Über vorausschauende Politik, das Leben in einem Altersheim und eine Ode an die Freude

Die Wirtschaftsweisen haben der Kanzlerin empfohlen, schrittweise die Rente mit achtundsechzig einzuführen, ab 2060 sogar die Rente mit neunundsechzig. Ist es Ihrer Meinung nach unvermeidlich, dass man diese Schritte immer weiter vollzieht?

 

Meine Neigung, mir über solche Fragen für das Jahr 2060 den Kopf zu zerbrechen, ist nicht sehr ausgeprägt. Jetzt haben wir zunächst einmal die Rente mit siebenundsechzig, die ab 2012 bis zum Jahr 2029 in vielen kleinen Schritten realisiert wird. Es ist in Ordnung, wenn die Sachverständigen der Ansicht sind, dass man sich aufgrund der demografischen Probleme rechtzeitig Gedanken machen sollte. Aber lassen sich die hier maßgebenden Fakten wirklich schon für das Jahr 2060 zuverlässig prognostizieren? Wie viele gegenwärtige Entwicklungen haben wir denn schon 1960 konkret vorausgesehen?

 

Warum sind Sie so ungehalten? Das ist doch eine Frage der politischen Planung.

 

Ich bin doch nicht ungehalten. Ich bin nur der Meinung, dass man nicht jede Kommissionsempfehlung mit einer Zeitspanne von fast fünfzig Jahren sofort zum Gegenstand von konkreten rechtlichen Überlegungen machen muss. Es ist gut, wenn wieder einmal darauf hingewiesen wird: »Ihr werdet älter, ihr habt weniger Arbeitskräfte, ihr habt einen Mangel an Facharbeitern, ihr habt ein Finanzierungsproblem, wenn Rentner, die früher durchschnittlich neun Jahre in der Rente lebten, nun rund achtzehn Jahre Rente beziehen, und die jungen Generationen zahlenmäßig schwächer werden.« Aber was kann sich bis dahin nicht noch alles ändern? Ist das einigermaßen kalkulierbar?

 

Und ich hätte gedacht, das wäre vorausschauende Politik und es wäre richtig, darüber zu reden.

 

Ja, das ist auch richtig. Man soll darüber reden. Aber jetzt schon zu sagen: 2060 muss das Renteneintrittsalter exakt bei neunundsechzig Jahren liegen – das geht mir zu weit.

 

Aber die Rente mit siebenundsechzig haben Sie doch mit großer Vehemenz vertreten, auch gegenüber der eigenen Partei, die eine Weile anderer Meinung war ...

 

Ich halte das für richtig, weil es dem Alterungsprozess entspricht. Allerdings immer mit der Maßgabe, dass die Betroffenen in ihrem Beruf körperlich so lange arbeiten können und dass die Älteren insgesamt auch wirklich Arbeit finden. Da muss noch einiges geschehen.

 

Wann haben Sie das erste Mal gedacht: Ich werde alt?

 

Da denke ich jetzt mal einen Moment nach. Wahrscheinlich bei einer Bergwanderung, als mir plötzlich Dinge Schwierigkeiten machten, die früher selbstverständlich waren. Vielleicht sogar in Südtirol, bei einer Tour auf den Schlern hinauf. Das kann das erste Mal gewesen sein.

 

Wie alt waren Sie da?

 

Ende sechzig, Anfang siebzig. Na ja, und dann macht man natürlich neue medizinische Erfahrungen, die einem deutlich zu verstehen geben, dass man älter wird. Die will ich hier aber nicht aufzählen ...

 

Aber Anfang siebzig bei einer Bergtour die erste Feststellung zu machen, dass man älter geworden ist, ist doch ein großes Glück, oder?

 

Ja – ich gehöre nicht zu den Menschen, die gern jammern oder sich gar beschweren.

 

Als sie 1994 aus dem Bundestag ausschieden, waren Sie achtundsechzig. Wenn Sie sich in diese Zeit zurückversetzen, sagen Sie, das war höchste Zeit gewesen?

 

Nein. Meine Absicht war, selbst über meinen beruflichen Schlusspunkt zu entscheiden. Ich wollte gehen, solange meine Kollegen und die Menschen, die mich kennen, das noch bedauern. Nie wollte ich in eine Situation kommen, in der man das Stöhnen der anderen – »Jetzt ist der Kerl immer noch da« – nicht mehr überhören kann. Und das ist mir in all meinen Funktionen gelungen – auch mit dem Ausscheiden aus der Politik, aus dem Bundestag. Achtundsechzig, das ist doch eine ganz diskutable Jahreszahl!

 

Zumal Sie gerade in den letzten vier Jahren davor sowohl den Fraktions- als auch den Parteivorsitz innehatten. Diese Ämter kann man nicht gerade als Schongang bezeichnen, sie bedeuten ein Maximum an Arbeitsbelastung. Hatten Sie damals das Gefühl, Körperkraft und Lebensalter waren in etwa in einer Linie?

 

Schongänge waren in meinem Leben überhaupt verhältnismäßig selten. Wenn man die Aufgaben betrachtet, die ich nacheinander wahrgenommen habe, dann waren da eigentlich nie ruhige Momente dazwischen. Und das gilt ebenso für die letzten Jahre. 1991 habe ich zuerst den Parteivorsitz an Björn Engholm weitergegeben und anschließend, ein halbes Jahr später, den Fraktionsvorsitz an Hans-Ulrich Klose. Körperlich wäre ich schon noch in der Lage gewesen, weiterzumachen. Aber ich wollte eben den Schlusspunkt selbst setzen und eine vernünftige Nachfolge ermöglichen.

 

Unterschätzt man die Arbeitskraft der über Sechzigjährigen?

 

Ich glaube, dass sich in dieser Beziehung inzwischen einiges geändert hat. Wenn ich an die sechziger, siebziger Jahre denke, da meinte man vielleicht noch, dass die Arbeitskraft ab sechzig abnehmen würde. Aber ist das heute noch so? Ich habe den Eindruck, dass viele Sechzig- bis Siebzigjährige noch zum aktiven Lebensabschnitt, jedenfalls zu den jüngeren Alten gehören.

Auch deshalb wünschte ich mir, dass die über Sechzigjährigen, die momentan schon rund 25 Prozent der Wahlberechtigten und einen noch höheren Prozentsatz derer, die tatsächlich zur Wahl gehen, ausmachen, stärker im Parlament vertreten wären. Und zwar nicht in der Form, dass einer, der schon Abgeordneter ist, dort einfach noch weiter bleibt. Sondern dass Leute, die ihr Berufsleben abgeschlossen haben, für zwei oder auch drei Legislaturperioden kandidieren und auf diese Weise ihre umfassende Lebenserfahrung und ein höheres Maß an Unabhängigkeit in die Parlamente einbringen. Das könnte der Politik guttun.

 

Ich höre aus der Ferne die jungen Leute à la Junge-Union-Vorsitzender Philipp Mißfelder rufen: »Die sind doch jetzt schon alle so alt im Parlament und entscheiden auch noch über unsere junge Generation.«

 

Schauen Sie sich die Prozentsätze der einzelnen Jahrgänge an – Sie werden feststellen, dass die Siebzigjährigen höchstens zwei Prozent ausmachen.

 

Sie haben sich vor ein paar Jahren entschieden, in das Augustinum zu ziehen. Ist das Leben in diesem Haus so, wie Sie es sich vorgestellt haben?

 

Unsere Erwartungen sind völlig erfüllt worden. Weil meine Frau zwei längere Klinikaufenthalte absolvieren musste, war es beispielsweise für mich und meine Versorgung sehr vorteilhaft, dass ich im Augustinum wohnte. Zwei Dinge waren für unsere Entscheidung besonders wichtig. Einmal, dass man als Pflegefall in seiner eigenen Wohnung gepflegt und nicht irgendwohin verlegt wird. Und zum anderen gibt es viele Angebote, die man in Anspruch nehmen kann, aber nicht nehmen muss. Das Mittagessen im Restaurant zum Beispiel. Manche denken, ein Altenwohnheim ist noch immer eine Art Unterbringung mit gemeinsamen Aufenthaltsräumen und gemeinsamen Schlafsälen. Das ist ganz falsch. Tatsächlich hat man seine eigene Wohnung und macht hinter sich die Tür zu wie in früheren Wohnungen auch. In unserem Fall konnten wir alle unsere sozialen Kontakte mitnehmen. Zudem herrscht eine angenehme Atmosphäre. Wir sind sehr zufrieden.

 

Was, wenn Sie es überhaupt öffentlich äußern würden, entspricht im Augustinum nicht dem, was Sie sich für Ihr Leben vorstellen?

 

Da müsste ich jetzt wirklich erst länger nachdenken.

 

Hat man vielleicht weniger Privatsphäre?

 

Warum?

 

Na ja, in dem Moment, in dem man den Aufzug verlässt, muss man auch durch Gemeinschaftsräume gehen, bis man draußen ist. Es gibt einen Empfang, Sie können nicht mehr nachts unbeobachtet die Wohnung verlassen.

 

Das ist ohne Weiteres möglich, weil es mehrere Ausgänge gibt. Außerdem, wenn Sie in einem großen Mietshaus leben …

 

Da interessiert sich doch keiner für den anderen.

 

Kommt drauf an. Da ist das Interesse manchmal größer, als man es gern hätte.

 

Gibt es einen Verlust von Privatsphäre, weil man als prominentes Paar in einem solchen Haus wohnt?

 

Ich wüsste nicht. Wir können jederzeit die Tür hinter uns zumachen und sind dann völlig für uns. Wir brauchen nicht zum Mittagessen zu gehen, wenn wir nicht wollen. Meine Frau kann, wenn sie mag, auch selbst etwas kochen. Wir sind auch nicht in dem Sinne unter Aufsicht, dass dauernd nachgeschaut wird, ob wir noch da sind. Es gibt ein reiches Angebot an kulturellen Veranstaltungen, zu denen man hingehen kann, man muss es aber nicht. Und es lassen sich im Haus Dinge ganz einfach erledigen, die sonst mit einigen Anstrengungen verbunden wären. Ist etwa ein Handwerker notwendig, ruft man beim Empfang an, und schon kommt der. Und wenn das Mineralwasser ausgegangen ist, kann man in einem kleinen Laden, der vormittags offen ist, Nachschub holen. Mir fällt nichts Negatives ein.

 

Nehmen Sie die Abwesenheit von jüngeren Menschen wahr?

 

Ja, das schon. Immerhin hat sich durch zwei neue Häuser, die vor kurzem bezogen wurden, das Durchschnittsalter etwas gesenkt – es wohnen hier mehr frühe Siebziger. Aber weil die Besucher sie mitbringen, begegnet man auch Kindern in größerer Zahl. Auch sind die Pflegerinnen und Pfleger und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter insgesamt meist jüngere Menschen. Außerdem liegt direkt daneben ein Studentenwohnheim mit etwa zweihundert Bewohnern aus allen Teilen der Welt, darunter viele Japaner und Chinesen.

 

Wahrscheinlich ist es eine psychologische Hürde, die viele davon abhält, einen solchen Schritt zu tun: Man denkt, es könnte der letzte Umzug im Leben sein. War das ein Gedanke, an den Sie sich gewöhnen mussten ?

 

Meine Frau und ich haben darüber gesprochen. Aber da wir vierzehn oder fünfzehn Umzüge hinter uns hatten, war die Vorstellung, dass dies der letzte ist, eher tröstlich als aufregend.

 

Die Wohnung wird kleiner – mussten Sie viel zurücklassen?

 

Tatsächlich reduzierten wir uns annähernd auf die Hälfte unserer vorherigen Wohnfläche. Wir mussten Möbel aufgeben, das war aber kein wirkliches Problem. Probleme machte mir nur die Reduzierung meines Buchbestands auf etwa ein Drittel. Das war schwierig, denn ich habe zu Büchern ein persönliches Verhältnis. Die ich nicht mitnehmen konnte, stellte ich der Stadtbibliothek zur Verfügung. Ich bringe es nicht fertig, Bücher wegzuwerfen.

 

Hat die Stadtbibliothek jetzt eine Vogel-Abteilung?

 

Nein, das nicht. Die verwenden diese Bücher ganz normal.

 

Es ist ohnehin eine Lehre, die man im Leben lernen muss, sich von etwas zu trennen, sei es die Gesundheit, die Jugend, die Lieben?

 

Manchmal wächst einem auch etwas zu. Aber die Fälle, bei denen man sich von etwas oder von jemandem trennen muss, wiegen schwerer.

 

Was hilft Ihnen, Abschiede zu überwinden?

 

Das Wissen, dass das zur menschlichen Natur gehört. Wenn wir Roboter wären, wäre das vielleicht anders.

 

Das Wissen ist das eine, etwas anderes, sich mit dem Gedanken anzufreunden.

 

Man muss sich nicht unbedingt mit diesem Gedanken anfreunden. Aber es ist wichtig, die Endlichkeit als Realität anzusehen. Man sollte sich dadurch auch nicht in eine Abwehrhaltung drängen lassen und sagen: »Darüber rede ich nicht!« Und natürlich hilft mir hierbei wieder der christliche Glaube. Ob man mit dem Tod wirklich ein für alle Mal ein Ende findet oder ob es eine Fortexistenz der Seele, vielleicht sogar eine körperliche Fortexistenz gibt, das ist etwas, worüber man dann nachdenken kann. Man muss sich aber mit dem Tod in einer sinnvollen Weise auseinandersetzen.

 

Was wäre eine sinnvolle Weise?

 

Eine, bei der man die Augen nicht vor der Realität verschließt. Dazu gehört auch, Vorsorge zu treffen. Ein Testament zu machen. Eine Patientenverfügung zu treffen. Gerade diese letzten Entscheidungen sollte man nicht von sich wegschieben, sondern selbst treffen, eben selbstbestimmt leben – und das gerade auch im Alter. Aber jetzt mache ich ungewollt Werbung für ein Buch meiner Frau, das diesen Titel trägt.

 

Eine Nichtgläubige, wie ich es bin, findet es schwierig, eine naturwissenschaftliche Annahme unseres Daseins mit der religiösen Vorstellung, der Tod sei nicht das definitive Ende, zusammenzubringen. Ist ein Leben nach dem Tod für Sie eine realistische Vorstellung?

 

Ja. In dieser Beziehung stelle ich aber keine gesicherten Behauptungen auf. Aber ich nehme darauf Bezug, dass diese Vorstellung ein Kernelement meiner Religion ist, dass sie über Jahrtausende Geltung beansprucht hat. Wobei auch in anderen Religionen das Weiterleben nach dem Tode in der einen oder anderen Form ein Bestandteil ist. Und darum sage ich: Ein Weiterleben nach dem Tode ist nicht Bestandteil dessen, was ich beweisen kann, sondern dessen, was ich glaube. Und da setzt eben die Religion meinem Verstand Grenzen. Ich weiß eben, dass ich das mit Verstandesargumenten nicht beweisen kann. Nur die Religion kann Antwort geben.

 

Nicht der Verstand setzt der Religion Grenzen, sondern umgekehrt?

 

Ja. Aufgabe des Verstandes ist es, die Religion von menschlichem Beiwerk zu reinigen. Und damit hat er eine Menge zu tun.

 

Haben Sie eine konkrete Vorstellung vom Weiterleben nach dem Tod?

 

Nein. Diese Vorstellungen sind vielfältig und unbestimmt.

 

Ist es einfach nur Hoffnung?

 

Es geht um Glauben.

 

Wie gut ist ein Heim wie das Augustinum im Umgang mit dem Tod?

 

Sehr gut. In den Wohnungen von Verstorbenen wird noch am selben Tag oder am nächsten Morgen eine Andacht abgehalten, zu der die Familienangehörigen, die Nachbarn und die nächsten Bekannten kommen. Dann ist der weitere Umgang insofern rücksichtsvoll, als die Särge zu nächtlicher Stunde aus dem Hause gebracht werden. Einmal im Jahr ist ein Gottesdienst, bei dem aller Verstorbenen gedacht wird. Man stellt für sie Kerzen auf und verliest die Namen. Das ist ein von christlichen Vorstellungen geprägter Umgang mit den Toten. Außerdem liegt im »Raum der Stille« ein Buch aus, in das jeweils die aktuellen Todesfälle eingetragen werden. Manche von ihnen kennt man. Es sterben ja auch Menschen, mit denen man lange am selben Tisch zu Mittag gegessen hat.

 

Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand stirbt, erhöht sich in dem Moment, wenn viele ältere Menschen zusammenleben.

 

So ist es.

 

Ist das ein Gedanke, an den Sie sich gewöhnen mussten?

 

Meine Frau und ich wussten, dass dies so sein würde. Es leben dort über sechshundert Menschen, und bei den erwähnten Gedenkgottesdiensten wurde in letzter Zeit immer an rund sechzig Verstorbene gedacht.

 

Bezieht man die Namen auf sich? Überlegt man, irgendwann wird einmal mein eigener Name verlesen?

 

Ja, sicher. Es ist nicht so, dass wir stündlich darüber nachdenken. Bewusst ist uns das aber schon.

 

Man kann im Augustinum nur in eine Wohnung ziehen, wenn der Vormieter gestorben ist. Das ist eine Besonderheit ...

 

Es gibt exzeptionelle Fälle, in denen ein Bewohner tatsächlich wieder ausgezogen ist, aus welchen Gründen auch immer. Aber der Normalfall ist, dass die Wohnung nach dem Tode des Vormieters neu hergerichtet wird und dann der Nächste einzieht.

 

Die Scheu, in ein solches Haus zu gehen, hat sicher etwas mit Verdrängung zu tun. Viele sagen sich: »Das genau ist der Schritt, der mich zum Letzten führt, und das möchte ich möglichst lange von mir fernhalten.«

 

Es stimmt. Für viele Menschen ist eine solche Konfrontation nicht einfach und bedarf wiederholter Anstöße zum Nachdenken und Überlegen. Aber ich kann nur sagen: Alle Menschen sind gut beraten, wenn sie diese Entscheidung rechtzeitig und für sich selbst treffen. Es ist Flucht, wenn man es anderen oder dem Zufall überlässt. Man hat auch eine Verantwortung sich selbst gegenüber.

 

Zwei Namen möchte ich in diesem Zusammenhang zur Sprache bringen, weil sie vielleicht etwas darüber sagen, wie gesellschaftlich mit diesem Thema umgegangen wird. Der eine Name ist Gunter Sachs, er verübte im Mai 2011 Selbstmord – aus Angst, eine Krankheit wie Alzheimer zu bekommen, obwohl er offensichtlich noch keine offizielle Diagnose hatte. Viele haben dieser Tat gegenüber Respekt bekundet, meinten, Sachs hätte sich diesen Schritt wohl überlegt und damit seine Würde behalten. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie davon hörten?

 

Ich will eine kühne Frage aufwerfen: Zerstören denn alle Menschen, die unter Alzheimer leiden und sich nicht selbst umbringen, ihre eigene Würde? Es mag im Sterben Situationen geben, bei denen die Palliativmedizin nicht mehr hilft und es deshalb sinnvoll erscheint, diesen Prozess zu verkürzen. Das würde ich aber nicht Selbstmord nennen – eine solche Verkürzung des Sterbeprozesses sieht ja auch die Patientenverfügung als Möglichkeit vor. Bestimmungen können ebenso für unheilbare Zustände, etwa für bestimmte Koma-Fälle, getroffen werden. Ob der Mensch allerdings über sein eigenes Leben frei verfügen sollte, nach seiner Einschätzung und nach seiner Willkür, da mache ich ein Fragezeichen. Keineswegs will ich mich über Menschen erheben, die in ihrer Verzweiflung so handeln – ich selbst habe Fälle dieser Art erlebt. Aber ich habe Probleme damit, generell zu sagen, dass man jederzeit über das eigene Leben nach Gutdünken verfügen kann.

 

Worüber denn sonst? Das ist letztlich die einzige Macht, die man dann noch hätte, nämlich das eigene Leben so zu beenden, wie man es sich vorstellt: Das ist doch etwas, was man eigentlich niemandem absprechen kann, oder?

 

Ich habe von einer generellen Meinung gesprochen. Natürlich kann jeder sein Leben beenden, wann immer er will, selbst wenn er kerngesund ist oder gerade Ärger gehabt hat. Das ist ja nicht strafbar. Aber nach meiner Einschätzung ist der Mensch auch in dieser Beziehung nicht die allerletzte Instanz. Weiterhin bitte ich zu bedenken, dass ein Selbstmord nicht nur den Betreffenden angeht, sondern ebenso seine Umgebung, seine Familie sehr berühren kann. Deshalb habe ich Bedenken dagegen, die Selbsttötung als etwas Alltägliches, ja als etwas Normales zu betrachten.

 

Neben Gunter Sachs möchte ich das Ehepaar von Brauchitsch erwähnen. Der frühere Flick-Manager Eberhard von Brauchitsch und seine Frau Helga sind 2010 nach Zürich gegangen, weil es dort eine Sterbehilfeorganisation gab – mit Namen Exit –, die ihnen in einer Situation helfen konnte, die ihnen ausweglos erschienen war. In der Todesanzeige stand, sie hätten mit großer Geduld und Disziplin ihre schweren Krankheiten ertragen. Als sie nach achtundfünfzig Ehejahren gemeinsam den Freitod wählten, waren beide dreiundachtzig. Dazu mussten sie in die Schweiz fahren, weil es in Deutschland keine solche Organisation gibt. Finden Sie das richtig?

 

Ja. Das entspricht unserem rechtlichen Zustand. Und das Ganze auch noch zum Gegenstand von Kommerz zu machen – die Betreiber dieser Schweizer Sterbehilfeunternehmung tun das ja nicht unentgeltlich –, entspricht erst recht nicht meinen Vorstellungen. Aus diesem Grund möchte ich nicht, dass es in der Bundesrepublik Geschäftsunternehmen gibt, die Leute auf deren Wunsch töten.

 

Das verstehe ich. Aber wenn ein schwerkrankes und verzweifeltes Paar keine andere Möglichkeit sieht und alle beide nicht ihrer Familie zur Last fallen wollen, dann macht man doch erst die Tür auf für kommerzielle Anbieter …

 

Was heißt denn zur Last fallen wollen? Ist das Paar Brauchitsch von seinen Angehörigen gepflegt worden?

 

Frau von Brauchitsch litt an stark fortgeschrittenem Parkinson, Herr von Brauchitsch an einem Emphysem, einer Überblähung der Lunge durch Luft. Beide haben, so beschrieb es die Familie, ihr Leiden über Jahre ertragen, dann konnten sie nicht mehr.

 

Dennoch: Ich bin gegen Sterbehilfeorganisationen. Insbesondere der kommerzielle Gesichtspunkt ist für mich inakzeptabel. Dass Leute Geld verdienen, indem sie anderen bei der Tötung behilflich sind … Nochmals: Das akzeptiere ich nicht.

 

Ärzte darum zu bitten, ist auch keine Möglichkeit, sie würden sich strafbar machen. Es gibt keinen Ausweg für jemanden, der in Deutschland einen sucht. Was würden Sie empfehlen?

 

Wenn der Arzt den Kranken entsprechende Medikamente zur Verfügung stellt und der Betreffende sie aus eigenem Entschluss zu sich nimmt und dadurch stirbt, so handelt der Mediziner nicht strafbar. Aber unabhängig davon geht es um die berufsethische Frage: Ist es die Aufgabe des Arztes zu heilen oder soll er auch bei Tötungen mitwirken?

 

Sie haben ein Unwohlsein dabei?

 

Ich stimme der Entschließung der Mitgliederversammlung der Bundesärztekammer zu. Im April 2011 sagte Kammerpräsident Dr. Theodor Windhorst: »Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung widerspricht den ethischen Grundsätzen unseres ärztlichen Selbstverständnisses.«

 

Das Ehepaar von Brauchitsch hätte im Prinzip sein Leid weiter ertragen sollen?

 

Ich kenne die genauen Umstände nicht und will mir deshalb in diesem Fall kein Urteil anmaßen. Aber unterschied sich ihre Lebenssituation wirklich von der, in der sich Tausende, ja Zehntausende von Menschen ihrer Generation befinden?

 

Ich wollte von Ihnen wissen, was Menschen machen können, wenn sie an einer nicht heilbaren Krankheit leiden, mit der Aussicht auf lange, möglicherweise nicht mehr bewusst erlebte Pflege?

 

Hier ist wieder eine Einladung fällig: Besuchen Sie mit mir das Sanatorium Schwindegg. Das ist eine Einrichtung des Augustinums, in der Menschen leben, die schwer an Demenz und Alzheimer erkrankt sind. Ich war selbst überrascht, welche Lebensfreude sie noch erkennen ließen. Es hilft, wenn man sich das mal selbst ansieht. Aber dass es durchaus Fälle gibt, die problematisch sind, das will ich nicht bestreiten. Und ich will auch meine Meinung nicht anderen einfach auferlegen.

 

Auch das kann ich verstehen. Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, befürchtete im Mai 2011 einen Pflegenotstand für Deutschland. Man meinte, eine Warnung sei angebracht, denn hierzulande würden wir im Vergleich zu anderen OECD-Ländern – betrachtet man die Ausgaben, die wir für die Pflege von Menschen aufwenden – im unteren Drittel liegen. Auch die Zahl der Pflegekräfte sei bedauernswert gering, sie befinde sich ebenfalls im unteren Drittel. Ganz vorne rangieren demnach die skandinavischen Länder. Was muss denn passieren, damit wir ein menschenwürdiges Altern garantieren können? Gerade angesichts der Tatsache, dass wir immer älter werden? Wie können wir eine vorbildliche und bezahlbare Pflege für alle garantieren, die unter Demenz leiden ?

 

Zunächst einmal muss das gesellschaftliche Ansehen des Pflegeberufs deutlich steigen, etwa auf das skandinavische Niveau. Das betrifft zum einen die Vergütung, zum anderen aber das öffentliche Ansehen. Es muss deutlich werden, dass es bei der Pflege nicht nur um körperliche Aktivitäten wie Waschen und Füttern geht, sondern auch um menschliche Zuwendung. Und natürlich muss die Zahl derer, die sich hier an Ort und Stelle diesem Beruf zuwenden, zunehmen. Ohne die bei anderen Gelegenheiten immer wieder verteufelten Zuwanderer wäre die Situation übrigens noch kritischer. Das Ganze erfordert natürlich einen höheren finanziellen Aufwand. An dieser Stelle ist für mich wieder der Gedanke der Bürgerversicherung wichtig. Ebenfalls sollten wir uns vor Augen halten, dass der Anteil der Sozialausgaben am Gesamtbruttosozialprodukt trotz der Alterung unserer Gesellschaft nach einer Erhebung der OECD nicht gewachsen, sondern gleich geblieben ist. Also könnte man steuerliche Mittel in höherem Umfang als bisher in diesen Bereich lenken. Weiterhin muss man die Menschen an ihre Eigenverantwortung für ihre Altersvorsorge erinnern. Und der Staat fördert diese Vorsorge ja schon jetzt. Stichworte »Riester-Rente« und »Rürup-Verträge«.

 

Wie wollen wir in Zukunft leben? Was wären da Ihre Kriterien?

 

Das sind zunächst einmal die Kriterien, die sich aus der Wertordnung und dem Menschenbild unseres Grundgesetzes ergeben und über die wir ja schon gesprochen haben. Also beispielsweise die Freiheit und die Gerechtigkeit. Wir wollen und sollen in Freiheit leben. Dabei geht es nicht nur um die Freiheit »wovon«, sondern auch um die Freiheit »wozu«. Und wir wollen, dass wir gerecht behandelt werden.

Ich füge aber noch einige ganz konkrete Elemente hinzu. Sie lauten: in Frieden leben, eine sinnvolle Arbeit haben, von der man existieren kann und die einem Selbstbewusstsein gibt, vor Kriminalität und Gewalt sicher sein, gesund sein und bis ins Alter bleiben, in einer intakten Familie und seiner sozialen Umgebung Geborgenheit finden. Und sich selbst für seine Mitmenschen und das Gemeinwesen engagieren.

 

Wohlstand für alle habe ich jetzt nicht gehört.

 

Der ergibt sich, wenn alle arbeitsfähigen Menschen wirklich Arbeit haben und vom Ertrag ihrer Arbeit leben und sogar etwas zurücklegen können.

 

Sie sind ein Anhänger der Idee des Grundeinkommens?

 

Nein, das bin ich nicht. Ich bin ein Anhänger der Grundsicherung für diejenigen, die bestimmte Lebenslagen nicht aus eigener Kraft meistern können. Aber dass jeder Mann, jede Frau einfach einen Grundbetrag bekommt, der zum Leben ausreicht, und dann frei entscheiden kann, ob er arbeitet oder ob er nicht arbeitet – das ist mit meinen Vorstellungen von einem sinnvollen Leben und einer sinnvollen Sozialordnung nicht vereinbar. Außerdem: Wie soll ein derartiges Grundeinkommen eigentlich finanziert werden?

 

Sie haben in unseren Gesprächen auch die Grenzen des Wachstums angesprochen. Wenn man diese und die Klimakatastrophe zusammen sieht – glauben Sie, dass wir in Zukunft auf einen Teil unseres Wohlstands verzichten müssen? Bisher heißt es nur, wir müssen gar nicht verzichten, wir dürfen nur nicht weiter wachsen. Aber müssen wir vielleicht doch Verzicht üben? Wäre es an der Zeit, das einmal zu sagen?

 

Schon mit den Auswirkungen der Klimaentwicklung sind Grenzen erreicht worden, die Verzichte verlangen. Inwieweit wir in der Lage sein werden, durch technische Anstrengungen für diese Ausgleiche zu schaffen – Stichworte »Effizienzsteigerung«, »erneuerbare Energien« oder »Elektromobil« –, bleibt abzuwarten. Verzichte können auch dadurch notwendig werden, dass Schwellenländer ihren Lebensstandard an den unseren angleichen. Etwa die Zahl der Autos pro hunderttausend Einwohner auf unseren Stand erhöhen. Da wird es letzten Endes um einen globalen Ausgleich gehen, bei dem zugleich die Klimabelastung sinkt. Eine Herkulesaufgabe!

 

Sie haben die Hitlerdiktatur erlebt, den Krieg und das Nachkriegsdeutschland, dennoch habe ich das Gefühl, Sie können auf ein erfülltes und ein sinnvoll geführtes Leben zurückblicken. Wird ein junger Mensch heute, mit einer ähnlich langen Lebensspanne, es schwerer haben als Sie?

 

Er wird es mit anderen Voraussetzungen und anderen Herausforderungen zu tun haben als ich. Unsere waren nach 1945 zunächst ganz elementar. Ich würde ihm sagen: »Schau, die zwei Generationen vor dir sind in einer Art und Weise mit ihrer Situation fertig geworden, wie sie es am Anfang selbst gar nicht für möglich gehalten haben. Schöpf daraus Zuversicht, dass ihr das auch schaffen werdet. Macht es ein bisschen wie wir. Steht nicht gleichgültig herum, sondern engagiert euch. Vieles wird anders sein, vieles wird auf der globalen Ebene gelöst werden müssen. Ihr werdet mit neuen Techniken zurechtkommen, und ihr werdet damit leben müssen, dass ihr Grenzen erreicht habt, die für uns noch in weiter Ferne lagen. Aber kämpft jetzt auf eure Weise. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.«

 

Man kann sagen: Sie hatten nichts und konnten alles aufbauen, wir haben alles und werden abbauen müssen?

 

Das wäre eine Übertreibung. Gesprochen habe ich davon, dass sich die heutigen Herausforderungen von denen der damaligen Zeit sehr unterscheiden. Doch mit denen kann man fertig werden. Auch dadurch, dass man auf hohem Niveau gewisse Einschränkungen akzeptiert. Aber es gibt keinen Anlass zur Verzweiflung. Es ist zu schaffen.

 

Haben Deutsche eigentlich eine Unfähigkeit, sich über das zu freuen, was klappt?

 

Das muss man fast vermuten. Es gibt ja ein bekanntes Buch des Analytikerehepaars Mitscherlich. Es trägt den Titel Die Unfähigkeit zu trauern und beschäftigt sich mit der Frage, wie wir mit den Opfern des NS-Gewaltregimes umgehen. Wie wir ihrer gedenken. Diese Unfähigkeit hat es jedenfalls längere Zeit gegeben. Aber es gibt auch bei uns eine ausgesprochene Unfähigkeit, uns zu freuen. Zu oft ist nur von Gefahren, von Angst, von Verschlechterungen die Rede. Und viel zu selten von dem, was gelungen ist.

 

Woran liegt das? Woher kommt diese Unfähigkeit?

 

Das ist eine Frage, die ich gern weitergebe. In den Medien zum Beispiel ist die Freude über etwas Gelungenes im Vergleich zu der Empörung über Misslungenes in aller Regel geringer. Und den Einfluss der Medien darf man nicht unterschätzen. Aber ansonsten weiß ich auch keine rechte Antwort. Wenn ich die Menschen auf diesen Mangel an Freude anspreche, dann sagen sie: »Eigentlich hast du recht.« Aber bis wir eine dauernde Fähigkeit entwickeln, uns über Gelungenes zu freuen – da muss noch eine Menge geschehen.

 

Vielleicht nennen wir das Buch doch Eine Ode an die Freude. Vielen Dank, Herr Vogel.

 

Der Dank gilt Ihnen, Frau Maischberger.