Über Bürgerbeteiligung, Parteien als geschlossene Clubs und antidemokratische Tendenzen

Noch einmal zurück zur Politikverdrossenheit und zur unzureichenden Kommunikation zwischen Politikern und Bürgern, siehe »Stuttgart 21«. Es gibt unter anderem von André Brie, der als Politiker der Linken jetzt nicht unbedingt für Sie stellvertretend sein muss, aber auch von Jürgen Habermas den Befund, dass schwierige Themen in der Politik nicht mehr prinzipiell diskutiert werden – und sie werden dann auch nicht mehr zur Wahl gestellt. Der Grund dafür, so die Analyse, ist unterschiedlicher Natur. Da heißt es, man möchte sich eher an der Stimmungslage in der Bevölkerung orientieren, man möchte sich nicht mehr die Mühe machen, komplexe Sachverhalte zu debattieren. Wie sehen Sie das? Glauben Sie, es gibt eine Faulheit, gar eine Angst vor dem Wähler?

 

Also – bisher galten Verfahren, die in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren in der Republik zu vernünftigen Ergebnissen geführt haben. Und auch die Kritik der Medien an diesen Verfahren hat sich bis vor kurzem in überschaubaren Grenzen gehalten. Jetzt ist das Interesse der Bürger an großen Projekten deshalb gewachsen, weil sie stärkere Spannungsverhältnisse auslösen, zum Beispiel zwischen ökonomischen Vorteilen und Umweltbeeinträchtigungen. Deshalb beginnt die Politik einzusehen, dass Information und Bürgerbeteiligung nicht ans Ende eines Entscheidungsprozesses gehören, wenn die Verwaltungen ihre grundsätzlichen Beschlüsse schon getroffen haben, sondern viel weiter nach vorne. Das sind jedenfalls Lehren, die aus dem Streit über »Stuttgart 21« gezogen werden sollten.

Vielleicht kann man sich da ein bisschen an den Schweizern orientieren: Haben die große Projekte, wird in einem sehr frühen Stadium über die allgemeine Richtung durch Plebiszit, durch Bürgerentscheid abgestimmt. In der Regel votieren sie dann später ein zweites Mal über das konkrete Projekt und seine Finanzierung.

Generell zu behaupten, dass alle Politiker Angst haben oder sich nach der Laune der Bevölkerung richten, geht mir zu weit. In meiner politischen Zeit haben wir Münchner Großprojekte wie U-Bahn, S-Bahn, Fußgängerbereich oder neue Stadtviertel mit den Menschen kommuniziert, mit ihnen geredet und sie ihnen erklärt. Und das haben meine Nachfolger ebenso getan. Vielleicht ist es notwendiger denn je, dieses Erklären. Hinzu kommt noch ein anderer Aspekt: Es gibt Dinge, die nicht in der nationalen Zuständigkeit liegen, und das erschwert Bürgern, manchmal sogar Politikern, den Durchblick, wer eigentlich die Verantwortung hat und entscheidet.

 

Das sind zwei Themenbereiche, ich möchte jetzt aber bei den Volks-, bei den Bürgerentscheiden bleiben. Sie sind dafür, diese auf Bundesebene einzuführen?

 

Dafür kämpfe ich seit Jahrzehnten.

 

Warum hat dies so wenig Resonanz gefunden? Warum ist das nicht längst passiert?

 

1992/93 hatten wir dafür in der Gemeinsamen Verfassungskommission eine absolute Mehrheit, erreichten aber nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit. 2002 wiederholten wir den Antrag, der Entwurf wurde ebenfalls abgelehnt. Zur Sache selbst: Ich lebe seit 1949 in Bayern, also in einem Land, in dem der Volksentscheid dank des Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner von Anbeginn an in der Verfassung stand und auch praktiziert wurde. Das bayerische Volk hat auf dieser Grundlage Positionen der mit absoluter Mehrheit regierenden CSU immer wieder korrigiert. Das hat der Demokratie gutgetan. Als Beispiel nenne ich die Ersetzung der Bekenntnisschule durch die christliche Gemeinschaftsschule, die Sicherung der Rundfunkfreiheit, die Aufnahme des Umweltschutzes in die Verfassung, die Einführung des Bürgerentscheids auf kommunaler Ebene und zuletzt die klare und strenge Regelung des Rauchverbots. Alle Bundesländer haben inzwischen auf ihrer Ebene Volksentscheide ermöglicht.

Nun frage ich mich, warum das, was in allen Bundesländern praktiziert wird, auf Bundesebene unmöglich sein soll. Der Volksentscheid soll ja nicht das Parlament ersetzen, sondern die Gesetzgebungsmöglichkeit nur ergänzen. Außerdem besagt Artikel 20 des Grundgesetzes ja, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und dass es sie durch Wahlen und Abstimmungen ausübt. Der Parlamentarische Rat hat die Abstimmungen auf die Änderungen von Landesgrenzen beschränkt, weil er Missbräuche nach Art der in der Weimarer Zeit von den Nationalsozialisten im Zusammenhang mit der – übrigens gescheiterten Volksbegehren – betriebenen Hetze befürchtete. Aber eine solche Befürchtung kann doch heute, also fünfundsiebzig Jahre später, nicht mehr den Ausschlag geben. Deshalb ist es hoch an der Zeit, mit dem Artikel 20 des Grundgesetzes Ernst zu machen.

 

Das ist ein Appell, aber diesmal an die Regierenden und an das Parlament.

 

Ein Appell an die CDU, an die Union. Neuerdings habe ich ja einen wichtigen Bundesgenossen. In einer Talkshow, ich weiß nicht mehr in welcher, sagte Edmund Stoiber, ehemals bayerischer Ministerpräsident, er sei früher gegen das Plebiszit auf der Bundesebene gewesen, für das sich Herr Vogel eingesetzt habe. Jetzt teile er dessen Meinung. Vogel habe recht.

 

Jetzt, wo er nicht mehr regiert. Schade, schade!

 

Ja, aber seine Stimme hat doch in seinem Umfeld noch immer Gewicht.

 

Aber was würden Sie alles zur Abstimmung stellen? Hätten Sie die Einführung des Euro zur Abstimmung gestellt?

 

Das Parlament kann nicht Dinge zur Abstimmung stellen. Das muss aus der Mitte der Bürgerschaft betrieben werden. Wenn seinerzeit Leute beantragt hätten, den Euro abzulehnen, dann wäre das eine Initiative gewesen. Wären die entsprechenden Quoren erreicht worden, wäre anschließend ein Volksbegehren und danach ein Volksentscheid zustande gekommen. Das hätte mehrere Monate gedauert. Es wäre also genügend Zeit geblieben, das Für und Wider zu erörtern und die Gründe zu erläutern, die für den Euro sprechen. Da hätte auch ein Mann wie Helmut Schmidt Gehör gefunden. Manchmal wird nämlich so getan, als würde ein Volksentscheid, den man heute verlangt, morgen stattfinden. So ist das nicht. Es wird monatelang diskutiert. Und wenn gesagt wird, das Volk könne sich doch irren, dann sage ich, dass sich weiß Gott auch Parlamente geirrt haben. Und wenn andere behaupten, das Volk wisse nicht genügend Bescheid und sei zu emotional, dann könnte man mit diesem Argument ebenso die Wahlen in Frage stellen.

 

Allein diese Veränderung – ein Volksentscheid auf Bundesebene – würde dazu beitragen, dass der Bürger wieder das Gefühl hätte, er könne mitentscheiden, mitbestimmen? Sind Sie davon überzeugt, dass man mit dieser Möglichkeit die Politikverdrossenheit bekämpfen kann?

 

Es wäre ein Beitrag dazu, nicht das Allheilmittel.

 

Wieso nutzt die Regierung, die Politik nicht viel stärker das Internet als Kommunikationsmittel mit dem Bürger? Ohne das Internet hätte Guttenberg vermutlich noch heute sein Amt. Nur so kam schnell heraus, wie viel tatsächlich kopiert wurde. Anders gesagt: Es gibt einen Beteiligungswillen der Bürger, er ist erkennbar, er manifestiert sich unter anderem in den Medien, die nicht kontrolliert werden – und dazu gehört das Internet. Trotzdem tut man weiterhin so, als ob man große Entscheidungen in Hinterzimmern treffen könnte, im Zweifel vielleicht auch noch im Kabinett, aber nicht mehr unbedingt im Parlament. Warum ist das Ihrer Meinung nach so?

 

Zunächst einmal: Dass wichtige Vorhaben erst formlos vorbesprochen, dann in den Fraktionen erörtert und anschließend im Kabinett behandelt werden, ist doch völlig normal. Neu und für mich bedenklich ist der Umgang mit dem Parlament.

Das hat sich beim ersten Rettungsschirm gezeigt, beim zweiten Rettungsschirm, auch bei der Aussetzung der Wehrpflicht. Norbert Lammert, der Präsident des Bundestags, hat den Umgang mit dem Parlament in diesen Fällen ausdrücklich kritisiert. Dieser Kritik schließe ich mich an. Und ich dehne sie auf den Umgang mit den Atomgesetzen aus. Allerdings kann es Situationen geben, wo der Fristendruck aufgrund der konkreten Situation so stark ist, dass man mit den Entscheidungen nicht Wochen und Monate warten kann. Welche Rolle bei alldem für die Unterrichtung der Menschen und den Meinungsaustausch das Internet spielt, vermag ich – das erwähnte ich schon – als internetabstinenter Laie nicht zu beurteilen. Wahrscheinlich wächst seine Bedeutung auch in diesem Fall. Und für einen Textvergleich wie im Falle zu Guttenberg ist es allemal hilfreich.

 

»Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus« – nie war die Chance so hoch wie heute, das auch tatsächlich umzusetzen, und es wird nicht genutzt. Jedenfalls nicht ausreichend, gemessen an den Mitteln und Möglichkeiten, die man hat. Ich gebe Ihnen noch ein weiteres Beispiel, die Kandidatenkür: Als Steinmeier Spitzenkandidat der SPD wurde, als man sich für Herrn Stoiber und gegen Frau Merkel als Kanzlerkandidat(in) entschied, wie Horst Köhler letztlich als Bundespräsident ausgewürfelt wurde – all dies findet eigentlich ohne die Beteiligung der Bürger statt. Die dürfen nur noch abnicken. Die Parteien könnten doch ganz leicht die Kandidatenkür zu einer öffentlichen Sache machen, so wie es die Amerikaner auch tun. Der politische Wettkampf zwischen Hillary Clinton und Barack Obama hat dazu beigetragen, dass die Menschen sich wieder für Politik interessierten – und wir entscheiden so etwas in einem Einfamilienhaus in Wolfratshausen.

 

Dieses Verfahren, das Sie so kritisieren, hat immerhin Leute wie Adenauer, Brandt, Kohl, von Weizsäcker oder Schmidt und zuletzt Gerhard Schröder hervorgebracht. Auch alle anderen bisherigen Bundespräsidenten haben ihre Aufgabe sehr anständig erfüllt.

 

In einer anderen Zeit.

 

Aber die Vorgehensweise, die Sie kritisieren, gab es damals doch auch. Sind die Herren, die ich genannt habe, in Vorwahlen ermittelt worden? Haben die erst in der Partei mit einem anderen konkurrieren müssen?

 

Ich frage ja nur, ob man Dinge vielleicht ändern kann.

 

Man kann immer fragen. Aber so tun, als ob dieses Verfahren von vornherein versagt hat, ist falsch. Wenn es jetzt der Kritik ausgesetzt ist, dann muss man das ernst nehmen und muss es prüfen. Ob man das amerikanische Verfahren übernehmen kann, dazu müsste ich es mir ganz genau ansehen.

 

Es ist schwierig, es taugt als Ganzes nicht dafür.

 

Auch deswegen nicht, weil da jeder, also selbst Anhänger der populistischen Tea Party, plötzlich Einfluss darauf nehmen kann, dass bei den Demokraten der schwächere Kandidat aufgestellt wird. Das sind ganz merkwürdige Sachen.

 

Aber die SPD könnte sagen: »Nun gut, es gibt mehrere exzellente Kandidaten, wir lassen jetzt die SPD-Mitglieder entscheiden, ob Peer Steinbrück antritt oder Frank-Walter Steinmeier.« Damit würden die Sozialdemokraten den politischen Prozess eventuell beleben. Wäre das eine Überlegung wert?

 

Eine Überlegung ist es wert. Es hat positive wie auch negative Seiten. Sigmar Gabriel und Andrea Nahles haben darüber und über die Mitwirkung von Nichtmitgliedern eine Diskussion eröffnet. Da sollte man unter anderem auch prüfen, was es bedeutet, wenn ein solcher Wettbewerb damit endet, dass der eine Kandidat 55 Prozent und der andere 45 Prozent bekommt. Da könnten die anderen Parteien immerhin sagen: »Schaut her, den nominierten Kandidaten wollen nicht mal 45 Prozent der eigenen Leute.« Aber ein endgültiges Urteil ist das, was ich da gerade von mir gegeben habe, nicht. Sicher wäre es gut, den demokratischen Prozess zu beleben.

Jedoch könnte man in einem Punkt sofort etwas tun. Das ist meine alte Forderung, dass man bei der Bundestagswahl mit der Zweitstimme nicht eine Partei, sondern einen der auf der Liste vollständig aufgeführten Kandidaten wählen kann. Bislang ist es so, dass man mit der Zweitstimme auf Bundesebene nur eine Liste wählt und damit Leute, die man gar nicht kennen kann, weil bei den großen Parteien auf dem Wahlzettel nur die ersten fünf Namen stehen. Das könnte man sofort korrigieren. Übrigens gibt es noch immer die Möglichkeit, dass der Bürger in einer Partei mitarbeitet. Das ist ganz altmodisch, aber auch ein Weg, sich stärker einzubringen.

 

Die Parteien erscheinen einem doch als geschlossene Clubs.

 

Das ist ein ungerechtes Urteil. Kommen Sie mal in meinen Ortsverein. Ich lade Sie dazu ein.

 

Wie viele Menschen sind da anwesend, im Vergleich zu der Zeit, in der Sie noch aktiv waren?

 

Ich kenne den Ortsverein erst, seitdem ich im Augustinum wohne. Somit kann ich die Frage nicht beantworten. Das letzte Mal waren zwanzig Leute da, die lebhaft diskutierten. Vor sechzig Jahren in Freimann waren es auch nicht sehr viel mehr.

 

Sehen Sie gar keinen Neuerungsbedarf in der Art und Weise, wie Parteien zu gestalten sind?

 

Es gibt kaum ein Gebiet, wo ich nicht Erneuerungsbedarf sehe. Auch auf diesem Gebiet gibt es ihn. Aber eine generelle Deklassierung der Menschen, die sich in Parteien engagieren, als seien das alles Leute, die mit dem wirklichen Leben nichts zu tun haben, die andere fernhalten wollen und nur eigene Interessen verfolgen – das kann ich nicht nachvollziehen. Ortsvereine sind keine geschlossenen Vereine. Sie freuen sich sogar über jeden, der neu zu ihnen kommt.

 

Das habe ich auch nicht behauptet.

 

Wer ist dann der geschlossene Verein?

 

Die politischen Parteien präsentieren sich – und das gebe ich jetzt in der Tat als eine persönliche Einschätzung wieder – als sehr geschlossene Gesellschaften. Jedenfalls wirken sie nicht einladend, sie kommen nicht mit ausgebreiteten Armen auf den Bürger zu.

 

Es gab Zeiten, in denen die Einladung von der konkreten Situation ausging. Das war insbesondere bei Willy Brandt so, von 1969 bis 1972/73. Das schlug sich damals auch in den Beitritten nieder. Aber solche Zeiten lassen sich nicht einfach wiederholen. Es gibt eben auch Zeiten, in denen sich äußere Einflüsse anders auswirken. Und dieses generelle Urteil über die Parteien, dass sie geschlossene Clubs seien, kann ich nicht akzeptieren. Jeder kann ihnen beitreten, jeder kann sich zu Wort melden. Er kann – wenn er das anstrebt – schon bald als Delegierter auf einem Unterbezirksparteitag zum Beispiel seine Meinung äußern. Natürlich müssen die Parteien ihre Arme immer wieder ausbreiten. Aber kritische Fragen richte ich auch an diejenigen, die abseits bleiben, nur kritisieren und von diesen Armen gar keinen Gebrauch machen wollen.

 

Und am Ende kann man im Fernsehen erleben, wie die Fraktionsdisziplin dazu führt, dass der Abgeordnete seine Stimme nur so und nicht anders abgeben darf...

 

Wollen wir jetzt im Einzelnen über Fraktionsdisziplin reden? Dann muss ich wieder konkret werden. Zunächst stört mich, dass in den Medien stets von Fraktions»zwang« geredet wird. Haben Sie schon mal die Geschäftsordnung einer Fraktion gelesen? Die von der SPD zum Beispiel?

 

Da steht nichts von Zwang drin, das ist richtig.

 

In der Geschäftsordnung ist zu lesen, dass jemand, der eine Meinung hat, die von der der Mehrheit abweicht, mit dem Vorsitzenden reden soll. In der Praxis ist das jedenfalls zu meiner Zeit immer wieder geschehen. Es gab kaum eine Abstimmung ohne Abweichler. Was habe ich mit denen geredet! Ich habe gesagt: »Lieber Freund, handelt es sich bei der Sache um etwas, was im Wahlprogramm in Aussicht gestellt und versprochen worden ist?« Hatte es nichts mit dem Wahlprogramm zu tun, entfiel dieses Argument. Dann fragte ich: »Kannst du dir eine Situation vorstellen, wo du daran interessiert bist, dass alle mit dir stimmen?« Im Übrigen: Gegen die Währungsunion haben fünfundzwanzig Sozialdemokraten gestimmt, gegen den Einheitsvertrag dreizehn Unionsabgeordnete. Da kann man doch nicht sagen, überall Zwang und Disziplin. Dass eine Regierungspartei überlegt, was es bedeutet, wenn eine Gesetzesvorlage dieser Regierung wegen abweichender Stimmabgaben ohne Mehrheit bleiben würde – das ist doch naheliegend.

 

Wenn wir das Gefühl hätten, die Parteien seien attraktiv genug, müssten wir nicht darüber reden. Meine Beobachtung ist, dass die Anziehungskraft der Parteien in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Gründen abgenommen hat. Einmal, wie schon gesagt, weil der Markenkern für viele nicht mehr erkennbar war, für die Sozialdemokraten war die soziale Gerechtigkeit verloren gegangen, und bei der CDU wurde gerade in der jüngsten Vergangenheit gegen einige der konservativen Grundpfeiler verstoßen. Bei der FDP war ein Markenkern vor der Bundestagswahl 2009 nur im Sinne einer Verengung auf die Steuersenkung noch zu erkennen, mittlerweile wissen deren Wähler auch nicht mehr, wofür die Liberalen in der Regierung sind. Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt betrifft in der Tat die Möglichkeit, innerhalb der Parteien Einfluss nehmen zu können. Viele Parlamentarier beklagten sich über das Zustandekommen von Entscheidungen, darüber, dass die Chancen, sowohl im Parlament als auch in der Fraktion oder innerhalb der Parteigremien mit neuen Ideen nach vorne zu kommen, eingeschränkt sind. Wäre das nicht so, gäbe es einen Mitgliederüberschuss bei allen Parteien und nicht einen Rückgang.

 

Den Mitgliederüberschuss gibt es nicht, das räume ich ein, und das ist bedauerlich. Das hängt übrigens auch mit der demografischen Situation zusammen. Auch ist generell die Neigung gesunken, sich langfristig zu binden. Lieber engagiert man sich für oder gegen ein konkretes Projekt.

 

Ist die »Stuttgart 21«-Bewegung, die sich explizit außerhalb von Parteien manifestiert, nicht ein Hinweis dafür, dass es einen Erneuerungsbedarf gibt?

 

Ich will einmal versuchen, Ihre Kritikpunkte einzeln durchzugehen. Es stimmt, es gab Zeiten, in denen Parteien strahlender wirkten und mehr Anziehungskraft hatten, das ist nicht zu bestreiten. Aber solche Schwankungen sind ebenso in anderen Lebensbereichen nicht völlig auszuschließen. Sie sagten auch, die Leute glauben, sie könnten in der Partei nicht mitreden. Wie lang ist Manuela Schwesig Parteimitglied? Seit 2003. In acht Jahren schafft man es durch tüchtige Arbeit und durch entschlossenes Engagement, erst Ministerin und dann stellvertretende Parteivorsitzende zu werden. Auch Hannelore Kraft, Ministerpräsidentin in Düsseldorf, ist noch nicht sehr lange Parteimitglied.

Dann haben Sie behauptet, es würde alles in Hinterzimmern – im journalistischen Sprachgebrauch müsste jetzt noch von den »verschlossenen Türen« geredet werden – ausgemacht. Das ist in dieser allgemeinen Form ebenfalls nicht richtig. Entscheiden tun in wichtigen Fragen bei uns auf den verschiedenen Ebenen noch immer die Parteitage.

Und wenn Sie auf Schröder anspielen und die Markenkernverletzung – ich habe ja angedeutet, dass die Kommunikation in der Sache Agenda 2010, wie er selbst meinte, nur suboptimal war. Dann wäre sie – beispielsweise von den Gewerkschaften – auch nicht in Bausch und Bogen verdammt worden. Aber was ist denn mit dem Schröder, der nicht in den Irakkrieg gegangen ist? Was ist mit dem Schröder, der als Bundeskanzler den Atomausstieg vorangebracht hat? Ist das nicht anziehend?

 

Ich merke, an der Stelle kommen wir nicht richtig weiter.

 

Es besteht die Gefahr, dass wir uns wiederholen.

 

Dann wenden wir uns einem anderen Thema zu: Teilen Sie die Beobachtung, dass in den neunziger Jahren der Rechtsextremismus vor allem auf der Straße ein Problem war und dieses Gedankengut heute in vielen europäischen Ländern Eingang in die Regierungsarbeit gefunden hat und dort zum Problem wird?

 

Für die Bundesrepublik fällt mir kein konkretes Beispiel ein. Im Gegenteil, die demokratischen Kräfte sind einhellig gegen alle rechtsextremistischen Parolen und Aktivitäten. Auf der europäischen Ebene kann ich das nur punktuell beurteilen. So wird behauptet, dass der französische Präsident Nicolas Sarkozy solche Ideen in seine Aktionen deshalb aufgenommen hätte, um bei diesem Personenkreis Sympathien zu gewinnen. Und es ist nicht zu übersehen, dass in Frankreich rechtsorientierte Parteien, die ich nicht einfach mit der NPD vergleiche, neuerdings bei Wahlen zunehmen. Das ist dort schon länger der Fall.

In Ungarn hat dies bei den Wahlen 2010 zu einer Zweidrittelmehrheit der National-Konservativen unter Viktor Orbán geführt. Und zusätzlich erhielt die rechtsextremistische Jobbik-Partei 16,7 Prozent. Das hatte schon Wirkungen in der Gesetzgebung. Die Ungarn gaben sich eine neue Verfassung, wobei ich zögere, Dinge zu beurteilen, die ich nicht im Original gelesen habe. Aber die Meinung über einen Rechtsruck ist da ziemlich einheitlich.

Und nicht zuletzt hat der Ausgang der Wahlen 2011 in Finnland überrascht. Dass diese rechtspopulistische Partei, die Wahren Finnen unter Timo Soini, mit anti-europäischen Argumenten auf rund 19 Prozent kamen, das ist bei einem doch eher unaufgeregten Volk sehr erstaunlich. Das muss man im Auge behalten. Ebenso die in Dänemark verhängten schärferen Grenzkontrollen.

Dann zur Bundesrepublik: Bei uns würde ich sagen, dass wir verdammt wachsam bleiben müssen. Denn die Rechtsextremisten sind nach wie vor auf der Straße präsent. Sie versuchen seit einiger Zeit aber ebenso, in die Gesellschaft und ihre Institutionen einzudringen, und geben sich für diesen Zweck neuerdings nach außen hin gut bürgerlich. Auch sitzen sie noch in zwei Länderparlamenten, nämlich in Mecklenburg-Vorpommern und zum zweiten Mal in Sachsen. Gelegentlich sollte man sich auch daran erinnern, dass die NPD bei der Bundestagswahl 1969, also noch in der alten Bundesrepublik, insgesamt 4,3 Prozent erhalten hat und in sechs Landesparlamenten saß. Das muss man im Kopf behalten. Und man sollte nicht nur vom Staat fordern, dass er etwas gegen die Rechtsextremisten tut, sondern man sollte selbst etwas dagegen unternehmen. Aber erfreulich viele Bürger versammeln sich bei Gegendemonstrationen. Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass man die Voraussetzungen für einen Verbotsantrag schaffen sollte. Denn dass diese Leute durch die Parteienfinanzierung und auch in den Landtagen Steuergelder bekommen, das geht mir schon auf die Nerven. Bei unserer Geschichte müssen wir besonders sensibel und allergisch sein in dieser Richtung.

 

In den anderen europäischen Ländern nährt sich dieser rechtspopulistische Impuls aus der anti-europäischen Haltung. In Deutschland war das bisher nicht der Fall. Sehen Sie eine Entwicklung, in der sich die anti-europäische Haltung auch in Deutschland verstärken könnte? Wenn sich möglicherweise die Wohlstandsfrage anders stellt?

 

Zunächst verweise ich noch zusätzlich auf Holland. Bei den letzten Wahlen konnte dort die ausländerfeindliche Partei des Rechtspopulisten Geert Wilders beachtliche Erfolge verzeichnen.

 

Auch in Frankreich gibt es dieses Problem. Es hat unter anderem dazu geführt, dass Jean-Marie Le Pen, Gründer der rechtspopulistischen Front National, 2002, bei der vorletzten Präsidentenwahl, gegen Jacques Chirac, in die Stichwahl kam.

 

Und seine Tochter, Marine Le Pen, die ein völlig anderes Auftreten hat, wird vielleicht sogar noch weiter kommen.

 

Das darf man nicht leichtnehmen, und diese Situation gehört zum Thema Europa. Meiner Ansicht nach ist hierbei noch ein anderer Umstand von Bedeutung, auf den ebenfalls Jürgen Habermas hingewiesen hat. Er hat gesagt, dass wir noch viel zu wenig europäische Öffentlichkeit haben. Das Europäische Parlament, das durchaus sinnvolle Arbeit leistet, ist in der Wahrnehmung der Menschen nicht präsent. Und infolgedessen gibt es auch zu wenig Erwiderung auf diese von uns jetzt gerade kritisch betrachteten Kräfte, die die Euroskepsis schüren. In dieser Hinsicht herrscht eine Lücke. Immerhin gibt es den interessanten Gedanken von zwei Listen für die Europawahl, eine nationale und eine europäische. Ich würde mir gern näher anschauen, ob das helfen könnte.

Jetzt zu Ihrer Frage: Ja, aufpassen muss man auch hierzulande, denn bisher gingen diese europäischen Rettungsvereinbarungen mit einem Wachstum der Wirtschaft einher. Noch geht es den Menschen in Deutschland insgesamt besser, als sie es zur Zeit der Finanzkrise erwartet haben. Wenn sich dies verändert und wenn anstelle der Bürgschaften tatsächlich Zahlungen geleistet werden müssen, könnte auch bei uns die Stimmung kritisch werden. Nur ist es dann – verdammt noch einmal – Aufgabe aller, die diesen europäischen Weg und damit die Rettung oder die Stabilisierung des Euro unterstützen, zu kämpfen. Was wäre denn die Alternative? Man kann ihnen nur sagen: »Glaubt ihr, es geht euch allen besser, wenn der Euro platzt? Wenn wir wieder eine eigene nationale Währung haben? Könnt ihr wirklich sagen, dass wir einundachtzig Millionen Menschen mit unserer Währung uns dann weltweit gegen den Dollar, gegen den chinesischen Renmimbi behaupten können? Und was bedeutet das alles für unseren Export? «

 

Können Sie den Impuls verstehen, dass die Menschen angesichts der zunehmenden Zahl der Fragen, die nicht mehr national entschieden werden können, sagen: »Wir wollen das alles nicht. Wir wollen lieber in den kleineren, übersichtlicheren Einheiten leben«?

 

Dass mehr und mehr Entscheidungen notwendigerweise auf der europäischen, auch auf der globalen Ebene getroffen werden müssen, ist eine ernste Herausforderung. Selbst für politisch interessierte Menschen – ich lasse das auch für mich gelten – ist es dadurch schwieriger geworden, zu sehen, wo die Entscheidungen vorbereitet werden und wer für sie verantwortlich ist. Und es mindert den Einfluss der nationalen Parlamente. Bisher war das nationale Parlament für alle wesentlichen Dinge da. Das nimmt ab, und Wichtiges verlagert sich auf das Europäische Parlament. Weltparlamente haben wir noch nicht, stattdessen den Sicherheitsrat, den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank. Das alles zu durchschauen und den Menschen nahezubringen ist eine harte Aufgabe. Ich würde mir wünschen, da bin ich wieder bei Habermas, dass die öffentliche Wahrnehmung der europäischen Institutionen stärker wird. Das ist aber nicht nur eine Aufgabe der Politiker, es ist auch eine der Medien.

Es gibt Fälle, wo die Europäische Kommission Dinge regeln will, die sie in Gottes Namen bleiben lassen sollte. Damit meine ich die berühmten Beispiele, die Edmund Stoiber einmal aufgezählt hat, die freie oder nicht freie Krümmung der Gurken etwa. Wenn der Euro auf Dauer stabil bleiben soll, müssen die Europäische Kommission und das Parlament noch mehr Sachen anpacken. Denn man kann nicht eine gemeinsame Währung erhalten, ohne dass es eine einigermaßen gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik gibt. Wir brauchen ebenso eine gemeinsame Außenpolitik, sonst geht manche Entwicklung über uns hinweg. Wir Europäer müssen zudem realisieren, dass wir schon längere Zeit nicht mehr der Mittelpunkt der Welt sind.