Über Glaubwürdigkeit, politische Vorbilder und Katastrophen

Die von Ihnen geschätzte Süddeutsche Zeitung verbreitet, dass die Politik mittlerweile eher in Karlsruhe entschieden und gemacht wird als in den dafür zuständigen politischen Gesetzgebungsorganen.

 

Mehrfach hat das Heribert Prantl geschrieben, in einzelnen Fällen mit Recht. Gelegentlich sollen aber auch in Berlin politische Entscheidungen getroffen worden sein, das habe ich jedenfalls gehört.

 

Und gelegentlich werden dort auch Gesetze verabschiedet.

 

Genau. Und zum Beispiel demnächst über eine Bundeswehrreform und über die Euro-Rettung. Weiterhin über den Atomausstieg. Sie sehen, ich bin gegen Generalisierungen.

 

Wenn Parteien ohne störende Einflüsse von fachlicher Seite Kompromisse aushandeln, haben Sie da nicht das Gefühl, dass das Ende der Volksparteien, das wieder viel beschworen wird, tatsächlich naht? Und wenn dem so ist, wäre das denn ein Übel?

 

Wir machten uns früher größere Sorgen über den Übergang zu einem Mehrparteiensystem. Lange waren wir das Dreiparteiensystem gewohnt, mit der Sonderrolle der CSU. Dann kam eine vierte Partei hinzu, die Grünen, schließlich eine fünfte, Die Linke. Wir waren besorgt, dass eine solche Entwicklung alles schwieriger machen würde. Heute würde ich aber sagen: Die Demokratie hat dadurch bisher keinen wahrnehmbaren ernsten Schaden erlitten. Im Gegenteil. Es hat dem Thema Umweltschutz, ich sagte es schon, eine verstärkte parlamentarische Vertretung verschafft. Und dass der Marsch durch die Institutionen die Marschierer noch stärker verändert hat als die Institutionen, das ist ja auch nicht so schlecht. Die Wahlmöglichkeiten sind nun größer geworden, und die Zahl der Menschen, die nicht milieubedingt, sondern von Fall zu Fall entscheiden, hat erheblich zugenommen. Das kann einen belebenden Charakter haben, das kann einen guten Wettbewerb auslösen.

 

Ist das Regieren in einem Fünfparteiensystem zwangsläufig komplizierter?

 

Am einfachsten ist es wohl, wenn eine Partei die absolute Mehrheit hat – in der Bundesrepublik gab es das auf Bundesebene bisher nur ein einziges Mal, unter Adenauer. Über viele Phasen hinweg ist bei uns eine Zweiparteienregierung selbstverständlich gewesen, eine große Partei, die noch eine kleinere gebraucht hat. Oder eben eine Große Koalition. Neuerdings gibt es Dreiparteienkoalitionen auf Länderebene, das stelle ich mir schon schwieriger vor. Aber im Saarland zum Beispiel funktioniert das Dreierexperiment, so scheint es mir, nicht schlechter als anderswo Zweier-Koalitionen. Dieses Bundesland ist vielleicht aber auch seiner geringen Größe wegen ein Sonderfall.

Jetzt zu den zwei Volksparteien: Ich würde es bedauern, wenn diese beiden wichtigen politischen Faktoren auf ein ungenügendes quantitatives Niveau absinken würden. Denn dann würde die Kombination noch schwieriger werden. Ich würde mir wünschen, dass die Volksparteien auch in Zukunft ihre Unterschiede deutlich genug zeigen, Unterschiede, die aber nicht nur einen bestimmten Teil der Gesellschaft ansprechen, sondern bei denen jeder sagen kann: »Ich gehöre zwar gesellschaftlich gesehen in eine andere Partei, aber ich engagiere mich in dieser, weil sie recht hat.« Man kann sich übrigens ebenso für eine Partei engagieren, weil man Respekt vor ihrer Geschichte hat.

 

Wenn man diese noch kennt.

 

Man könnte sich ein bisschen selbst darum kümmern.

 

Was die Wiedererkennbarkeit angeht – haben die beiden großen Parteien es in den letzten Jahren den Wählern schwerer gemacht?

 

Ja. Etwa weil die Union sich sozialdemokratischen Positionen in einem Tempo angepasst hat, das mich einerseits erfreut, andererseits aber überrascht hat.

 

Vorher hatten sich die Sozialdemokraten Positionen angepasst, die die eigene Wählerschaft gar nicht mehr als sozialdemokratisch erkannt hat. Stichwort Agenda 2010.

 

Da mache ich einen Unterschied. Bei der Agenda 2010 fehlte es eher an der vorhergehenden Kommunikation. Die Erleichterungen auf dem Steuersektor für Unternehmen sind hingegen – ich sagte es schon – von heute her gesehen zu hinterfragen.

 

Sie meinen die Regelung, nach der Gewinne aus Veräußerungen von Anteilen einer Kapitalgesellschaft an einer anderen steuerfrei gestellt wurden. Das war eine grobe Bevorteilung der nicht arbeitenden Klasse.

 

Ja, ich mach das auch nicht klein. Es gab einzelne Deregulierungen, über die man heute streiten muss.

 

Leiharbeit ist nicht eine einzelne Deregulierung, das war eine kleine Revolution.

 

Die Leiharbeit ist nicht von Schröder eingeführt worden.

 

Nein, eingeführt hat er sie nicht. Aber dass die Leiharbeitsverhältnisse unbefristet wurden, hat die Regierung Schröder gemacht. Das hat das »moderne Sklaventum«, wie Kritiker aus Gewerkschaftskreisen sagen, erst befördert. Und die Regelung des ALG 2: Dadurch landete jemand, der gearbeitet hat, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit auf dem gleichen Status wie einer, der nicht gearbeitet hat, nämlich auf dem Niveau von Sozialhilfe.

 

Die Sozialdemokraten haben daraus Folgerungen gezogen …

 

Das sind keine Kleinigkeiten.

 

Wer hat den Ausdruck »Kleinigkeiten« verwendet? Ich habe ihn nicht verwendet. Ich habe gesagt, dass es Dinge gibt, über die man reden muss – und die Sozialdemokratie hat in der Frage der Leiharbeit aus ihren Erfahrungen gelernt. Oder?

 

Doch, doch! Aber leider spät – sie regieren nicht mehr.

 

Ja, leider.

 

Mein Ausgangspunkt war ja der, dass die großen Parteien es ihren Anhängern schwergemacht haben, sie anhand ihrer Grundpositionen zu unterscheiden …

 

Ich bin mit dem vorherigen Thema noch nicht ganz fertig. Das ALG 2, also jener Teil der Agenda, über den am lebhaftesten diskutiert wurde und auch heute noch wird, hat durchaus positive Auswirkungen gehabt. Die Arbeitslosenzahlen sind dadurch gesenkt worden. Und die dorthin übernommenen vormaligen Sozialhilfeempfänger stehen besser da als vorher.

 

Bevor ich die Kritiker dieser Arbeitslosenzahlen zitiere, komme ich aber auf den Punkt der Wiedererkennbarkeit zurück. Sie haben moniert, dass die beiden großen Parteien für ihre Wähler unterscheidbar sein müssen. Ihr Einwand war, dass die Union sozialdemokratisch geworden ist, und ich fügte an, dass sich vorher die Sozialdemokraten den Unionspositionen genähert haben. Also ist das eine wechselseitige Bewegung?

 

Das kann ich nicht einfach zurückweisen, da ist sicher einiges dran. Meiner Partei habe ich immer wieder gesagt: »Ihr müsst den Grundwert der sozialen Gerechtigkeit als Orientierung nicht nur im Grundsatzprogramm, sondern bei eurer täglichen Arbeit im Auge behalten.« Nur – es müssen Ankündigungen und Absichten sein, die realisierbar sind. Man kann unter dem Stichwort »soziale Gerechtigkeit« auch Dinge ankündigen, die irreal sind. Und das ist dann wieder ein Verstoß gegen die Glaubwürdigkeit.

 

Ich verstehe, dass Sie damit auf die Linken zielen.

 

Ja.

 

Noch einmal zum Thema Volkspartei. Hat sich eine solche nicht immer dadurch ausgezeichnet, dass es innerhalb der Partei widerstreitende Interessen gab?

 

Ja. Aber immer im Rahmen des Grundsatzprogramms.

 

Können Sie mir erklären, aus welchen Gründen Sie als Christ, als jemand, der die christlichen Werte sehr hervorhebt, sich damals nicht für die christlich-demokratische, sondern für die sozialdemokratische Partei entschieden haben?

 

Dieser Entschluss reifte bei mir zwischen 1946 und 1950. Nachdem ich mich nach dem Krieg zunächst um mich selbst gekümmert hatte, um Essen, Wohnen, Kleidung und um das Studium, sah ich, in welchem Zustand sich unser Gemeinwesen befand. Zusammen mit anderen meiner damaligen Studienkollegen sagte ich: »Wir müssen für das Gemeinwesen etwas tun, damit wir wieder auf die Beine kommen.« Das meinten wir nicht nur materiell. Ich fügte hinzu, dass das auch bedeuten würde, sich für demokratische Strukturen zu engagieren und sich einer Partei anzuschließen. Pedant, der ich bin, besuchte ich daraufhin die Versammlungen der verschiedenen Parteien. An der Universität Marburg, an der ich studierte, gab es ebenso Gastvorträge von Parteivertretern. Einer der Vortragenden hinterließ bei mir als Person einen bleibenden Eindruck. Leo Bauer hieß der, er war Fraktionsvorsitzender der KPD im hessischen Landtag. Später, 1949, wechselte er in die DDR, wurde aber drei Jahre darauf in einem Schauprozess durch ein sowjetisches Militärgericht als »US-Spion« zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde jedoch nicht vollstreckt, er kam stattdessen nach Sibirien; 1955 entließ man ihn aus dem Lager. Man schob ihn nach Westdeutschland ab, wo er der SPD beitrat. Bauer arbeitete dann auch als Berater von Willy Brandt. Dieser Mann hat mir damals imponiert.

Von allen Parteien habe ich mir die Grundsatzpapiere genauer angesehen. Am Ende kam ich zu folgender Erkenntnis: Die Partei, die dir hundertprozentig entspricht, die besteht nur aus dir selbst. Das macht aber keinen Sinn. In der Folge entwickelte ich eine zunehmende Sympathie für die Sozialdemokratie. Wegen ihres Eintretens für soziale Gerechtigkeit, wegen ihrer Geschichte, wegen ihres Verhaltens vor 1933, insbesondere wegen des Neins von Otto Wels und seiner Fraktion zum Ermächtigungsgesetz im März 1933. Als ich als Referendar am Amtsgericht in Miesbach tätig war, gab es im Mai 1949 einen Parteitag der SPD in Rosenheim und eine Kundgebung mit Kurt Schumacher. Mit dem Parteitag hatte ich nichts zu tun, ich war noch nicht Mitglied. Aber ich wollte mir Schumacher anhören. Also fuhr ich mit dem Fahrrad von Miesbach nach Rosenheim. Ich weiß nicht mehr, was der damalige Parteivorsitzende der SPD gesagt hat. Aber der Mann hat mich fasziniert. Im Ersten Weltkrieg den Arm verloren, als Folge von elf Jahren KZ den Unterschenkel amputiert. Und ein unglaubliches Gesichtsprofil. Von ihm ging eine tiefe Glaubwürdigkeit aus. Die Art und Weise, wie er in jener Zeit immer wieder an den Besatzungsmächten Kritik übte, war beeindruckend. Und sein klares Nein zum Kommunismus war dann der letzte Anstoß, dass ich mich 1950 bei der SPD anmeldete. Damals lebte ich nicht mehr in Miesbach, sondern in München, im Arbeitervorort Freimann.

 

Also waren es Programm und Person, die Sie zur Sozialdemokratie brachten?

 

Ja. Geschichte, Programm und Person.

 

Haben diese drei Dinge gegen die CSU in Bayern gesprochen?

 

Ich will mich höflicher ausdrücken: Sie haben nicht in dem Maße für die Partei gesprochen, wie das bei der SPD der Fall war. CSU-Repräsentanten waren damals Alois Hundhammer, Hans Ehard und Dr. Josef Müller, genannt der »Ochsen-Sepp«, mein späterer Gegenkandidat bei der Münchner Oberbürgermeisterwahl.

 

Und auf der Bundesebene gab es natürlich Adenauer.

 

Von dem war mein Bruder sehr beeindruckt. Aber Adenauers großer Weg begann eigentlich erst 1949, als erster Kanzler der Bundesrepublik, und meine eigene Meinungsbildung war zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich abgeschlossen. Als Präsident des Parlamentarischen Rats, der auf Geheiß der drei westlichen Besatzungsmächte eingerichtet worden war, ist er für mich nicht sehr in Erscheinung getreten. Man kannte seinen Namen, aber er war ja damals Unionsvorsitzender nur für die britische Besatzungszone. Auch war er im eigenen Lager nicht unumstritten. Karl Arnold, damals Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, und andere waren nicht seine Gefolgsleute. Dennoch: Adenauer war ein großer Mann.

 

Brauchen Politiker Katastrophen und Krisen, um zu reagieren? Wenn eine Energiewende erst nach Fukushima, eine EU-Vertiefung, sollte es eine geben, erst nach den Finanzschulden und der Eurokrise kommt, wenn das Völkerrecht vielleicht erst nach den Aufständen im arabischen Raum wieder Geltung erlangt und der erste grüne Ministerpräsident erst nach den Demonstrationen und Zusammenstößen im Zusammenhang mit dem Projekt »Stuttgart 21« gewählt wird – dann scheint man diesen Eindruck zu gewinnen.

 

Sie können doch nicht sagen, dass die Wende in der Energiepolitik erst nach Fukushima kam. Was da kam, war, wie schon besprochen, nur die Wende der Union und der FDP. Wir und die Grünen sind doch schon in den achtziger Jahren für die Wende eingetreten und haben sie 2001 verwirklicht.

 

Man könnte jetzt einwenden, dass auch die Ersten, die etwas ändern wollten, erst nach Tschernobyl aufgewacht sind.

 

Auch das ist so nicht richtig. Widerstand gab es längst vor Tschernobyl. Ein sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter, es war Professor Karl Bechert, hat sogar schon in den fünfziger Jahren vor der Kernenergie gewarnt. Und Erhard Eppler hat bereits 1979 einen Beschluss des baden-württembergischen Landesparteitags herbeigeführt, in dem der Ausstieg gefordert wurde. Dem war der schwere Störfall in Three Miles Island vorausgegangen.

 

Gut, dann haben Sie in diesem Punkt recht. Wie sieht es bei der EU-Vertiefung aus?

 

Jetzt muss ich Ihnen zustimmen. Es gibt Fälle, bei denen die Politik vorauseilt und entsprechend gestaltet, und es gibt Fälle, bei denen die Politik des Anstoßes bedarf. Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing haben keinen gebraucht, sondern haben aus ihrem Nachdenken heraus den Euro vorbereitet. Helmut Kohl hat dann eine Chance genutzt, nämlich die Zustimmung Deutschlands zum Euro als Gegenleistung für das Einverständnis zur Deutschen Einheit erscheinen zu lassen. In anderen Fällen benötigt Politik einen Anstoß, sie ist ja keine göttliche Einrichtung, sondern eine menschliche. Selbst im Privatleben brauchen Menschen manchmal einen Anstoß, bis sie Notwendiges und Richtiges tun. Doch ist in der Politik der Anstoß da und es geschieht trotzdem nichts oder das Verkehrte, so ist ernste Kritik am Platze. Im Übrigen: Es gibt auch Unvorhersehbares. Wer hat denn vorausgesehen, wie Gorbatschow als Generalsekretär agieren würde?

 

Egon Bahr erzählte mir in einem Gespräch, er hätte es. Im Prinzip hätte Michail Gorbatschow nur seine Politik gemacht, das, was er als Mitglied der Olof-Palme-Kommission begonnen hatte.

 

Dass Egon Bahr dieser Ansicht ist, nehme ich ihm ab. Aber wer hat denn sonst wirklich gewusst, dass Gorbatschow seine Truppen in der Kaserne lässt? Die Zahl derer, die das alles gewusst haben wollen, hat hinterher rapide zugenommen.

 

Um noch einmal Habermas heranzuziehen: Er sagte, in bestimmten politischen Momenten der Bundesrepublik hätte es Menschen an der Spitze gegeben, die noch etwas wollten. Adenauer wollte die Westbindung, Brandt die Ostpolitik, Schmidt wirkte als Wegbereiter der europäischen Integration, Kohl gab die Deutsche Einheit und die europäische Einigung vor, jedenfalls den Einigungsweg. Selbst bei Schröder hätte man noch feststellen können, dass er etwas wollte …

 

Darüber, ob Kohl allein den Einigungsweg vorgab, müsste man streiten. Immerhin habe ich mich im November 1989 im Bundestag noch vor ihm für die Schaffung einer Konföderation als Schritt auf dem Weg zu einer endgültigen Lösung ausgesprochen. Dass Schröder etwas wollte, ist hingegen völlig zutreffend. Er wollte zum Beispiel den Ausstieg und das Nein zum Irakkrieg.

 

Er hatte aber auch einen Koalitionspartner, der dabei nicht unbeteiligt war. Aber laut Habermas hätte selbst Schröder auch in der zweiten Legislaturperiode mit der Veränderung der Sozialsysteme etwas gewollt. Doch nun vermisse er beim gegenwärtigen politischen Personal ein Ziel, dem es erkennbar zustrebt, selbst in Krisen und Katastrophensituationen.

 

Die Ziele von Angela Merkel und den führenden Personen der Union haben jedenfalls mehrfach gewechselt. Guido Westerwelle und die FDP wollten lange Zeit eigentlich nur eines – nämlich Steuersenkungen. Wir Sozialdemokraten haben aber Zielvorstellungen, die wir verwirklichen wollen. Sie sind in dem Papier enthalten, das Frank-Walter Steinmeier zur Bundestagswahl 2009 vorgelegt hat. Es ist nur zu wenig bekannt. Warum das so ist, ist eine Frage an uns als Partei, aber auch an diejenigen, die solche Informationen eigentlich weitergeben sollten.

 

Sie lassen die Kritik somit nur beim politischen Gegner gelten?

 

Nein. Ich kritisiere, wenn das geboten ist, in angemessener Form auch meine eigene Partei. Und habe das ja soeben und auch in anderen Teilen unseres Gesprächs getan. Außerdem hat Sigmar Gabriel die Diskussion über einen neuen Fortschrittsbegriff eröffnet. Darin könnte man sogar eine gewisse Selbstkritik der Sozialdemokratie sehen.

 

Können Sie mir sagen, für welches große Projekt die Sozialdemokratie heute steht?

 

Heute spricht man ja von einem Markenkern – ein schreckliches Wort. Aber unser Markenkern ist neben der Freiheit nach wie vor die soziale Gerechtigkeit und die Verringerung der Kluft zwischen Arm und Reich.

 

Nachdem die SPD – Entschuldigung, wenn ich das einschiebe – erst einmal dafür gesorgt hat, dass die soziale Gerechtigkeit für eine ganze Weile mit gesetzgeberischen Maßnahmen außer Kraft gesetzt worden ist und die Kluft vertieft wurde.

 

Ich habe ja schon zugegeben, dass man über Einzelheiten der Agenda 2010 und gewisse Deregulierungen durchaus kritisch urteilen kann.

 

Wir können es ja mal andersrum machen: Was war gut daran?

 

Insgesamt hat die Agenda 2010 die Kluft auch verringert, indem sie die Zahl derer, die wieder arbeiten konnten, erhöht hat. Die Agenda 2010 hat dazu durchaus beigetragen.

 

Ja, zu einem geringeren Lohn, wie Gewerkschaften immer wieder betonen.

 

Das stimmt. Aber ist Arbeit zu einem geringeren Lohn schlechter, als wenn man von ALG 2 lebt?

 

Fragen Sie die Kassiererin an der Kasse eines Supermarkts, die ihren Job verloren hat und dann wieder von einer Leiharbeiterfirma eingestellt wurde, mit einem wesentlich geringeren Gehalt.

 

Wer kämpft denn gegen Leiharbeit? Wer kämpft denn für Mindestlöhne? Wer hat denn schrittweise ...

 

Der Rest von der Opposition, mit Verlaub.

 

Aber haben die Sozialdemokraten bei diesen schwierigen Verhandlungen über das Paket, das das Bundesverfassungsgericht veranlasst hat, nicht in der Leiharbeit und in der Mindestlohnfrage einiges durchgesetzt?

 

Jetzt ja.

 

Die Behauptung, dass es besser ist, wenn die Leute arbeitslos sind, als dass sie mit einem relativ geringen Lohn eingestellt werden, die kann ich mir nicht zu eigen machen. Allerdings sollten diese Löhne nicht unter den von uns geforderten und teilweise auch schon durchgesetzten Mindestlöhnen liegen.

 

Es geht mir nur um die Kritik, die am Markenkern der SPD geäußert wird.

 

Es soll jeder von seiner Hände Arbeit sich und seine Familie ohne Zuschüsse ernähren können – deswegen auch der Mindestlohn. Arbeit ist aber auch für das Selbstwertgefühl der Menschen von zentraler Bedeutung. Selbstverständlich ist damit eine materielle Seite verbunden.

 

Die letzten Wahlergebnisse der SPD, mit Ausnahme der Hamburger Bürgerschaftswahl 2011, haben vielleicht damit zu tun, dass die Menschen das, was Sie gerade als Kern bezeichnet haben, in den letzten Jahren so nicht mehr erkannt haben. Vielleicht haben sie das Gegenteil darin gesehen. Was denken Sie?

 

Eine genauere Betrachtung der Wahlergebnisse fällt etwas differenzierter aus. Da ist der Übergang zum Fünfparteiensystem. Weiter die Tatsache, dass Energie und Umwelt, das grüne Urthema, so stark in den Vordergrund gerückt ist. Über die ungenügende Kommunikation der Agenda 2010 sprachen wir schon. Vergessen dürfen Sie auch nicht: Die Abnahme der Prozentsätze für die sogenannten Volksparteien ist kein Problem, das allein die SPD betrifft.

 

Aber es ist ein Problem, das die SPD am meisten beschäftigt – das muss man mal festhalten.

 

Richtig. Aber deutliche Rückgänge der Prozentzahlen musste auch die CSU hinnehmen.

 

Bei solchen Aussagen frage ich mich: Sind Sie jetzt Parteisoldat oder tatsächlich von innen überzeugt?

 

Soldat war ich zwei Jahre im Krieg und seitdem nicht mehr.

 

Dennoch habe ich das Gefühl, dass Sie die Fehler der eigenen Partei in einem milderen Licht sehen als die Fehler der anderen.

 

Vielleicht lasse ich in der sprachlichen Formulierung eine gewisse Zurückhaltung erkennen, aber nicht in der sachlichen Aussage. Zudem: Ich gehöre nun eben einmal zu der geringer gewordenen Zahl von Menschen, die manches in der Politik auch gut finden und das sogar öffentlich aussprechen.

 

Soziale Gerechtigkeit, dieser Markenkern, wie ist er denn definiert?

 

Das steht im Grundsatzprogramm der Partei, da ist es wunderbar definiert, da habe ich sogar ein bisschen mitgeholfen. Es steht auch in dem erwähnten Steinmeier-Papier. Darf ich den entsprechenden Text kurz vorlesen? Im Grundsatzprogramm von 2007 lautet die Definition wie folgt: »Gerechtigkeit gründet in der gleichen Würde jedes Menschen. Sie bedeutet gleiche Freiheit und gleiche Lebenschancen, unabhängig von Herkunft oder Geschlecht. Also meint Gerechtigkeit gleiche Teilhabe an Bildung, Arbeit, sozialer Sicherheit, Kultur und Demokratie, gleichen Zugang zu allen öffentlichen Gütern.«

Ein Prüfstein bei der Umsetzung ist für mich die Wiedereinführung der Vermögenssteuer – darüber haben wir auch schon gesprochen. Ich sehe keinen vernünftigen Grund, warum es in Deutschland keine Vermögenssteuer geben soll. In anderen Ländern ist sie selbstverständlich. Sie wird ebenfalls im Grundsatzprogramm gefordert.

 

Sie wollen, dass die Geschichte der Partei wieder stärker in den Vordergrund gestellt wird. Warum?

 

Weil hier die Wurzeln unserer Kraft liegen, weil dieser Blick in die Geschichte Ermutigung bedeutet und den heutigen Sozialdemokraten Zuversicht geben kann. Zur Geschichte gehört ihr Kampf in der Bismarckzeit, ihr Widerstand gegen den Nationalsozialismus, ihr Nein zum Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933, gehört die Ostpolitik, gehört die Mitbestimmung. An all das sollte sie sich, aber auch unser Volk sich immer wieder einmal erinnern. Und mit Sicherheit wird das im Jahr 2013 geschehen, da wird die Partei nämlich 150 Jahre alt. Das zeigt dann auch: Sie ist die älteste und erfahrenste der demokratischen Parteien überhaupt.

 

Es gibt ja aber auch nicht nur die SPD als linke Kraft …

 

Ja. Die Linke behauptet das. Sie macht gegenwärtig einen Prozess durch, bei dem dies deutlich wird. Sie ist mit Problemen konfrontiert, die man eigentlich voraussehen konnte. Wissen Sie, ich habe noch immer die Vorstellung, dass sich eine demokratische Partei nicht auf Dauer links von uns halten kann. Da erinnere ich an die Geschichte: 1916 kam es zu einer Abspaltung innerhalb der SPD, die ein Jahr später zur Gründung der USPD führte, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei. Die war vorübergehend eine Massenpartei. Aber 1922 kam der Kern dieser Partei zu uns zurück. Die Übrigen gingen zur KPD. Ansätze zu einer solchen Entwicklung sehe ich in den gegenwärtigen internen Auseinandersetzungen der Linken.

 

Wie lange dauert es diesmal?

 

Sie halten mich offenbar für einen Wahrsager.

 

Ah, Sie merken das schon. Was glauben Sie?

 

Im Moment kommt es darauf an, wie Die Linke mit ihren inneren Problemen fertig wird und ob sie ihre weit auseinanderliegenden Strömungen zusammenbringen kann. In Berlin und Brandenburg und in vielen Gemeinden in den neuen Bundesländern sind Realisten mit in der Verantwortung. Sie haben harte Sparmaßnahmen mitgetragen und an der Umsetzung der Agenda 2010 mitgewirkt. In Dresden haben sie sogar der Veräußerung des gemeindlichen

 

Wohnungsbestands zugestimmt. Hingegen sind die Linken in der alten Bundesrepublik ein sehr gemischtes Nebeneinander verschiedener Zirkel und Richtungen. Deshalb waren die letzten Landtagswahlen dort für sie auch enttäuschend.

 

Aber was kann die SPD da tun? Wie kann sie dem Wähler verständlich machen, dass die Sozialdemokraten auf Länderebene mit der Linkspartei koalieren, aber auf keinen Fall im Bund?

 

Die Koalitionen in Berlin und in Brandenburg zeigen, dass mit den Linken auf Landesebene eine Zusammenarbeit möglich ist. Dort vertreten sie aber auch keine irrealen Forderungen. Das sind eben die Realisten. Natürlich muss man sich diese Leute von Land zu Land anschauen.

 

Aber im Bund – wo ist da das Problem? Die SPD hat zu einer Zeit mit den Grünen koaliert, als diese Partei sich noch für den Austritt aus der NATO stark machte und für Benzinpreise einsetzte, die bei fünf D-Mark lagen. Und die SPD hat gesagt: »Wir koalieren trotzdem, vielleicht werden sie sich ändern.«

 

Das war in der Zeit der ersten Landeskoalitionen. Bei der rot-grünen Bundeskoalition von 1998 haben die Grünen das nicht verlangt. Sie haben sogar unverzüglich dem Kosovoeinsatz zugestimmt.

 

Bei den Linken verneinen Sie eine Koalition auf Bundesebene, weil Sie wissen, dass die sich nicht ändern?

 

Wenn es Leute sind, die einen Weg zum Kommunismus suchen, sehe ich keine Möglichkeit. Wenn es jedoch Leute sind, die so arbeiten, wie es Die Linke in Berlin und in Brandenburg tut, wenn sie bestimmte Forderungen aufgibt und in ihrem neuen Grundsatzprogramm den Austritt aus der NATO streicht, wenn sie keine unfinanzierbaren und deshalb irrealen sozialen Forderungen vertritt, dann kann sich eine neue Situation ergeben. Aber das kann erst 2013 entschieden werden. Gegenwärtig bleibe ich beim Nein.