebreitet wird.

 

Von wem? Sie argumentieren mit Fakten und ich mit dem Gefühl einer kaufkräftigen Mehrheit, die offensichtlich einen antiparlamentarischen Reflex pflegt, der sich in niedrigen Wahlbeteiligungen niederschlägt, in einer sehr weit verbreiteten Kultur des Protestwählens, in der Zahl der Parteiaustritte, auch der Austritte aus anderen Institutionen. Wenn man das alles zu einem Bild zusammenfügt – da muss man sich fragen, ob unsere demokratische Grundverfassung noch in Ordnung ist.

 

Sicher muss man das alles in ein Gesamtbild einordnen. Dazu muss man aber zunächst einmal die einzelnen Punkte näher ansehen. Ja, die Parteien verlieren Mitglieder. Das ist aber insbesondere die Folge einer starken Individualisierung. Da gibt dann nicht mehr, wie weithin früher einmal, das Milieu, in dem einer aufwächst und lebt, den Ausschlag für sein politisches Verhalten und seine Parteizugehörigkeit. Das gilt nicht nur für die Parteien. Das betrifft die Kirchen oder die Gewerkschaften ebenso.

 

Das macht es nicht besser, das macht es sogar noch schlimmer.

 

Das verbietet aber die Einengung der Frage auf die Parteien und darauf, dass Parteien- oder Politikverdrossenheit die entscheidende Ursache für die abnehmenden Mitgliederzahlen sei. Außerdem ist mir einer, der sich aus individueller Entscheidung einer Partei anschließt, lieber als einer, der einer Partei nur formal angehört, weil das dort, wo er lebt, nun einmal so üblich ist.

 

Na ja, immerhin sind es Institutionen, die demokratische Strukturen stützen!

 

Gott sei Dank tun sie das. Dennoch kann man das nicht auf die Parteien verengen. Nun zum Punkt Wahlbeteiligung – die ist in der Tat gesunken. Aber sie unterscheidet sich bisher noch nicht von der Wahlbeteiligung in uns vergleichbaren Ländern. Außerdem hat sie bei den Landtagswahlen 2011 wieder deutlich zugenommen.

Eine Erscheinung ist mir allerdings rätselhaft. Warum sinkt die Wahlbeteiligung gerade bei Kommunalwahlen – also dort, wo die Menschen die Probleme und die Kandidaten kennen – in nicht wenigen Fällen besonders stark? Warum kommt es da zu Stichwahlen, bei denen einer der beiden Kandidaten mit nur noch 18 Prozent der Wahlberechtigten gewählt wird? Darf ich diese Frage an die Fragestellerin zurückgeben?

 

Stopp! Halt! So leicht können Sie mir die nicht zurückgeben. Sie sind doch, im Gegensatz zur Fragestellerin, Oberbürgermeister und von Kommunalstimmen abhängig gewesen – da müsste Ihnen doch eine Antwort einfallen.

 

Perfekte Erklärungen habe auch ich nicht. Doch auch hier ist zu überlegen, ob bei dieser Entwicklung nicht ebenso das Verhalten der einzelnen Bürgerin, des einzelnen Bürgers eine Rolle spielt, dass man alles Mögliche für wichtiger hält als das politische Engagement. Fragt man sie, warum sie nicht politisch tätig werden wollen, geben sie sich mit der Behauptung zufrieden, dass man bei den Parteien eine sogenannte »Ochsentour« zurücklegen muss. Ich vermisse besonders aus der sogenannten kritischen Intelligenz Männer und Frauen, die zu politischen Veranstaltungen gehen, die mitmachen. Bei aller Kritik an den Parteien darf man nicht außer Acht lassen, dass die Frage der Wahlbeteiligung auch eine Frage an die Bürgerinnen und Bürger ist.

 

Aber will die Politik uns Bürger überhaupt haben? Dazu möchte ich das Beispiel Karl-Theodor zu Guttenberg anführen. Er hat durchaus eine Parteikarriere hinter sich, war Vorsitzender des CSU-Verbands seines Heimatorts Guttenberg und gehörte dem Vorstand des CSU-Kreisverbands Kulmbach an. Doch aus der Sicht derjenigen, die ihn sympathisch fanden, kam er wie Kai aus der Kiste, wie ein Heilsversprecher in einer grauen Welt. Jedenfalls wirkte er nicht verbraucht, und man hatte das Gefühl, da ist einer, der aus einem persönlichen Impuls heraus in die Politik kommt. Doch dann beging er Fehler – und war in kürzester Zeit wieder weg. Da muss man sich doch auch fragen, welche Personen von den Parteien zur Wahl aufgestellt werden.

 

Jetzt mal langsam. Wenn ich mich an der Aufstellung von Kandidaten beteiligen will, dann liegt es nahe, dass ich dieser Partei beitrete und mich bemühe und darauf Einfluss nehmen will, dass die richtigen Leute sich zur Wahl stellen. Nur zu schimpfen – das ist kein demokratisches Verhalten.

Und zu Ihrer Eingangsfrage: Wollte Herr zu Guttenberg die Bürger wirklich mehr »haben« – so fragen Sie – als andere Politiker? Hat er sie öfter gefragt? Oder zur Teilnahme eingeladen? Stand bei ihm nicht oft die sogenannte Public Relation im Vordergrund?

 

Sarrazin sagte, dass die SPD ihn, als er noch im Berliner Senat war, 2010 in den Vorstand der Deutschen Bundesbank weggelobt hätte, weil seine Ansichten der Partei nicht mehr gepasst hätten. Da haben Sie dasselbe Problem in Grün. Zum antiparlamentarischen Impuls gehört die Meinung, dass die Menschen, die gegen den Strich agieren, von den Parteien aussortiert werden.

 

Das ist eine gängige Ansicht, aber die kann ich mir nicht zu eigen machen, dies ist eine gängige journalistische Beurteilung, die nicht mit Fakten belegt ist. Sarrazin war jahrelang Finanzsenator, er hat in Berlin die härtesten Sparmaßnahmen in der ganzen Bundesrepublik durchgesetzt und sah dort offenbar keine weiteren Aufstiegsmöglichkeiten. Da war für ihn der Übergang in den Vorstand der Bundesbank doch eine recht diskutable Alternative. Übrigens auch rein materiell betrachtet.

Aber jetzt zu Guttenberg. Zuerst einmal war seine politische Karriere völlig normal. Aufsehen begann er erst in der Funktion des Generalsekretärs der CSU zu erregen. Im Übrigen ist diese Funktion oftmals eine Durchgangsstation auf einem längeren Aufstiegsweg gewesen. Ich erinnere nur an Franz Josef Strauß oder an Herrn Stoiber. Und genau diesen Weg wollte wohl auch Herr zu Guttenberg einschlagen. Aber Generalsekretär wurde er eben nicht aus heiterem Himmel, sondern nachdem er vorher andere Funktionen durchlaufen hatte. Ist das etwas anderes als das, was eine Ochsentour genannt wird?

 

Dann war das eine sehr, sehr kurze Ochsentour. Er war gerade mal drei Monate Generalsekretär, bevor er Bundesminister wurde.

 

Ja, aber er hat das Amt des Generalsekretärs übernommen, er hat es nicht abgelehnt. Und er war vorher – da nenne ich weitere Funktionen, Sie haben in Ihrer Frage noch andere genannt – unter anderem Kreistagsmitglied, Bundestagsabgeordneter und Bezirksvorsitzender. Da hat er nicht gesagt: »In diesen Niederungen bewege ich mich nicht.« Nein, er hat diese Funktionen ausgeübt, weil er wohl glaubte, dass er so für seine Partei etwas tun könnte und es auch für ihn selbst nicht schädlich sei.

Sie sagten gerade, viele Menschen hätten Herrn zu Guttenberg als »Heilsversprecher in einer grauen Welt« angesehen. Das war wohl in der Tat vorübergehend so. Aber ich bin außerstande, das zu erklären. Welches Heil hat er denn versprochen? Und vor allem, welches Heil hat er gebracht? Betrachten wir doch einmal seine Leistungen. Er hat als Wirtschaftsminister die Meinung geäußert, Opel solle seinem Schicksal überlassen werden und notfalls in die Insolvenz gehen. Eine Hilfe von staatlicher Seite lehne er ab. Deswegen hat er sogar vorübergehend seinen Rücktritt angedroht, ist dann aber doch geblieben. Ist das beeindruckend?

Als Bundesverteidigungsminister hat er sofort einen Staatssekretär und den Generalinspekteur der Bundeswehr, Herrn Wolfgang Schneiderhan, mit dürftigen Begründungen entlassen. Sein Umgang mit der Kunduz-Affäre war ebenfalls nicht überzeugend. Richtig ist, dass er die Aussetzung der Wehrpflicht in seiner eigenen Partei durchgesetzt hat und eine Bundeswehrreform ankündigte. Später stellte sich heraus, dass es für diese Reformen nur wenig konkrete Vorarbeiten gab. Die muss jetzt sein Nachfolger de Maizière leisten.

Und schließlich: Wie kann Begeisterung noch eine Zeit lang für einen Mann andauern, der bei seiner Promotion grundlegende Regeln eklatant verletzt hat? Der schon nach wenigen Jahren nicht mehr gewusst haben will, dass er einen großen Teil seiner Dissertation bei anderen abgeschrieben hat? Ich hatte den Eindruck, dass ihm seine Arbeit merkwürdig fremd vorkam. Aber inzwischen ist das ja Vergangenheit. Und die Stimmen, die ihn unter allen Umständen bald zurückhaben wollten, sind verklungen.

 

Natürlich auch unter dem Druck von Ereignissen, die uns überrollten, etwa Fukushima oder Libyen. Aber gibt es denn etwas, was wir aus der Guttenberg-Debatte lernen können?

 

Vielleicht das: In der Beurteilung der Leistungsfähigkeit, der Fähigkeiten eines Politikers überhaupt, ein gewisses Maß zu halten und ihn nicht kurzfristig – wir sprachen ja am Anfang über Akzeleration und beschleunigte Verfahren – in die höchsten Höhen zu heben. Wobei hier entschieden die Medien angesprochen werden müssen. Ohne sie, ohne insbesondere die Zeitung mit den großen Buchstaben, wäre das alles nicht möglich gewesen. Im Übrigen: Ein halbwegs Erfahrener weiß, dass dem Hochschreiben eines Menschen genauso rasch das Herunterschreiben, das Herunterfallen, folgen kann.

 

Es war also einfach zu viel von allem in zu kurzer Zeit?

 

Ja.

 

Nach Guttenberg könnte die These gelten: »Wer frei von Schuld ist, der gehe in die Politik!« Doch wer traut sich dann noch, sich politisch zu engagieren, wenn er damit rechnen muss, dass seine sämtlichen privaten Verfehlungen ans Licht gezogen werden?

 

Ich bitte Sie, das ist doch auch wieder eine Frage der Bewertung und Einstufung. Wenn jemandem einmal der Führerschein entzogen wurde oder gegen ihn wegen unzutreffender Behauptungen einmal eine einstweilige Verfügung ergangen ist, so ist das nicht schön, aber kein dauernder Grund dafür, sich dem politischen Engagement zu entziehen. Wenn sich aber einer einen Doktortitel unter Verletzung der dafür gegebenen Vorschriften, durch falsche Versicherungen verschafft hat, so hat das ein anderes Gewicht. Die Trennung, die Kanzlerin Angela Merkel hier mit der Bemerkung versuchte, sie habe nicht einen wissenschaftlichen Assistenten, sondern einen Minister berufen, war zumindest unglücklich. Schließlich ging es um persönliche Ehrlichkeit. Auch hat Guttenberg seinen unredlich erworbenen Doktortitel zunächst ja noch in seinen politischen Funktionen weitergeführt.

 

Politiker und Plagiate – neben Guttenberg haben wir noch zwei weitere bekannte Fälle, die FDP-Politiker Silvana Koch-Mehrin und Jorgo Chatzimarkakis. Kann man eigentlich sagen: Wer bei einer Doktorarbeit schummelt, der eignet sich nicht mehr für öffentliche Ämter?

 

Wer eine Erklärung abgibt, in der steht, dass man alle Regeln der Wissenschaft – und das schließt die Regeln für die Zitierweise ein – befolgt hat, und es stellt sich am Ende heraus, dass derjenige das Gegenteil getan hat, dann ist das ein Verhalten, das auch zu einer charakterlichen Beurteilung Anlass gibt. Wenn die betreffende Person sich auf diesem Gebiet so verhält, muss man fürchten, dass sie auch im Rahmen ihrer politischen Verantwortung

 

Regeln bricht, wenn ihr das nützlich und hilfreich erscheint. Wer bei der Doktorarbeit abschreibt, setzt ein Fragezeichen in Bezug auf seine Person.

Und noch etwas zu Guttenberg: Er hat den richtigen Zeitpunkt für einen überzeugenden Rücktritt versäumt. Ein gutes Gegenbeispiel ist da der Rücktritt von Frau Käßmann.

 

Für einen großen Teil derjenigen, die den Rücktritt Guttenbergs bedauert haben, ist die wissenschaftliche Welt eine abgehobene Kaste, die mit sich selbst beschäftigt ist, weswegen der Betrug bei einer Doktorarbeit gar nicht ins Gewicht fällt.

 

Das mag so sein. Aber generalisiert das nicht ein wenig?

 

Nein, das sind Äußerungen, die mir in privaten Gesprächen zu Ohren kamen. Oft genug hörte ich: »Was habt ihr« – gemeint sind die Medien – »mit dem zu Guttenberg gemacht, mit dem Armen?« Und auch im Internet ist diese Meinung oft zu lesen gewesen. Dort geht man weit über das hinaus, was in Zeitungen an Leserbriefen abgedruckt wird. Es gab dort zwar eine starke Anti-Guttenberg-Fraktion, aber auch eine, die vehement pro Guttenberg war.

 

Da kann ich nicht mitreden, weil ich ja am Internet nicht teilnehme. Aber denken Sie daran: Wenn ein Abiturient abschreibt, gibt es doch auch keinen öffentlichen Aufschrei, wenn man ihn vom Abitur ausschließt. Gibt es da Massenproteste? Also: Beim Abiturienten ist man mit Sanktionen einverstanden. Bei einem Bundesminister, der viel intensiver gegen Regeln verstoßen hat, nicht. Warum eigentlich?