Es ist ein Segen, dass die Behandlung der Psyche heute eine selbstverständliche Kassenleistung ist und kaum einer mehr ernsthaft daran zweifelt, dass psychische Probleme ebenso schwerwiegend und schwer erträglich sein können wie körperliche Leiden.
Dennoch, je stärker sich die Psychotherapeuten und Psychiater auf der Bühne der Mediziner positionierten, desto bereitwilliger und vorschneller wurden psychische Abweichungen vom Mittelmaß als behandlungsbedürftig eingestuft. Heerscharen von wohlmeinenden, aber auch übereifrigen oder einfach auch geldgierigen Fachleuten trafen und treffen auf Menschen, die stark verunsichert sind und nicht wissen, welche Kräfte in ihnen sitzen. Das Leben verlangt ja viel von den meisten heute. Konkurrenz im Privaten wie Beruflichen, sehr anstrengende Arbeitsbedingungen – und dann ist da oft niemand mehr, der erklären könnte, worauf es ankommt. Eltern, Pfarrer, Lehrer: Sie wissen es oft selbst nicht oder sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um andere zu stärken und vorübergehend zu stützen – vor allem aber: zu beruhigen.
So geraten meiner Erfahrung nach viele Menschen in psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung, die vor allen Dingen ein Problem haben: Angst vor ihren Gefühlen. Lähmende Angst, nie wieder auf die Beine zu kommen, wenn sie einmal die innere Balance verloren haben. Viele Eltern trauen ihren Kindern heute nicht zu, normale Probleme zu meistern, damit fängt die Sache schon an – ob es um Streit im Sandkasten geht, um schlechte Noten in der Schule oder um Liebeskummer in der Pubertät. Und sie glauben auch für sich selbst nicht daran, dass sie allein aus sich selbst heraus bald wieder gesund und munter sein können, wenn sie Kränkungen erleben – indem sie nämlich durch diese schwierigen Zeiten hindurchgehen.
Angst vor der Angst, Angst vor der Wut, Angst vor dem Wechselspiel des Lebens. Angst prägt so viele Menschen, die ich über die Jahre erlebt habe. Es macht sie übervorsichtig und dauerbekümmert. Dabei, das ist die riesige Lernaufgabe, ist es doch sowieso unmöglich, das Leben zu kontrollieren. Es besteht aus Aufs und Abs. Wem es gelingt, das anzuerkennen, sich in die Wellen zu werfen, statt ihnen möglichst auszuweichen und viel zu früh um Hilfe zu schreien, findet Halt. Halt in sich selbst. Er wird sogar, ich verspreche es: immer stärker. Schaffen Sie mutig Raum für Ihre Gefühle – die herrlichen, aber auch die bedrückenden: Darum soll es auf den folgenden Seiten gehen!
Seien Sie traurig. Lassen Sie Tränen zu. Genießen Sie sogar das Gefühl von Traurigkeit – das mag merkwürdig klingen, aber wenn Sie etwas voll und ganz fühlen, dann sind Sie sehr nah bei sich selbst, und das ist etwas Angenehmes. Zeigen Sie Schwäche und Schmerz auch vor anderen. Die meisten von uns gestehen sich nicht zu, dass bestimmte Ereignisse sie traurig machen. So entsteht Mutlosigkeit.
Wir Menschen sind Gefühlswesen mit langen Antennen. Jeden Tag gibt es Grund zur Freude und Grund zum Ärger – aber die meisten gehen mit sich um, als müssten sie funktionieren wie Maschinen. Sie erwarten von sich eine stabile Gefühlslage. Es gehört zu ihrem Selbstbild, dass sie es sportlich wegstecken, wenn sie gekränkt und verletzt werden, respekt- oder lieblos behandelt werden von ihrem Partner oder den Kindern, von den Arbeitskollegen, von ihrem Chef.
»Was kränkt, macht krank«, sagt man in der Psychosomatik. Es sind die vielen verdrängten kleinen Traurigkeiten, die Enttäuschungen und Verwundungen, die dann in der Summe irgendwann zu einer Depression führen. Die Reihenfolge ist häufig: Viele Kränkungen führen zur Frustration, viele Frustrationen führen zur Resignation, und die dann wiederum führt in die Depression.
Ich rate den Menschen, die zu mir kommen, sich Zeit zu nehmen für die Trauer. Sie sollen Ereignisse, die eine große Bedeutung für sie haben, wie der Tod eines geliebten Menschen oder das Ende einer wichtigen Beziehung, ausreichend betrauern. Das »Trauerjahr« ist eine kluge Tradition. Es bedeutet vor allem: Trauer braucht Zeit und braucht Raum.
Deshalb ist es so falsch, wenn wir einer Trauerphase, die länger als ein paar Wochen dauert, den Stempel »pathologisch« verpassen. In der DSM -5 , der aktuellen Auflage des Diagnosemanuals für psychische Störungen der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung, steht das allen Ernstes so: Wer zwei Wochen nach dem Verlust eines geliebten Menschen über Symptome wie Niedergeschlagenheit, Appetitverlust, Gewichtsabnahme, Antriebslosigkeit, sozialen Rückzug und/oder Schlafstörungen klagt, ist »depressiv«. Das DSM -3 von 1980 hatte dem trauernden Menschen noch ein ganzes Jahr zugestanden, das DSM -4 von 2000 schon nur noch zwei Monate. Und jetzt also nur noch vierzehn Tage.
In der Klinik erlebe ich immer wieder Menschen, die sich zum ersten Mal zugestehen, aus tiefster Seele zu weinen. Sie haben sich Monate lang verboten zu fühlen, sich diszipliniert und sind dabei erstarrt. Andere Kulturen sind uns in dieser Hinsicht überlegen. Da klagen und schreien die Menschen am Sarg oder am Grab. Nahestehende halten sie – und halten das aus. Es ist schädlich, in solch schwerer Zeit stark sein zu wollen, rational, vielleicht sogar noch für andere ein Vorbild an Unerschütterlichkeit und Würde, als gälte es, sich eine Ehrennadel zu verdienen. Dass wir so intensiv fühlen können, ist Teil unserer Person, und es hat seinen Sinn. Klagen und Schreien, wenn etwas sich unfassbar traurig anfühlt. Lachen und laut singen, wenn unser Herz vor Glück überquillt. Gut so. Nicht nur zu den vorgegebenen Zeiten, Bedrücktheit am Karfreitag, Frohsinn am Faschingsdienstag!
Schon oft habe ich Menschen helfen können, die mit der Diagnose »reaktive Depression« (also eine durch äußere Ereignisse ausgelöste Depression) in Behandlung kamen, indem ich Trauer und Erschütterung normalisiert habe. Konkret denke ich an ein Paar, dessen achtzehnjährige Tochter auf tragische Weise ums Leben kam. Eine Fehldiagnose hatte dazu geführt, dass wertvolle Zeit verstrichen war und die junge Frau nicht mehr gerettet werden konnte. Vier Monate nach ihrem Tod kamen die betroffenen Eltern in die Klinik. Sie blieben sechs Wochen. Was sie lernen mussten, war zuallererst, dass es keinen Druck gibt, diesen Schicksalsschlag schnell zu verarbeiten. Die beiden waren sportlich sehr aktiv und hatten eine unternehmungslustige Clique. Schon kurz nach dem Tod ihrer geliebten Tochter, das muss man sich mal vorstellen, hatten sie die Sorge, den Sportsfreunden mit ihrer Trauer die Stimmung zu verderben.
»Es ist nicht krank, wenn ich um einen Verstorbenen trauere. Es ist gesund!«, habe ich zu den beiden gesagt, »die gesellschaftliche Vorstellung, dass man bald wieder lachen muss, ist krank!« Dieser Anspruch entspringt der Angst, dass einem selbst etwas Vergleichbares passieren könnte, und dieser Angst wollen sich viele nicht stellen.
Wir haben auch immer wieder ältere Menschen in der Klinik gehabt, deren Partner gestorben waren. Sie waren verzweifelt. Nicht nur über den Tod, sondern auch, weil sie das Gefühl hatten, den Erwartungen nicht mehr zu entsprechen, ihren eigenen und denen der anderen. Sie fanden, sie müssten das doch wegstecken können, sie seien doch alt genug, hätten doch mit dem Wissen gelebt, dass es einmal so kommen würde, dass einer von ihnen beiden als Erster sterben werde. Sie wollten diese Katastrophe in ihrem Leben rationalisieren. Die Angst war immens, bald nicht mehr dazuzugehören und zu stören.
Gefühle wie Angst, Trauer, Wut, Unsicherheit und auch Neid gehören aber genauso zu uns wie Freude, Mut, Glück und Zuversicht. Es ist auffallend, dass wir die Tendenz haben, traurige Menschen aufmuntern zu wollen, damit sie wieder lachen – weil wir ihre Traurigkeit nicht ertragen. Umgekehrt kommt doch aber niemand zu mir, wenn ich viel lache und mich freue und sagt: »Fang doch endlich mal wieder an zu weinen …«
In einer Leistungsgesellschaft sind fröhliche Gesichter erwünscht und nicht weiter auffällig, der Traurige, Weinende aber soll sich verstecken, weil er vermeintlich schwach ist – und auch, weil er mit seiner Reaktion zeigt, dass das Leben eben nicht immer zu kontrollieren ist, sondern manchmal sehr schwer und verstörend sein kann. Viele spielen dieses Spiel mit, vertuschen, wie verletzbar sie sind, wie schlecht es ihnen geht, und so machen es sich schließlich alle gegenseitig schwer, das zu leben, was wahr ist. Ein anstrengendes, verwirrendes Spiel: sich hinter einer Fassade zu verstecken, eine Maske aufzuhaben, bis man selbst kaum mehr auseinanderhalten kann, was Maske ist und was das eigene Gesicht.
Dabei ist es doch so: Das ganze Spektrum an Gefühlen, zu dem jemand imstande ist, macht nahbar und sympathisch. Wir fühlen uns zu Menschen hingezogen, die echt sind und mit ihren Gefühlen im Reinen sind, die ausdrücken, was in ihnen vorgeht, weil sie sich zugestehen, das zu spüren. Sie wirken entspannend, da sie vorführen, dass man nicht immer gut drauf sein muss, sondern manchmal auch einfach kaputt, pessimistisch und schlechter Laune sein darf.
Angst, das wird oft vergessen, ist ein sinnvolles Gefühl – und sie gehört zur Grundausstattung des Menschen. Hätten wir keine Angst, würden wir uns in jede Gefahr begeben und uns schaden. Wir würden von hohen Felsen in tiefblaues Wasser springen, ohne vorher zu überprüfen, ob das Wasser tief genug ist. Wir würden uns in unserem Job um Kopf und Kragen reden, weil wir ja keine Angst hätten, dass uns anschließend gekündigt wird. Oder wir würden, sofern es die Gelegenheit dazu gäbe, auf einen Löwen zugehen, der uns zerfleischt.
Manche springen trotzdem vom Felsen in ein unbekanntes Gewässer, das kann mit einer Botenstoffschieflage zu tun haben. Solche Menschen aber sind Ausnahmen, an ihnen sollten wir uns kein Beispiel nehmen. So gut wie alle Menschen haben Angst in bestimmten Situationen, es sei denn, sie stehen unter schweren Drogen und ihr Selbstbild ist verzerrt.
Ich amüsiere mich immer wieder darüber, wenn ich daran denke, wie einmal eine Patientin nach einem Vortrag zu mir sagte, ich sei ihr so angespannt vorgekommen. Als Atemtherapeutin könne sie mir eine gute Atemtherapiemethode empfehlen, mit der ich meine Redeangst schnell in den Griff bekommen würde. Ich antwortete ihr: »Nein danke! Ich bin eben aufgeregt, wenn ich einen Vortrag halte, ich habe jedes Mal Angst, dass ich nicht überzeugend bin, dass die Leute gähnen und keiner lacht. Aber ich will diese Angst behalten. Sie gehört zu mir.«
Um Menschen mit Ängsten die alles überschattende Bedrohung zu nehmen, mache ich gerne diesen Spaß: »Wenn Frauen keine Angst mehr vor Spinnen hätten, wo sollten sich Männer dann noch als Helden beweisen?« Man darf ängstlich sein, rot werden vor Aufregung, ins Stottern kommen, sich unbehaglich fühlen. Wir sind keine Roboter. Gott sei Dank ist es noch nicht so weit.
Manches sitzt fest in unserem limbischen System, und weder unsere Erfahrungen haben es relativiert noch unsere Ratio. So kommt es, dass wir uns in einem Flugzeug verdammt unsicher fühlen können, obwohl Statistiken beweisen, dass die Wahrscheinlichkeit, im Auto auf dem Weg zur Arbeit zu sterben, erheblich größer ist, als mit einem Flugzeug abzustürzen. Dennoch ist es nachvollziehbar, sich in einem künstlichen Vogel in zehntausend Kilometern Höhe beklommen zu fühlen. So etwas muss ich Patienten mit Flugangst immer wieder sagen. Wer Flugangst hat, hat recht. Wir Menschen sind nicht zum Fliegen geboren.
Die Idee, sich mit der Angst zu versöhnen und ihr ein klein wenig Anerkennung zu zollen, hat für viele schon etwas Entspannendes. Jemand, der Panikgefühle bekommt, wenn er in einem überfüllten Zug sitzt, hat auch recht. Es ist doch wirklich unangenehm, wenn man mit so vielen Fremden auf engem Raum zusammengepfercht ist. Eigentlich ist nicht die Angst erstaunlich, sondern die Tatsache, dass viele Leute in einer solchen Situation keine Angst haben.
Ängste können sehr belastend werden – vor allem, wenn man sich in sie hineinsteigert. Aus einer relativ normalen Angst kann sich eine generalisierte Angststörung entwickeln. Auch deshalb ist es so wichtig, als Therapeut Gelassenheit auszustrahlen und die Menschen darin zu bestärken, ihre Angst erst einmal zu akzeptieren. Mit manchen Ängsten kann man ganz gut leben, nehmen wir noch mal die Angst vor Spinnen: Wie oft haben die meisten von uns mit Spinnen zu tun? Auch nicht öfter als mit zähnefletschenden Dobermännern. Kommt jemand auf die Idee, sich die Dobermann-Angst wegtherapieren zu lassen? Nein. Also. Genauso gut kann man eine mittelmäßige Angst vor Spinnen in sein Leben integrieren.
Ist eine Angst im Alltag störend, empfehle ich, sich ihr zu stellen. Angst hat immer einen bestimmten Ablauf: Erst steigt sie an. Dann kommt es zum Plateau. Dann lässt die Angst wieder nach. Viele Ängstliche steigen während des Anstiegs aus – zum Beispiel, bevor sie es wagen, vor einer Gruppe zu sprechen. Sie sind sich sicher, dass sie das nicht schaffen. Alles in ihnen schaltet auf Vermeidung, auf Flucht, sie wollen wegrennen, ihr Atem wird knapp, ihr Herz rast, ihre Angst ist fürchterlich.
Aussteigen aber ist ein Fehler. Es ist so, als würde ein Dompteur sein wildes Tier einfach machen lassen. Will es davonrennen, lässt er es rennen. Will es ihn zerfleischen, lässt er es ihn zerfleischen. Das wilde Tier übernimmt das Kommando – und der Mensch ordnet sich unter. Es ist wichtig, sich selbst Einhalt zu gebieten: Aussteigen gibt es nicht, zumindest nicht über körperliche Symptome!
Als ich zweiundzwanzig Jahre alt war, habe ich als Animateur für einen Reiseveranstalter in Südfrankreich gearbeitet und war jeden Abend für das Bühnenprogramm in einer Disko zuständig. Ich war damals so unsicher, dass ich mich schwertat, vor mehr als zwei Leuten zu sprechen. An solchen Abenden waren es über hundert Personen, und ich musste Witze in drei Sprachen machen und Spiele organisieren. Anfangs wollte ich einfach nur davonlaufen. Um die Angst zu überwinden, trank ich mir vor jedem Auftritt Mut an. Mit der Zeit wurde es immer besser. Ich bekam das Abendprogramm hin. Die Leute waren begeistert und merkten gar nicht, wenn ich nervös war – nach einem halben Jahr ging es ohne Wein.
Als Therapeut motiviere ich Patienten, die unter einer Angstproblematik leiden, mit viel Einsatz, um ihre Grenzen zu sprengen. Menschen, die beispielsweise Höhenangst hatten, wurden von mir dazu gebracht, mit der Gondel auf den Hochgrat zu fahren, einen fast zweitausend Meter hohen Berg im Allgäu – ein solcher Ausflug war für sie eine atemberaubende Herausforderung. Davor habe ich ihnen den Mechanismus von Angst erklärt und auch thematisiert, dass wir Menschen dazu neigen, Angstsituationen durch körperliche Symptome zu vermeiden. »Das ist das Wesen der Psychosomatik«, sagte ich.
Aus der Psychotherapieforschung wissen wir, dass das Einzige, was Menschen zur Veränderung bringt, hoher Leidensdruck ist. Die Forscher sprechen von »kognitiver Dissonanz«; das bedeutet, dass das Leben, das ich führe, von dem Leben, das ich führen möchte, extrem abweicht. Je größer die Abweichung, desto mächtiger ist der Leidensdruck. Dieser Leidensdruck führt dann irgendwann im besten Fall dazu, dass wir in der Lage sind, große Schritte zu machen.
Die meisten Menschen schieben chronische Konflikte vor sich her, setzen sich nicht mit ihnen auseinander und sind deshalb unfähig, etwas an ihrer Situation zu verändern. Das liegt daran, dass wir von Natur aus feige und bequem sind und lieber in die Vermeidung gehen, als mutig das anzupacken, was uns Angst macht. »Leiden ist leichter als Handeln«, ist eine frustrierende Erkenntnis aus jahrelanger Arbeit in der Psychosomatik. In unserem Fachbereich erleben wir immer wieder, dass Menschen in die Krankheit ausweichen, um sich bestimmten Angst- oder Konfliktsituationen nicht stellen zu müssen.
Mit meinen Angstpatienten habe ich beachtliche Fortschritte erzielt, wenn sie diesen Mechanismus verstanden haben und dann bereit waren, etwas zu unternehmen, was ihnen zunächst natürlich höchst unangenehm war. Wenn wir dann gemeinsam in der Gondel auf den Hochgrat geschaukelt sind, passierte es immer wieder, dass jemand in Ohnmacht fiel. Insbesondere, wenn sich die Gondel einmal nicht mehr weiterbewegte, was ja öfter mal vorkommt, und wir mehrere Minuten über dem Abgrund hingen. Die Patienten wussten, dass sie von einem Fachmann begleitet wurden, der ihnen im Notfall zur Seite stand. Und ausnahmslos alle waren wahnsinnig stolz auf sich selbst, wenn sie oben auf der Aussichtsplattform standen. Sie hatten endlich die Angst überwunden, die sie daran hinderte, an vielen interessanten Unternehmungen teilzunehmen. Das war der Durchbruch. Der wesentliche Schritt hatte darin bestanden, zu spüren, dass die Symptome ihre Macht verloren haben. Der Körper begriff: Ich kann noch so viele Symptome produzieren, ich muss mich der herausfordernden Situation stellen.
Übrigens kann man auch die Angst vor Spinnen in wenigen verhaltenstherapeutischen Sitzungen loswerden – wenn man unbedingt will oder mit den ungeliebten Tieren eng zusammenleben muss. Das Prinzip ist immer das gleiche: sich gut auf die Situation vorbereiten, die Sache intellektuell verstehen, sich dann dem Schrecken aussetzen, ihn aushalten – der wesentliche Schritt ist gemacht!
Ganz wichtig ist: Wer sich ohne professionelle Hilfe seinen Ängsten stellt, muss darauf achten, sich damit nicht zu überfordern. Und Achtung: Es kann durchaus sinnvoll sein, Ängste zuzulassen, die das Leben nicht wirklich behindern. Der Satz »Ich darf ängstlich sein« hat oft schon erheblich dazu beigetragen, die Probleme zu verringern.
Wut – schlimm, denken Sie, oder? Verboten! Gehört sich gar nicht in Zeiten, in denen jeder Zweite das Buch Gewaltfreie Kommunikation von Marshall Rosenberg im Regal stehen hat und ein stets freundlicher Ton zu unseren Umgangsformen gehört.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Gewaltfreie Kommunikation ist gut, ich bin gegen Gewalt. Aber nicht gegen Wut. Das ist Lebendigkeit pur. Dieses Gefühl gehört zu uns – sonst hätten wir es nicht. Schauen Sie sich Kinder an. Wie können die traurig, ängstlich und wütend sein, wenn man sie nicht dafür verurteilt, wenn man ihnen nicht schon früh weismacht, dass solche Gefühle etwas Verbotenes sind.
Gerade die aggressiven Anteile spalten viele von sich ab. Das gehört sich nicht, sagt ihnen ihr wohlerzogenes Hirn. Manche sind sogar stolz darauf, dass sie nie wütend werden. »Bei mir braucht es sehr lange, bis ich mich ärgere«, ist so ein Spruch, den ich oft von Patienten höre, der bei mir aber keinen Beifall findet. Oder auch das halte ich für gar keine gute Idee: »Ich habe mir vorgenommen, mich einfach nicht mehr zu ärgern.« Man setzt sich sehr unter Druck, wenn man Gefühle verleugnet, die nun mal da sind. Das tut nicht gut. Emotionen gehören zu uns – und sie wollen sich bemerkbar machen. Dafür sind sie doch da.
Wer gegen seine Gefühle anarbeitet, schafft sie deshalb noch lange nicht ab. Wir alle kennen Leute, die mit zusammengekniffenen Lippen lächeln und so tun, als könnte ihnen nichts mehr etwas anhaben. In ihnen aber kocht es, haben sich Wut und Verletztheit breitgemacht. Sind solche Menschen, die ihre Gefühle unterdrücken können, besser als Menschen, die ihre Wut rauslassen? Die zeigen, wer sie sind und wie sie wirklich fühlen?
Nein, sie sind nicht besser. Im Grunde genommen sind genau sie die schlecht Erzogenen! Sie haben, oft von klein auf, nicht gelernt, ihre Kränkungen richtig wahrzunehmen. Manche können nicht formulieren, was sie stört. Sie fühlen sich schlecht, man sieht es ihnen auch an – aber sie haben keine Antwort auf die Frage, was mit ihnen los ist.
Das kann man ändern. Sich selbst wahrzunehmen ist sinnvoll und möglich. Tagebuch schreiben ist hilfreich. Auch für Männer übrigens. Wer allein vor einem weißen Blatt Papier sitzt und in sich hineinfühlt, der wird nicht aufschreiben: »Es geht mir herrlich, alle sind nett zu mir«, wenn das nicht stimmt. Man weiß eigentlich, was mit einem selbst los ist. Man muss nur den Zugang zu sich selbst und seinen Gefühlen suchen.
Eine verbreitete Variante, seine Wut zu verleugnen, sind die äußerst ungesunden, von mir so getauften »ostfriesischen Schweigetage«. Sie sind besonders verbreitet in Partnerschaften, aber sie entfalten ihre zerstörerische Kraft durchaus auch unter Kollegen, unter Geschwistern oder unter Nachbarn. Ein gekränkter Gesichtsausdruck gehört dazu und ebenso der Wille, auf keinen Fall mitzuteilen, was einen wirklich beschäftigt.
Der klassische Dialog, wenn denn überhaupt noch einer stattfindet, verläuft dann so – das weiß ich, weil es mir unzählige Male so in paartherapeutischen Sitzungen erzählt wurde:
»Du hast doch was …«
»Nein, nichts …«
»Aber ich spüre doch, dass du was hast …«
»Nein, da ist nichts.«
Dann wird geschwiegen, wochenlang, manchmal monatelang! Manche Paare schweigen schon seit Jahren frustriert vor sich hin. Sie haben sich an diesen Zustand gewöhnt, sie warten darauf, dass der andere auf sie zukommt. Da das beide voneinander erwarten, passiert nichts. Beide leiden, beide werden immer verspannter, ihre Lebensqualität ist miserabel. Aber einfach mal rechtzeitig sagen, was los ist, das schaffen sie nicht. Menschen, die so leben, werden irgendwann einmal depressiv, denn ihre Gefühle richten sich wie eine schwere Waffe gegen sie selbst. Oder sie explodieren eines Tages.
Ich muss in diesem Zusammenhang an eine Geschichte aus dem Buch Verbrechen von Ferdinand von Schirach denken, an eine Geschichte, die, das kann ich mir gut vorstellen, vielleicht wirklich so passiert ist. Ein Arzt, der die Gutmütigkeit und Geduld in Person ist, wird von seiner Frau schikaniert und drangsaliert. Er reagiert darauf so freundlich wie möglich und unternimmt alles, um es ihr recht zu machen und sie zu besänftigen. Sie jedoch lässt sich immer mehr gehen und wird immer unmäßiger und böser. Und dann bringt er sie eines Tages um, mit einer Axt hackt er auf sie ein.
Zwei Dinge dazu: Hätte er früher seinen Ärger gezeigt, hätte es seine Ehefrau wahrscheinlich nicht gewagt, sich immer schlechter zu benehmen und immer mehr Grenzen zu überschreiten. Und hätte er rechtzeitig eine Grenze gezogen, dann wäre das Drama zum Schluss ziemlich sicher nicht passiert.
Also weg mit dem Anspruch, über den Dingen stehen zu wollen! Raus mit dem Ärger, an der richtigen Stelle. Wenn wir zulassen, dass sich Spannungen immer wieder in uns aufbauen, und es uns nicht gelingt, uns zu lockern und unsere Gefühle da zum Ausdruck zu bringen, wo sie hingehören, dann kann das zu Nervosität, Gereiztheit, Schlafstörungen führen. Es lohnt sich, solche Symptome ernst zu nehmen und zu hinterfragen. Am besten, bevor sich ernsthafte Krankheiten entwickeln oder sich alles mit einem Mal wie ein Vulkan entlädt.
Hinter Narzissmus verbirgt sich ein starkes Gefühl: die Sehnsucht nach Anerkennung. Deshalb widme ich mich diesem Thema hier. Im umgangssprachlichen Gebrauch ist der Begriff »narzisstisch« immer negativ konnotiert. Dieser Annahme widerspreche ich: Gesundes narzisstisches Verhalten (benigner Narzissmus) ist eine hervorragende Prophylaxe gegen Depressionen. Sich selbst der Nächste zu sein, sich selbst zu lieben und sich einzugestehen, dass man ständig auf der Suche nach Anerkennung ist – das ist gut! Jeder Mensch sucht übrigens nach Anerkennung.
Den bösartigen (malignen) Narzissmus gibt es natürlich auch, davon sind aber nur sehr wenige Menschen betroffen. Wer unter dieser schweren Persönlichkeitsstörung leidet, hat kein Mitgefühl für andere und geht wegen seines überbordenden Geltungsbedürfnisses über Leichen. Betroffene benutzen ihre Familie, Mitarbeiter und Freunde, um rücksichtslos ihre Interessen durchzusetzen. Als maligne Narzissten sind Menschen wie Hitler oder Stalin in die Geschichte eingegangen.
Menschen hingegen, die darum kämpfen, Wertschätzung von anderen durch Leistung, Engagement oder auch durch öffentliche Auftritte zu erlangen, sind gutartige Narzissten. Anerkennung brauchen wir alle, auch wenn lange Zeit viele Therapeuten ihren Patienten eingeimpft haben, sie müssten sich von der Anerkennung anderer unabhängig machen. »Liebe dich selbst«, hieß es, »und dann lieben dich andere.«
Das stimmt nur zum Teil, denn ich brauche auch die Liebe und Anerkennung der anderen, um mich lieben zu lernen. Die gutartigen Narzissten – ich sehe mich selbst als einen und nenne mich deshalb manchmal spaßhaft einen »bekennenden Narzissten« – wissen das und unternehmen viel, um diese Wertschätzung zu bekommen. Sie rackern ihr Leben lang, um sich und dem Umfeld zu beweisen, dass sie etwas wert sind.
Ich stehe dazu, dass diese Sehnsucht nach Anerkennung mein Leben lang mein Motor war. Meine Vorträge habe ich nicht nur für die Zuhörer gemacht, sondern auch um mich selbst zu stabilisieren. Der Applaus ist das Pflaster auf die Wunden meiner Kindheit. Dass ich diese Abhängigkeit von der Anerkennung mir selbst zugestehe und auch meiner Umwelt offen vermittle, macht mich sicherer.
Deshalb rate ich auch meinen Patienten und Klienten: Stehen Sie dazu, dass Sie Anerkennung brauchen! Dann können Sie mit diesem Bedürfnis spielerisch umgehen. Die Gefahr liegt lediglich darin, sich in dieser Sucht zu verlieren, nicht mehr auf seine Grenzen zu achten – und zu verbrennen.
Alle Narzissten, ob gutartig oder bösartig, können aufgrund ihrer Struktur und Bedürftigkeit sehr viel bewegen und erreichen. Sie geben alles! Der gutartige kann hervorragend motivieren, mitreißen und dient auch oft als Vorbild, weil er ja selbst so viel (auch für andere) tut. Nicht wenige, die wir wegen ihres Altruismus bewundern, sind eigentlich gutartige Narzissten, die das, was sie machen, nicht für andere, sondern für ihr eigenes Selbstbild tun. Das schmälert nicht ihre Leistungen, erklärt nur, warum manche Menschen sich so sehr aufopfern – scheinbar vollkommen selbstlos.
Was – gutartige wie bösartige – Narzissten miteinander verbindet, ist ihre hohe Kränkbarkeit. Das ist leicht erkennbar daran, wie sie auf Kritik reagieren. Sie hören beispielsweise nicht die positiven Beiträge zu ihrem Vortrag, sondern fixieren sich auf die eine Person, die etwas Abwertendes gesagt hat oder vielleicht auch nur die Stirn gerunzelt oder gegähnt hat. Sie genießen nicht den Applaus, sondern warten auf stehende Ovationen. So erreichen sie nie Zufriedenheit. Es ist wie mit einem Fass mit löcherigem Boden, man kann so viel reinschütten, wie viel man will, nichts bleibt hängen, alles sickert durch.
Der bösartige Narzisst reagiert auf Kritik mit Angriff und Vernichtung, der gutartige mit dem wahnsinnigen Bemühen, es beim nächsten Mal besser zu machen – oder mit Rückzug. Der bösartige ist unbeliebt, verbreitet Angst und ist immer umgeben von Schmeichlern und Claqueuren, der gutartige dagegen sucht die Nähe von Wohlgesonnenen, er wird durchaus gemocht und versucht sich durch Großzügigkeit und Toleranz beliebt zu machen.
Wenn wir uns zugestehen, dass wir alle die große Sehnsucht nach Anerkennung in uns tragen und jeder auf seine Weise und mit seinem persönlichen Hintergrund versucht, diese Aufmerksamkeit zu bekommen, dann verliert auch der Begriff »Narzisst« seinen pathologischen Beigeschmack.
Bitte schön: Seien Sie eine Narzisstin oder ein Narzisst. Lieben Sie sich selbst, und schauen Sie, dass Sie die Bestätigung bekommen, die Ihnen das Leben versüßt. Achten Sie auf sich selbst: Lachen Sie herzlich darüber, wenn Sie mal wieder versucht haben, andere zu manipulieren, damit die Sie toll finden. Und passen Sie besonders gut darauf auf, dass Sie sich selbst nicht nur dann anerkennen, wenn die ganze Welt Ihnen zuprostet, sondern besser auch dann schon, wenn sich Ihre Frau oder Ihr Mann über Sie freut.
Trauer und Angst, Wut und Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung: Leben Sie Ihre Gefühle. Nehmen Sie sie ernst. Schämen Sie sich nicht dafür, diese Gefühle sind in allen Schattierungen Teile Ihrer Persönlichkeit.
Man muss sich deshalb noch lange nicht benehmen wie ein Kind in der Trotzphase. Schließlich haben wir ein rationales Gehirn, mit dem wir unsere Emotionen ganz gut in Bahnen lenken können, damit sie dem Moment angemessen sind. Also nicht einen Polizisten anschreien mit den Worten »Sie blöder Bulle«, auch wenn man das gerade so fühlt, oder zum Chef sagen, wenn man sich mal wieder über ihn ärgert: »Mir reicht’s mit dem Sauladen! Ich kündige!« Es ist gut, dass wir von Natur aus so ausgestattet sind, dass wir einen gewissen Spielraum haben bei der Entscheidung darüber, wie und wann wir unsere Emotionen und Begehrlichkeiten zum Ausdruck bringen – zumindest dann, wenn uns die Wut nicht völlig ergreift, weil ein wirklich wunder Punkt getroffen wurde.
Aber, wie gesagt, mächtige Gefühle zu verdrängen ist nicht sinnvoll. Sie verschwinden nicht einfach wieder von selbst, das tun nur wenige, sie stauen sich vielmehr auf. Dann können sie sich wie eine Autoimmunerkrankung gegen die eigene Person richten. Oder sie kommen zum falschen Zeitpunkt und den falschen Personen gegenüber zum Ausbruch; Personen, die sich nicht wehren können.
Ich erzähle meinen Patienten dazu gerne die folgende Geschichte, und viele von ihnen erkennen sich darin wieder: Stellen Sie sich vor, Ihre vergangene Nacht hätte so ausgesehen: Gegen 23 Uhr sind Sie eingeschlafen, gegen 3 Uhr wieder wach geworden, bis halb fünf haben Sie sich im Bett hin und her gewälzt, dann sind Sie wieder eingeschlafen, und um 6 .30 schließlich hat der Wecker geklingelt. Sie sind völlig gerädert, leicht gereizt und leicht reizbar. Jetzt braucht es nicht viel am Morgen, um Ihre innere Drehzahl weiter zu erhöhen.
Viele Leute verlassen schon morgens angespannt ihr Zuhause und nehmen diese aufgeladene Stimmung mit ins Büro, ohne allerdings wahrzunehmen, was mit ihnen eigentlich los ist. Es wäre so gut, wenn wir, bevor wir zur Arbeit gingen, einen Moment innehalten und einfach nur erspüren würden, wie unsere Stimmung gerade ist.
Weiter geht es: Sie haben einen wichtigen Termin, kommen aber in einen Stau. Die innere Anspannung steigt weiter, obwohl – das sage ich meinen Patienten gerne – so etwas wie ein Stau oder die Wartezeit beim Arzt eigentlich eine gute Gelegenheit zur Entspannung sein könnte, denn Sie können in dieser Zeit ja sowieso nichts tun.
Nun kommen Sie also verspätet in die Firma und schleichen mit einem schlechten Gewissen durch die Flure. Das heißt: Sie beginnen Ihren Arbeitstag schon voller Spannung. Sie beherrschen sich dann den ganzen Tag über, da man bei der Arbeit ja bitte keine Gefühle zeigt. Hinzu kommt noch der alltägliche lästige Kleinkram, und Ihre Wut wird immer größer und größer. Sie sind eine tickende Zeitbombe.
Schließlich stürzen Sie sich in den Feierabendverkehr und nehmen nur noch Feinde wahr – und in diesem Gemütszustand treffen Sie dann wieder zu Hause ein. Jetzt sollte eigentlich der angenehme Teil des Tages beginnen. Aber von wegen. Der geringste Anlass genügt, Sie aus der Fassung zu bringen.
Ich empfehle: Auch auf dem Weg von der Arbeit zurück nach Hause sollte man einen kurzen Moment innehalten und in sich hineinhören, ob da nicht irgendwelche Anspannungen lauern. Wer über sich Bescheid weiß, kann seinen Ärger und seine Wut anders abbauen.
Klassischerweise aber läuft es so ab: Der Vater, der zu feige war, sich mit seinem Chef auseinanderzusetzen, lässt seine Wut an seiner Frau aus. Die beschimpft ihren Sohn, der lässt seinen Frust am Hund aus. Und der Hund beißt den Vater – leider nicht den Chef, sonst wäre die Sache am Ende doch noch gerecht ausgegangen.
Ich habe oft Paare bei mir sitzen, die zutiefst deprimiert sind. Immer wieder stellt sich in den Gesprächen heraus, dass allein schon deshalb keine gute Stimmung mehr zwischen den beiden Partnern aufkommen kann, weil beide so viel angestaute Wut und Ärger mit sich herumschleppen. Wer sich ärgert oder wütend ist, kann nicht empathisch sein und kann nicht gut zuhören. Sein limbisches System ist schon gefordert genug.
Es ist so wichtig, die eigenen inneren Spannungen früh wahrzunehmen, die Themen, die einen beschäftigen, zu erkennen und so früh wie möglich die Probleme dort anzusprechen, wo sie hingehören. Leider ist es eine weitverbreitete Unart, mit anderen Menschen über andere zu reden, aber nicht mit denen zu sprechen, mit denen man sich auseinandersetzen sollte. In der Psychologie nennt man solches Verhalten Konfliktverschiebung: Wir verschieben Konflikte auf ungefährliche Themen und streiten über diese dann mit ungefährlichen Personen. Oder wir beschimpfen die Falschen oder lassen unsere Wut an den Falschen aus: an anderen Autofahrern (die das, was wir sagen, oft zum Glück nicht hören können), an Familienmitgliedern, die das nicht verdient haben, an unserem Hund.
Ein sechsunddreißigjähriger Orthopäde kam zu mir in Behandlung, nachdem sich seine elfjährige Tochter erhängt hatte. In der Ehe hatte es erhebliche Spannungen gegeben, und die Tochter hatte mehrmals gesagt, dass sie es zu Hause nicht mehr aushalte und zur Tante ziehen wolle, weil es bei ihr so harmonisch und friedlich sei. Die Eltern haben die Wünsche ihres Kindes nie ernst genommen und auch ihre eigenen Konflikte nie thematisiert. So musste erst die Tochter sterben, damit die Eltern bereit waren, sich ihren Problemen zu stellen.
Ich erlebe es in meinem Berufsalltag leider häufig, dass Kinder unter den Beziehungsproblemen der Eltern extrem leiden und dadurch krank werden. Deswegen hier noch einmal die deutliche Aufforderung: Wenn Sie Spannungen in Ihrer Beziehung erkennen, thematisieren Sie sie, klären Sie alles mit Ihrem Partner, und laufen Sie nicht vor den Schwierigkeiten weg. Im Konflikt bleiben ist eine Grundregel, die sowohl für private Beziehungen als auch für Arbeitsbeziehungen gilt.
Es ist so selbstverständlich, dass jeder Tag mit Unzufriedenheit und Stress beginnt. Ein Blick in den Spiegel, und sofort der Schreck: Ich sehe nicht gut genug aus. Ich werde alt. Mein Haar ist dünn. Wie soll ich da mithalten können?
Dann geht es weiter: Bin ich gut genug im Job? Sind andere vielleicht besser? Setzt da nicht gerade ein Jüngerer an, mich zu überholen? Die vielen Diktate von außen: Iss gesund! Achte auf deine Figur! Treibe Sport! Bilde dich weiter, lern Klavier, schreib ein Buch, mach eine großartige Party, bleib dein Leben lang fit; du siehst doch, dass das geht, Iris Berben und George Clooney machen es vor! Weil alle denselben unerreichbaren Idealen hinterherrennen, gewinnt man schnell den Eindruck, das sei normal.
Was glauben Sie, welche Auswirkung diese ständige Unzufriedenheit und dieser ständige Stress auf die Botenstoffe haben? Wer immer unter Druck steht und immer negativ über sich denkt, der produziert Cortisol und Adrenalin – also nichts von dem, was wir brauchen, um uns wohl zu fühlen und gesund zu bleiben, wie etwa Serotonin, Endorphine oder Oxytocin. Oxytocin etwa ist eine ungefährliche Droge, die bewirkt, dass wir Vertrauen zu anderen Menschen aufbauen, und paradoxerweise auch, dass wir akzeptieren, dass Älterwerden ein guter physiologischer Prozess ist, mit dessen Einschränkungen wir durchaus umgehen können. Ich erlebe immer wieder, dass viele von uns genau damit große Probleme haben. Dabei kann bewusstes Altern, wenn wir uns darauf einlassen, so schön sein. Es ist doch entlastend, wenn man nicht mehr ständig ganz vorne mithalten muss. Der Irrsinn der Selbstoptimierung im Alter führt letztlich nur dazu, dass wir faltenfrei und gesund ernährt dement werden.
Erst wenn der physische oder psychische Zusammenbruch erfolgt, werden die Menschen (kurzfristig) wach. Ich frage meine Patienten dann gern: Wann haben Sie zum letzten Mal etwas Schönes gemacht? Wann sind Sie an einem Fluss entlanggewandert? Wann haben Sie bewusst Vögel zwitschern gehört? Wann haben Sie das letzte Mal ein wirklich offenes und inniges Gespräch geführt? Nicht selten werde ich mit großen Augen angeschaut. Oder wenn ich frage: »Was tun Sie in Ihrem Leben, damit es Ihnen gutgeht?« Auch da ist die Antwort oft ein beklommenes Schweigen.
Auffallend ist, dass viele meiner Patienten mit einem enormen Wissen ausgestattet sind; was sie nicht alles gelernt haben – sie kennen sich aus mit der Wirkung von Nahrungsergänzungsmitteln oder können mir den Sinn und Zweck bestimmter gymnastischer Übungen oder sogar Übungen aus dem Kamasutra erklären. Aber sie wissen nicht, wie sie für sich selbst sorgen sollen; sie wissen nicht, was sie brauchen, damit es ihnen gutgeht, damit sie mit sich im Reinen sind.
Wenn die Anforderungen an sich selbst hoch sind, vielleicht auch noch eine biographische Krise dazu kommt, dann wird es besonders heikel. Die Menschen werden nicht nur seelisch, sondern auch körperlich krank.
So erging es auch einem meiner interessantesten Patienten. Der achtzehnjährige Mann wurde uns von einer Frankfurter Klinik zugewiesen. Er hatte zuvor bereits mehrfach spontane Stimmritzenkrämpfe erlitten, deren Auslöser rein psychischer Natur war. Die Kontraktion der Muskeln im Bereich der Stimmritze ist eigentlich ein schützender Mechanismus, der verhindern soll, dass Flüssigkeiten in die nahe gelegene Luftröhre eintreten. Bei jeder dieser Verkrampfungen war er dem Ersticken nahe. Nach der Erstbehandlung durch den Notarzt kam er auf die Intensivstation und musste intubiert werden. Nachdem dies einige Male passiert war, entwickelte er so große Ängste vor einem möglichen nächsten Anfall, dass er sich nichts mehr zutraute und sich nur noch in der Nähe von Krankenhäusern aufhielt. Alle bisherigen Psychotherapien hatten ihm nicht weiterhelfen können. Schließlich wurde er mit einem Rettungshubschrauber zu uns gebracht, angeschlossen an ein mobiles Sauerstoffgerät.
In einem ausführlichen Gespräch erkundigte ich mich nach seinem persönlichen Werdegang. Er wuchs in bürgerlich geordneten Verhältnissen auf, seine Eltern waren wohlhabend. Er war Einzelkind, der Kronprinz gewissermaßen, und verehrte seinen erfolgreichen Vater sehr. Bis dieser eines Tages nach Hause kam und ihm und seiner Mutter mitteilte, dass er seit Jahren eine Geliebte habe. Nicht genug der schlechten Nachrichten, er setzte noch eins drauf: Er verlangte von seiner Frau und seinem Sohn, das gemeinsame Haus zu verlassen, um dort mit seiner neuen Frau leben zu können. Die beiden zogen in eine Eigentumswohnung, die ebenfalls im Besitz der Familie war.
Das war ein gewaltiger Schock, der dem Jugendlichen im wörtlichen Sinn die Luft zum Atmen nahm: Er reagierte zum ersten Mal mit einem Stimmritzenkrampf. Von nun an traten die Symptome immer wieder auf.
Wie konnte es zu dieser massiven körperlichen Reaktion kommen? Der Vater, den er über alles liebte und bewunderte, hatte ihm schlagartig die Zuneigung entzogen und seine völlig verzweifelte Mutter im Stich gelassen. Darüber war er maßlos enttäuscht, aber auch sehr wütend. Gleichzeitig hatte er den Anspruch, sich beiden Eltern gegenüber loyal zu verhalten. Und er wollte nicht den letzten Rest der Beziehung zum Vater aufs Spiel setzen.
Die Therapeuten, die er zuvor aufgesucht hatte, hatten versucht, ihn seelisch zu stabilisieren. Sie redeten ihm gut zu: Alles sei doch nicht so schlimm, die Mutter sei ja auch noch da, Trennungen seien etwas ganz Normales, der Vater unterstütze sie doch finanziell.
Mir war schnell klar: Um ihm wirklich helfen zu können, musste ich in die Übertragungssituation des Vaters gehen. Dann erst würde der junge Mann die Gefühle zum Ausdruck bringen können, die in ihm steckten und die sein ganzes Leben zerstörten. Er musste zu mir Vertrauen aufbauen, damit ich in die Position des Vaters gelangen würde, zu dem er ja übergroßes Vertrauen hatte.
Wir mochten uns gegenseitig und fanden schnell Kontakt zueinander. Er war ein toller, netter Junge, wir spielten häufig Tennis miteinander, tauschten uns aus und hatten richtig Spaß. Er fühlte sich sicher in der Klinik und hatte in dieser Zeit nicht einen einzigen Stimmritzenkrampf.
Dann holte ich mir von ihm die Erlaubnis für den nächsten Therapieschritt. Das ist der Grundsatz der provokativen Therapie: erst eine vertrauensvolle Bindung zum Patienten aufbauen und dann bei jedem weiteren Therapieschritt den Patienten in die Entscheidungen miteinbeziehen. »Hast du Vertrauen?«, fragte ich ihn. Ja, sagte er, das habe er. Ich fragte weiter, ob ich ihn provozieren dürfe. Er sagte: »Ja, machen Sie das. Wenn es hilft!«
Es ging los, doch die Wirkung war nicht groß: Ich bestellte ihn um 11 Uhr zur Therapiestunde, ließ ihn dann aber vor der Tür warten und rief stattdessen immer wieder andere Patienten ins Sprechzimmer. Irgendwann fragte er, ob er zum Mittagessen gehen könne. Ich sagte: »Nein, vielleicht nehme ich dich ja gerade über Mittag dran.« Er wartete geduldig weiter bis zum späten Nachmittag.
Ich hatte vorgehabt, ihn damit aus der Reserve zu locken. Aber er hatte, brav, wie er war, alles geschluckt. Er war ja auch intelligent, durchschaute das Spielchen. Kein Stimmritzenkrampf trat auf. Da wusste ich: Ich muss das Gleiche tun, was der Vater ihm angetan hatte. Ich musste ihn im Stich lassen.
Ich veranlasste, dass sich unser Internist mit dem Notfallkoffer zehn Kilometer von der Klinik entfernt im Wald versteckte, und sagte dann zu meinem Patienten: »Lass uns mal ein bisschen raus in die Landschaft fahren und gucken, was dann passiert.« Er sagte: »Kein Problem! Wenn Sie dabei sind, gar kein Problem für mich.« Dann sind wir zu der Stelle gefahren, wo der Internist sich versteckt hatte. Ich hielt mit dem Wagen an, bat den jungen Mann, kurz auszusteigen und nachzusehen, was da am Auto klappern würde. Er stieg aus. Und ich haute ab.
Das war die Situation, die er erlebt hatte: Der Vater lässt ihn vollkommen unvorbereitet im Stich. Von Todesangst ergriffen rannte er los, zurück in Richtung Klinik, der Internist mit seinem Notfallköfferchen immer hinter ihm her. Als er in der Klinik ankam, war er außer sich vor Wut. Er schrie mich so laut an, dass die ganze Klinik in Schockstarre verfiel. Dann nahm er einen der schweren Sessel, die damals in der Eingangshalle standen, hob ihn hoch und ließ ihn mit lautem Krach zu Boden fallen.
Ich legte noch ein wenig nach und sagte: »Na, was soll das denn? Du schreist hier rum …« Daraufhin brüllte er erneut und wollte auf mich losgehen. Dann sagte ich: »Guck mal, wie du Luft kriegst!«
In diesem Moment entdeckte er den Internisten, der mit seinem Notfallkoffer in der Hand ganz abgekämpft auftauchte. »Was macht denn der da?«, schrie er. Dann verstand er, dass ich für ihn gesorgt hatte.
Diese Erfahrung war sehr wichtig für ihn: Ich hatte vorgesorgt, ich hatte es zu keiner Sekunde darauf ankommen lassen, dass die Sache schiefgehen könnte. Er wusste in diesem Moment zu hundert Prozent, dass es nur darum gegangen war, ihm zu helfen.
Das ist jetzt zwanzig Jahre her. Vor einem halben Jahr bekam ich einen Brief von ihm, das hat mich wahnsinnig gefreut. Der Mann lebt heute in der Südsee als Hoteldirektor. Kein Krankenhaus weit und breit.
Oder nehmen wir diesen schweren Fall, hinter dem sich nichts anderes als unterdrückte Trauer verbarg: Ich denke an eine Frau Mitte fünfzig, sie lebte in engem Familienkreis mit Mann und Sohn und Schwiegertochter und Enkeln in einem Haus, zwei weitere Söhne wohnten in der Nähe, auch mit Kindern und Frauen, alle trafen sich regelmäßig sonntags zum Mittagessen. Bei einem dieser Essen gab es Streit. Ihr Mann zog sich daraufhin die Sportschuhe an, sagte, er gehe zum Joggen, lief aber zum nächsten Bahnübergang und warf sich vor den Zug.
Alle in der Familie waren tief getroffen von dem Suizid und quälten sich mit Schuldgefühlen. Die Frau kümmerte sich um die Kinder, suchte nach Erklärungen, die die anderen entlasteten. Sie bemühte sich, den Handwerksbetrieb und eine gewisse Normalität aufrechtzuerhalten, aber sie kümmerte sich nicht um sich selbst: Sie nahm sich keinen Raum und keine Zeit für ihre Trauer, für ihre Angst, wie alles weitergehen solle, und für ihre Wut – auf den Ehemann, der einfach alle verlassen hatte.
Zwei Jahre später geriet sie in eine schwere Depression. Sie kam in unsere Klinik. Das war eine sehr gute Idee des überweisenden Arztes, sie brauchte nämlich nicht nur Therapie, sondern auch Abstand zur Familie.
In der Klinik hat sie den Trauerprozess nachgearbeitet, intensiv geweint, Abschiedsbriefe an den Verstorbenen geschrieben, auch ihre Wut kam darin zum Vorschein, weil er sie so abrupt verlassen hatte. Sie hat sehr gelitten. Dann kam langsam etwas Aufhellung. Die Schuldgefühle nahmen ab. Sie lernte, sich nicht mehr für das ganze Familiensystem, für das Glück jedes Einzelnen darin, verantwortlich zu fühlen. Sie gestand sich zu, dass auch sie ein Recht auf ihre Gefühle hatte.
Die schwere Depression ist eine mächtige Erkrankung. Sie ist oft die Folge von kolossaler Überforderung, dem Zwiespalt, sich – zu Recht! – sehr traurig und sehr verletzt zu fühlen, aber sich diese Gefühle nicht zuzugestehen. Früher sagte man zu schwerer Depression gerne: endogene Depression. Das bedeutet, es gebe keine äußeren Auslöser, das Gefühl komme von innen, sei komplett genetisch.
Das ist falsch, wie man heute weiß. Die Forschung nähert sich immer mehr folgender Erkenntnis an: Es kann eine genetische Vorbelastung geben, also eine besondere Empfindlichkeit, eben wenn das Stresssystem wenig strapazierfähig ist, das in der Schwangerschaft oder in den allerersten Lebensjahren erworben wurde. Und es kommt dann darauf an, welche Erfahrungen man macht, wie man mit sich selbst umgeht (auch davon ist natürlich vieles von den Vorfahren übernommen), ob man es schafft, sich abzugrenzen, wenn es belastend zugeht.
Die schwere Depression hat Symptome, auf die der Betroffene keinen Einfluss mehr hat. Menschen, die mit schweren Depressionen reagieren, sind meistens nicht mehr fähig zu trauern oder unterdrücken Trauer, weil sie glauben, das Gefühl in seiner Intensität nicht aushalten zu können. Ein Depressiver ist innerlich in seinen Gefühlen tot, lebt nicht mehr als fühlender Mensch und berichtet oft ganz zentral über das Gefühl der Gefühllosigkeit. Der Depressive spürt sich selbst nicht.
Die Gründe für diese psychische Störung sind oft folgende: Wem es nicht gelungen ist, angemessen zu trauern, sich zu empören, seine Angst und seine Sehnsucht zu spüren, bei dem sind eines Tages plötzlich alle Gefühle ausgeknipst, der Hippocampus stellt sich tot, die Verbindung ist unterbrochen. Solche Patienten sind aufgrund des bestehenden Botenstoffmangels und aufgrund gestörter Verschaltungen im Gehirn nicht mehr in der Lage, Kontakt zu ihren Gefühlen zu bekommen. Sie können sich kaum noch freuen, auch nicht mehr weinen. Der Psychiater spricht hier vom »trockenen Weinen«.
Ein Mensch in einer schweren Depression hat das Gefühl, weinen zu müssen, aber die Tränen kommen nicht. Die Welt wird grau und leer, der Depressive richtet alle Enttäuschung gegen sich selbst, denkt negativ über sich, über die eigene Zukunft und über seine Umwelt. Es gibt keinen direkten Weg aus der Krise, aus dem Entsetzen. Gerade ältere Menschen denken in einer solchen Situation, dass man seit langem nur funktioniert und das Leben mit seiner Schönheit auf vielen Ebenen nicht mehr spürt. Es braucht Zeit und Geduld, um da wieder herauszukommen.
Alle Entscheidungen fallen schwer. Kaffee oder Tee? Zähneputzen oder nicht? Ziehe ich Socken an oder keine? Warum soll ich mich anziehen, wenn ich mich abends sowieso wieder ausziehen muss? Das wäre ja vielleicht noch auszuhalten. Aber meist tobt es im Inneren schwer depressiver Menschen sehr stark, sie fühlen sich aufgewühlt, sie sind panisch und hilflos, ihr Hirn peinigt sie mit selbstzerstörerischen und selbstabwertenden Gedanken und nicht enden wollenden Grübeleien. Dazu kommen sehr oft schwere körperliche Missgefühle wie Verspannungen, Magenprobleme und Schlafstörungen. Depressive sind in einer zermürbenden Situation, aus der es für sie scheinbar keine Rettung mehr gibt. Viele machen sich in dieser Phase Gedanken über einen Suizid. Das ist naheliegend, er erscheint wie eine Erlösung.
In diesem Stadium einer Depression ist intensive Therapie unvermeidlich und richtig. Medikamente, die auf den Hirnstoffwechsel einwirken, sind unverzichtbar. Es geht aus meiner Sicht nicht ohne. Der Betroffene muss aus seiner Erstarrung herauskommen, er muss dazu gebracht werden, wieder zu fühlen. Der Ehemann einer Patientin sagte einmal zu mir: »Wenn bei meiner Frau die Tränen kommen, dann weiß ich: Jetzt geht es wieder aufwärts.«
Wer wieder fühlen kann, ist auf dem richtigen Weg. Wer in der Depression steckt, braucht klare Führung durch einen erfahrenen Therapeuten. Ich halte grundsätzlich ja sehr viel davon, Menschen an ihre Selbstwirksamkeit zu erinnern, sie nicht zu sehr an die Hand zu nehmen – aber wer in einer schweren Depression gefangen ist, braucht jemanden, der sagt, wo es langgeht. In der Chirurgie diskutiert man auch nicht über die Schnittführung. Da vertraut man sich einem Fachmann an und sagt: »Bitte machen Sie das. Ich hoffe, Sie können das.« Ich kann mich noch gut an eine Patientin erinnern, die den ganzen Tag mit ihren Tropfen auf dem Bett saß und überlegte, ob sie das Medikament jetzt nehmen soll oder nicht. Ich musste ihr sagen: »Keine Diskussion. Nehmen!« Sie war erleichtert.
So leidvoll eine Depression erlebt wird, so hat sie dennoch häufig eine Schutzfunktion vor chronischer Überforderung. Ein seelischer Rückzug bei erlebten Kränkungen versinnbildlicht den Wunsch nach Zuwendung und Schonung. Sehr oft ist die Depression ein überdeutliches Signal, dass man sich selbst zu wenig wichtig nimmt, sich nicht traut, Raum einzufordern und seine Gefühle zu zeigen. Oft verbirgt sich hinter den Symptomen ein qualvoller Schrei nach Halt, Geborgenheit und Bindung. Schwach sein, jammern und klagen dürfen ist manchmal ein Bedürfnis, das viel zu lange unterdrückt wurde.
Zahlreiche Menschen, die depressiv werden, leben mit einem sehr hohen Leistungsanspruch. Das ist in vielen Studien nachgewiesen worden und mir bei Tausenden meiner Patienten aufgefallen. Der Versuch aber, bloß keinen Fehler zu machen, löst einen enormen Druck mit hohem Angstlevel aus, der leider gerade dazu führt, dass Fehler passieren. Viele Erkrankte haben sich selbst ein Genussverbot erteilt, häufig als Verinnerlichung von früheren elterlichen Regeln und Verboten. Mir sind zahlreiche Menschen begegnet, die sich mit sicherer Hand auch noch Partner ausgesucht haben, die sehr anspruchsvoll sind und wenig Verständnis für schwache Phasen haben – Entspannung ist also auch in der Partnerschaft kaum möglich, überall gilt es, mustergültig zu performen.
Der strengste Peitschenschwinger ist der Depressive selbst. Kein Wunder, dass irgendwann das ganze Gefühlssystem streikt. Und nichts mehr geht. Nicht mal mehr weinen.
Ich unterscheide nicht so gerne zwischen Burnout und Depression. Das Prinzip ist oft das Gleiche. Die Bezeichnung Burnout klingt für viele jedoch gesellschaftsfähig, fast wie ein Prädikat: Hier hat jemand für seinen Job gebrannt, deshalb ist er ausgebrannt. Aber auch ein Burnout hat nie allein mit dem Arbeitsbereich zu tun. Wer sich über die Maßen erschöpft, der tut das überall, der brennt genauso im Privatleben aus. Auf dem Begriff Depression aber lastet noch immer das Vorurteil, jemand würde sich hängenlassen. Das ist viel weniger respektvoll. Aus diesem Grund, könnte man sagen, ist es gut, dass der Begriff Burnout erfunden wurde. Aber ich bleibe dabei: Zwischen der Entwicklung zu einer schweren Depression und der Entwicklung zu einem schweren Burnout gibt es eigentlich keinen Unterschied.
Besonders gefährdet sind Menschen, die zu wenig auf ihre Gefühle und Bedürfnisse achten. Perfektionisten, Idealisten, professionelle Helfer, Kümmerer und Harmoniker. Ein Patient sagte einmal einen sehr passenden Satz: »Ich habe zu viel zu lang für zu viele andere Menschen mit zu wenig Rücksicht auf mich selbst getan.«
Gerade Menschen, die in der frühen Kindheit keine sichere, keine sättigende Bindung erlebt haben, versuchen, ihren Selbstwert über Anerkennung von außen aufzuwerten. Der »ewig wichtige Mensch«, der sich für unersetzlich hält und Überstunden ansammelt, oder die »immer fröhliche Betriebsnudel«, die sich um alle anderen kümmert und scheinbar immer bester Laune ist, sind gefährdet – oft fallen die Leute um sie herum aus allen Wolken, wenn sie erfahren, dass gerade diese Kollegen oder Freunde plötzlich für mehrere Wochen in einer Klinik verschwinden und anschließend deutlich sagen, was sie im Krankenhaus geübt haben: »Ich mache jetzt Feierabend. Macht euren Mist ohne mich.«
Um aus dem Burnout-Prozess auszusteigen, ist als erstes Prinzip zu nennen: Entschleunigen Sie! Steigen Sie aus Ihrem Denkkäfig aus. Verraten Sie sich selbst nicht mehr weiter, sondern stellen Sie sich Ihrem Schmerz und Ihrer Trauer, Ihrer Wut und Ihrer Angst. Nehmen Sie wahr, wie weit Sie sich von Ihrem eigentlichen Wesen, von der Gefühlsfülle, mit der Sie einmal auf die Welt gekommen sind, entfernt haben.
Eigentlich gibt es gute Gründe, unserem Körper dankbar zu sein, auch wenn er uns immer wieder ärgert – aber er macht Selbsttäuschungen auf die Dauer eben nicht mit. Hinter Depressionen stecken unterdrückte, vermeintlich schlechte Gefühle. Es geht bei vielen Betroffenen in einer solch äußerst herausfordernden Lebensphase darum, Abschied zu nehmen. Von Erwartungen, überhöhten Zielen, irrealen Vorstellungen über sich selbst und dem Leben.
Der Hintergrund von Essstörungen sind häufig verdrängte Gefühle. Werden diese ans Tageslicht geholt, gewürdigt und gelebt, dann verändern sich die Essprobleme immer wieder wie von selbst.
Essen hat im Laufe des Lebens seine Funktion verändert. Eigentlich ist der Körper so angelegt, erst Kalorien zu verbrauchen, bevor er etwas zu essen bekommt – was bei einem Spaziergang vom Sofa bis zum Kühlschrank und zurück kaum der Fall sein dürfte. Beim Essen geht es nicht nur um Nahrungsaufnahme, deshalb ist es unsinnig, sich ganz aufs Kalorienzählen zu konzentrieren. Essen hat einen ausgeprägten gesellschaftlichen Aspekt: Lernt man jemanden kennen, der einem gefällt, lädt man ihn zum Essen ein. Man isst, um andere nicht durch Kritik oder Ablehnung zu kränken. Wir essen oft nicht, weil wir Hunger haben, sondern weil wir etwas appetitlich finden oder weil es kostenlos ist. Auch prägen uns Sätze wie »Du musst den Teller leer essen, sonst wird das Wetter morgen schlecht«. Als Kinder essen wir meist nicht, wenn wir Hunger haben, sondern wenn die Eltern essen.
Übergewichtige haben oft das Sättigungsgefühl verloren. Würden sie lernen, dann aufhören zu essen, wenn sie keinen Hunger mehr haben, dann würden sie im Monat etwa zwei Kilo Gewicht verlieren. Es dauert ungefähr zwanzig Minuten, bis das Hormon Leptin dem Gehirn meldet: Der Körper ist satt. Das heißt: Wir brauchen eigentlich gar keine Diäten, wir müssen lediglich aufhören zu essen, wenn wir satt sind. Was brauchen wir dazu? Zeit zum Genießen und Zeit, den Körper spüren zu lassen, dass er genug hat.
Ich unterscheide vier Typen von Essern: Den Nimmersatt, das sind Menschen, die bei jeder Mahlzeit viel zu viel essen und gar nicht merken, dass sie satt sind. Diesen Menschen hilft es, ein Essprotokoll zu führen. Sie sollten einen Zettel neben den Teller legen, auf den sie schreiben, was sie alles auf dem Teller haben. Sie sollten außerdem immer einen Strich machen, wenn sie eine Gabel voll genommen haben. Auf diese Weise wird ihnen klar, was und wie viel sie essen, und sie nehmen sich dadurch mehr Zeit beim Essen. Es ist wichtig aufzuhören, wenn man satt ist. Dann geschieht etwas Herrliches. Das für die jeweilige Person perfekte Gewicht pendelt sich automatisch ein.
Der Daueresser nimmt gar nicht wahr, dass er ständig irgendeine Kleinigkeit mümmelt. Dieses Verhalten kommt häufig bei Leuten vor, die keiner Beschäftigung nachgehen, habe ich beobachtet. Sie essen, weil sie nichts anderes zu tun haben. Lässt man sie ein Essprotokoll ausfüllen, sind sie häufig erschrocken über die Menge, die sie über den Tag verteilt essen.
Rauschesser oder Binge-Eater essen unheimlich viel, aber erbrechen sich danach (anders als Bulimiker) nicht. Sie sind häufig Spannungs- oder Konfliktesser, sie hauen sich den Bauch voll, wenn es Konflikte gibt. Wichtig für diese Gruppe ist, ebenfalls zu lernen, Konflikte anzusprechen.
Der Nachtesser schließlich ist meist ein Einsamkeitsesser. Tagsüber kann er gut vor seinen Gefühlen weglaufen, aber nachts, wenn er nicht schlafen kann, entfalten die ganzen verdrängten Gefühle und die Einsamkeit ihre Macht. Genau das ist das Thema der Therapie – und nicht das, was gegessen wird.
Bei Essstörungen ist es wichtig, herauszubekommen, welche Gefühle sich dahinter verbergen. Lernen Menschen, ihre Bedürfnisse auf andere Weise zu stillen, löst sich der Zwang, sich vollzustopfen, oft auf.
Ein gutes Beispiel ist eine mir bekannte Gruppe von übergewichtigen Frauen, die öfter mit anderen Übergewichtigen zusammenkamen. Bei den Treffen drehte sich anfangs alles immer nur ums Gewicht und ums Essen. Um Rezepte, Light-Produkte, Diätmethoden, immer diese Themen, die sowieso zu nichts führen. Dreißig von ungefähr hundertzwanzig Frauen hatten irgendwann keine Lust mehr auf diese Treffen und gründeten eine Ballettgruppe. Nach einiger Zeit hatten sie viele Auftritte in und um München herum. Sie nannten sich das Tonnen-Ballett. Was passierte? Nach ein paar Jahren gab es das Tonnen-Ballett nicht mehr. Warum? Weil sie alle abgenommen hatten, denn sie hatten soziale Interaktion!
Die Magersucht ist die gefährlichste aller Essstörungen. Zehn Prozent aller Magersüchtigen sterben. Sie verhungern. Manche Magersüchtige sterben mit 33 Kilo, und andere leben mit 28 Kilo, man weiß nie, wann es so weit ist. Die Patienten sind meist nicht selbst motiviert, eine Behandlung zu machen, sie sind fremd motiviert oder rational motiviert. Häufig leiden Magersüchtige an einer Körperschemastörung. Sie nehmen ihren Körper anders wahr, als er tatsächlich ist – viel dicker.
Magersüchtige und Bulimikerinnen haben oft eine ähnliche Familiendynamik. Sie kommen aus der oberen Mittelschicht, in der Familie herrscht eine pseudoharmonische Stimmung, die Mutter und die Tochter sind Freundinnen. Magersüchtige sind sehr gut angepasst, sind gut in der Schule und gute Sportlerinnen.
Die Magersucht ist eigentlich keine Essstörung, sondern eine Angststörung. Die Erkrankten wechseln häufig von der Kindrolle in die Krankenrolle, um das Erwachsenwerden zu vermeiden, und haben Angst, sich dem Leben zu stellen. Die Symptomatik erlaubt ihnen, dem Leben mit all seinen Herausforderungen auszuweichen. In der Therapie liegt der Fehler dann darin, sich nur auf die Essstörung zu fokussieren und nicht die soziale Phobie zu erkennen, die dahintersteckt.
Dies ist für mich eine typische Konstellation: Die Tochter eines Flugkapitäns kam vor ein paar Jahren zu mir in Behandlung. Der Vater war ein Pilot wie aus dem Bilderbuch, breitschultrig, charismatisch, die Mutter eine gutaussehende, perfekt geschminkte Stewardess. Beide waren außerordentlich intelligent und einnehmend. Zwischen den Eltern stand ein 175 cm großes, 35 Kilo schweres Mädchen.
Ich sagte zu ihr: »Klappern Sie rein!«, denn wie sollen Magersüchtige ein Gefühl für ihren Körper bekommen, wenn alle so tun, als wäre nichts. Zwischen diesen beiden Eltern gab es sehr wenig Platz für die junge Frau.
Die Tochter war mit vierzehn zu einer hübschen, jungen Frau herangewachsen, die Männer fingen an, ihr hinterherzusehen. Mutter und Tochter gingen zusammen ins Sportstudio und verhielten sich mehr wie Freundinnen. Die Tochter wurde langsam, aber ungewollt zur Konkurrentin der Mutter. Durch die Essstörung konnte die Tochter in der Kindheitsrolle verweilen, sie war keine Konkurrentin mehr für die Mutter, alle sorgten sich um sie und bemitleideten sie. Und der Konflikt der Eltern wurde überdeckt. Die beiden gingen schon eine Zeitlang fremd, doch anstatt das untereinander zu klären, vertrauten sich beide der Tochter an.
In meiner Sprechstunde wurde das Thema auf den Tisch gebracht. Die Eltern haben sich bald darauf getrennt. Damit verlor die Essstörung ihren Sinn, und die Tochter hatte die Chance, gesund zu werden – was ihr auch gelang.
Eltern, die verzweifelt beobachten, dass ihr Kind sich nahezu zu Tode hungert, rate ich, mit der Tochter oder dem Sohn eine Gewichtsgrenze zu vereinbaren: Sobald sie oder er ein lebensgefährdendes Gewicht erreicht hat, das ein Arzt individuell bestimmt, muss sie oder er freiwillig in eine beschützte Station der Psychiatrie gehen oder wird wegen Eigengefährdung zwangseingewiesen. Das seinem Kind so zu sagen und dann auch konkret umzusetzen, ist wahnsinnig schwierig. Aber Eltern müssen hier unbedingt die Verantwortung abgeben. Andernfalls verhalten sie sich wie Co-Abhängige und tragen dazu bei, dass der Rest an Selbsterhaltungswillen bei dem oder der Magersüchtigen verschüttet wird.
Die Bulimie findet in aller Heimlichkeit statt. Bulimikerinnen sehen meist gut aus, viele von ihnen könnten Models sein. Die Krankheit beginnt meist schleichend. Betroffene erbrechen sich einmal in der Woche, dann einmal am Tag und schließlich mehrmals am Tag. Sie ruinieren sich die Zähne, die Speiseröhre, alles. Ein großer Teil des Selbstwertgefühls wird bei ihnen über das Aussehen bestimmt. Bulimikerinnen wollen perfekt sein, sie haben auch den Anspruch, alles kontrollieren zu wollen. Das gelingt ihnen mit ihrem Gewicht. Sie haben sich jedoch eine Krankheit zugezogen, die sie nicht mehr beherrschen. Und dafür bekämpfen sie sich mit großer Verzweiflung selbst.
Diese Patienten müssen in erster Linie lernen, dass sie ihren Selbstwert nicht nur über ihr Aussehen definieren. Auch die Bulimie ist, richtig verstanden, keine Essstörung, sondern eine Konfliktverarbeitungsstörung. Die Patienten müssen lernen, Konflikte in ihrem Leben zu lösen. Bei den Betroffenen muss zunächst die Motivation zur Behandlung geweckt werden, dann muss der Fokus verändert werden, sie müssen wegkommen von dem oberflächlichen Bild, das sie von sich haben.
Auch Übergewicht wird heute noch meistens falsch behandelt, denn bei Übergewichtigen ist es wichtig, zu überlegen, welche Funktion das Essen übernimmt. Häufig hat man es mit einem Teufelskreis zu tun: Jemand ist in der Schule übergewichtig, er wird ausgegrenzt, geht in die Isolation – und isst.
Krankhafte Schlafstörungen beginnen schleichend. Sie setzen sich fest, können das Leben extrem beeinträchtigen und echten Krankheitswert bekommen, wenn man nicht rechtzeitig einschreitet. Schlafstörungen, das klingt für viele Menschen ja nach ein bisschen im Bett hin- und herdrehen, Schäfchen zählen und dann irgendwann doch ins Reich der Träume gleiten. Wer schon mal ernsthafte Schlafstörungen hatte, weiß, dass das ein Martyrium sein kann. Ich habe in unserer Klinik zahlreiche Patienten erlebt, die viel Geld für eine einzige durchgeschlafene Nacht bezahlt hätten.
Schlafstörungen sind das Achsensymptom der Depression – man muss sie ernst nehmen. Es gibt keine Depression, die nicht von einer Schlafstörung begleitet wird. Und keine Schlafstörung, die nicht irgendwann in einer Depression endet. Achtzig Prozent aller Deutschen klagen immer wieder über Schlafstörungen, jeder Zehnte leidet unter chronischen Problemen mit dem Schlaf. Mit gestörtem Schlaf kommt man nicht zu der Erholung, die man braucht – so besteht ein hohes Risiko, krank zu werden.
Über Probleme mit dem Schlaf kursiert eine Menge Unsinn – deshalb hier das Wichtigste zusammengefasst: Es ist normal, bis zu zwanzigmal in der Nacht wach zu werden – nicht normal ist es allerdings, danach nicht wieder einschlafen zu können. Zu Beginn des Schlafs finden besonders viele Tiefschlafphasen statt, nach vier bis fünf Stunden hat der Körper sich vollkommen erholt (ungefähr gegen drei Uhr). In der zweiten Hälfte der Nacht dominieren die REM -Phasen. Hierbei erholt sich die Psyche. Der Schlafende ist in dieser Zeit wie gelähmt.
Bei Menschen, die »normal« schlafen, sieht das dann in etwa so aus: Sie gehen um 23 Uhr müde ins Bett, bleiben etwa zwei bis drei Minuten wach (die Wachphase), nach ungefähr zehn Minuten trudeln sie in Phase 1 , danach in Phase 5 und 3 . Alle diese Phasen dienen lediglich zum Einschlafen (die Einschlafphasen). Es folgt Phase 4 , die Tiefschlafphase. Hier sind die Muskeln entspannt, Blutdruck und Puls sinken – der Körper erholt sich. Anschließend kommen wir in Phase 5 , die REM -Phase (REM = Rapid Eye Movement), der Puls kann bis auf 120 steigen, der Blutdruck bis auf 200 mm/hg. Wir träumen aktiv, die Träume aus der REM -Phase können oft nicht erinnert werden. In diesen Phasen wird unglaublich viel verarbeitet. Das Gehirn kaut aktuelle Konflikte durch, manchmal entwickelt es sogar Lösungen. Was am Tag passierte, wird in der REM -Phase ins Langzeitgedächtnis übertragen.
Manche Menschen bereiten ihre Schlafstörung systematisch vor, sage ich meinen Patienten gerne. Es lohnt sich, zu analysieren, was vor dem Schlafengehen passiert. Schlechte Gefühle schaden dem Schlaf. Ärger und Sorgen des Tages, ungeklärte Konflikte sind Gift. Die meisten Deutschen gucken kurz vor dem Schlafengehen Nachrichten oder einen Krimi, lassen sich also mit Negativem und Gruseligem nur so bombardieren. Das reibt auf. Das nämlich ist der Stoff, mit dem sich unser Gehirn zu Beginn der Nacht beschäftigt.
Es empfiehlt sich, statt sich zu ärgern und fernzusehen, bei einem Spaziergang zur Ruhe zu kommen, ein Buch mit positivem Inhalt zu lesen, zu meditieren oder angenehme Musik zu hören. Für Menschen mit Depressionen ist es besonders wichtig, vor dem Schlaf nicht in die altbekannte Negativspirale der Gedanken zu geraten, sondern Erinnerungen hervorzuholen, die positiv sind, und sei es nur eine kleine Begebenheit des Tages, denn gerade in der ersten REM -Phase wird der Gedanken- und Gefühlsstoff vor dem Einschlafen in das Langzeitgedächtnis eingelagert.
Grundsätzlich gilt diese Formel: Wer am Tag viel erlebt, durchläuft nachts viele REM -Phasen. Wer sich tagsüber viel bewegt, dem werden nachts viele Tiefschlafphasen beschert. Wenn man daran denkt, wie viele Deutsche sich zu wenig bewegen oder auch zu wenig erleben, dann ist es kein Wunder, dass es so viele Menschen mit Schlafstörungen gibt.
Wissen Sie übrigens, welcher Schlaftyp Sie sind? Und auch, dass es nicht einfach nur mit Ihrer Faulheit zusammenhängen muss, wenn Sie morgens nicht aus dem Bett kommen?
Es gibt Lerchen und Eulen. Das ist in den Genen festgeschrieben, kaum zu verändern und wissenschaftlich bewiesen. Lerchen gehen früh ins Bett und stehen problemlos morgens früh auf. Eulen hingegen werden erst sehr spät müde, sie kommen vor 11 Uhr nicht aus dem Bett.
Männer sind vermehrt Eulen, Frauen Lerchen. Viele Eulen machen den Fehler, zu früh ins Bett zu gehen, weil sie morgens ja früh aufstehen müssen. Sie liegen dann herum und können nicht einschlafen. Schlafstörungsalarm! Die Lösung: Sie müssten einfach wach bleiben, bis sie wirklich müde sind. Lieber weniger schlafen und dafür richtig, als sich stundenlang herumwälzen. Nach vier bis sechs Stunden Wachzeit (wenn sie um 11 Uhr aufgestanden sind, also nachmittags), kommen diese Menschen erst richtig in Gang. Zehn bis zwölf Stunden nach dem Aufwachen (also ab 2 1 Uhr) erreichen sie das Maximum ihrer Leistungsfähigkeit. Es gibt auch noch die Mischform. »Leulen«, Leute, die spät ins Bett gehen und früh aufstehen.
Man kann seinen Schlaftyp nicht ändern. Um herauszufinden, welcher Schlaftyp man ist, sollte man auf das Schlafverhalten im Urlaub achten: Lerchen sind auch im Urlaub zwischen 22 und 23 Uhr müde, Eulen können bis um 4 oder 5 Uhr aufbleiben.
Gegen seinen Schlaf-wach-Rhythmus zu verstoßen, bedeutet Stress. Eulen-Kinder beispielsweise haben es in einem Schulsystem sehr schwer, in dem um 7 .30 Uhr der Gong ins Klassenzimmer befiehlt. Schade, dass unsere Politiker sich so wenig von wissenschaftlichen Erkenntnissen beeinflussen lassen.
Auf der Suche nach Anerkennung kann man sich verlieren. Ich erlebe das oft – besonders bei den Managern, die ich seit vielen Jahren coache. Tolle, mutige, sehr begabte Menschen mit ausgeprägt narzisstischen Zügen habe ich vor mir, die außergewöhnlich viel in Bewegung bringen und sehr schnell Großartiges erreichen – allerdings dabei die Bodenhaftung verlieren und hochgefährdet sind, innerlich zu vereinsamen oder zu verbrennen.
Es ergibt sich folgende Dynamik: Zunächst sind diese Menschen enorm zielorientiert. Sie überholen andere, sie kommen weit nach oben. Sie stellen sich selbst immer weniger in Frage, da sie dem Irrtum verfallen, ihr Aufstieg und die Bewunderung der Umwelt seien schon Beweis genug, dass sie verdammt gut sein müssten und ihr Lebensentwurf stimmt. Sie umgeben sich klassischerweise bald nur noch mit Claqueuren, die sie bestätigen, Kritiker werden zur Seite gedrängt. Die Überzeugung, großartig zu sein, breitet sich bis ins Privatleben aus – wenn die Partnerin oder der Partner sich wehren, sucht sich der Narzisst schnell Ersatz. Und der ist gerade für solche Menschen zunächst leicht zu finden, da es eine Menge Leute gibt, die sich gerne im Glanz anderer sonnen. Manche wachen erst auf, wenn die Claqueure von ihnen abrücken, sie seelisch am Ende sind und nur noch oberflächliche Bekannte haben, auf die sie sich im Ernstfall nicht verlassen können.
Bei dem Klienten, von dem ich jetzt erzählen will, war das zum Glück etwas früher der Fall. Es handelt sich um einen sympathischen Mann Mitte vierzig, verheiratet, drei kleine Kinder. Er war zu dem Zeitpunkt, als ich ihn kennenlernte, Anfang vierzig, habilitiert und seit Jahren Lehrstuhlinhaber an einer anerkannten deutschen Universität – einer der jüngsten Professoren in Deutschland. Nur vorübergehend war er als Oberarzt tätig gewesen, dann wurde er, obwohl fast ohne Führungserfahrung, zum Leiter einer großen universitären Abteilung mit über hundert Mitarbeitern befördert. Er arbeitete und arbeitete, schrieb Bücher und Artikel, hielt Vorträge und wurde gefeiert.
Morgens, wenn seine Kinder noch schliefen, verließ er die Wohnung, wenn er gegen 22 Uhr zurückkam, schliefen seine Kinder bereits. An den Wochenenden war er oft auf Kongressen. Zunächst war das alles herrlich für ihn. So viel Ehre! So viel Geld! Doch irgendwann spürte er, dass er sich von seiner Familie abgehängt fühlte. Es tat ihm weh, dass er nicht mitbekam, wie seine Kinder aufwuchsen. Er musste sich auch der bitteren Wahrheit stellen, dass seine Frau unglücklich war und über eine Trennung nachdachte.
So wie diesem erfolgsverwöhnten Mann ist es auch vielen anderen Betroffenen lange nicht bewusst, dass alles gleichzeitig nicht funktionieren kann: Karriere machen, ein guter Vater sein, eine erfüllende Ehe führen und innige Freundschaften pflegen. Ich aber halte es für besonders wichtig, den privaten Bereich zu regulieren – er kann die zentrale und sicherste Kraftquelle des Lebens sein.
Daran habe ich mit diesem Professor gearbeitet. Er verstand schnell – und zog Konsequenzen. Es gelang ihm, seine Lebensqualität enorm zu verbessern. Er entschloss sich, überflüssige Nebenfunktionen abzulehnen, obwohl er damit einige seiner Förderer brüskierte, und konnte dadurch ein großes Zeitfenster für sich, seine Beziehung und seine Kinder öffnen. Gerade Männer in Führungspositionen müssen mit Gegenwind rechnen, wenn sie ihrem Privatleben einen hohen Stellenwert zumessen – schließlich halten sie anderen damit einen Spiegel vor.
Im beruflichen Bereich musste dieser narzisstisch veranlagte Mann lernen, dass man als Chef nicht Everybody’s Darling sein kann. Es war ihm lange schwergefallen, sich abzugrenzen. Er neigte dazu wie viele Menschen, die sich an Anerkennung auf einem sehr hohen Level gewöhnt haben, Konflikte zu vermeiden und nicht anzusprechen, schon gar nicht bei der Person, die sie betrafen. Er hatte indirekte Kommunikationsstrategien entwickelt. Er sprach mit anderen über die betreffenden Personen und beauftragte diese, das schwierige Thema zu lösen.
Grundsätzlich gilt: Für solche Hochleistungsträger ist es wichtig, sich einem Therapeuten oder Coach zu stellen, der nicht in die allgemeine Bewunderung einstimmt, sondern den Mut hat, sein Gegenüber schonungslos mit seinen Schwächen zu konfrontieren. Es ist daher von Vorteil, wenn der Therapeut selbst Führungserfahrung hat und finanziell unabhängig ist, um diesem Menschen die Stirn bieten zu können. Ein Narzisst hasst es, in Frage gestellt zu werden. Er will die unangenehmen Symptome beseitigen und weitermachen wie bisher.
Viele Firmen machen den Fehler, eigene Coachs zu beschäftigen, die aufgrund ihrer finanziellen Abhängigkeit den Auftraggeber immer wieder in seiner Fehlwahrnehmung bestätigen, weil sie auf den nächsten Auftrag warten.
Traumata sind fast immer verbunden mit vollkommenem Kontrollverlust, Ohnmacht und Todesangst. Überlebende von Geiselnahmen, Terroranschlägen, Überfällen, Missbrauch, Folter oder Naturkatastrophen erleiden ein Trauma, aber auch Menschen, die mitbekommen, wenn jemand gequält wird oder gewaltsam stirbt. Solche Extremsituationen sind eine völlige Überforderung für die Betroffenen, sie sind ihnen meist gänzlich unvorbereitet ausgesetzt. Die Reaktionsmuster, die normalerweise bei Gefahr zur Verfügung stehen – Flucht oder Angriff –, funktionieren nicht mehr. Das Erlebte wird abgespalten und eingefroren. Nur so können die Menschen erst mal weiterleben.
An einem schweren Trauma gibt es wirklich nichts kleinzureden, es ist eine enorme Herausforderung für jeden Menschen, der so etwas Schreckliches erlebt hat. Und dennoch, das müssen wir uns vor Augen halten, gehören auch Psychotraumata zu unserem Leben, denn Überfälle, Missbrauch, Folter und Naturkatastrophen passieren jeden Tag, jede Minute. Der Mensch hat deshalb durchaus Potential, solches Unheil zu verkraften.
Die Reaktion unseres Gehirns, das furchtbare Erlebte, die schlimmen Bilder zunächst wegzusperren und zu verdrängen, ist ein kluger Schutzmechanismus. Manche Menschen leben bis zu ihrem Tod mit einem verkapselten Trauma. Sie bekommen ihr Leben trotzdem gut hin. Vieles spricht heute dafür, dass das in Ordnung ist und die Natur das schon richtig eingerichtet hat. Ich erwähne das, weil ich in meiner Sprechstunde häufig Menschen erlebe, die sich selbst unter Druck setzen. Sie wollen jeden Winkel ihrer Lebensgeschichte ausleuchten, um belastende Situationen zu finden, die sie vielleicht noch nicht entdeckt haben.
Neuesten Untersuchungen zufolge finden etwa sechzig Prozent der Menschen mit schweren traumatisierenden Erfahrungen wieder ihr seelisches Gleichgewicht ohne jede professionelle Hilfe. Ohne professionelle Hilfe heißt meistens: Es gibt Menschen in ihrem Umfeld, zu denen eine verlässliche Bindung besteht, oder es gibt vergleichbar günstige Bedingungen.
Bei den restlichen vierzig Prozent kann die erlebte Katastrophe zu einer posttraumatischen Belastungssituation CPTBS führen, die extrem quälend ist. Man vermutet, dass Stresshormone, die während des Erlebnisses ausgeschüttet wurden, dabei eine Rolle spielen. Sie verhindern, dass das Erlebte abgespeichert wird. Die Erinnerung liegt sozusagen als Rohmaterial vor, das nicht richtig verpackt und etikettiert wurde. Daher kehren Bruchstücke immer wieder als Flashbacks zurück.
Solche sich unkontrollierbar jäh aufdrängenden, schmerzlichen Erinnerungen und Alpträume sind die Hauptsymptome bei PTBS . Betroffene können nicht zwischen dem Hier und Jetzt und dem Vergangenen unterscheiden, wenn die Bilder sie überfluten. Nervosität, Gereiztheit, Panik und Depressivität prägen ihr Leben. Immer wieder kann auch das Gefühl übermächtig werden, nicht mehr leben zu wollen bzw. zu können, weil das Leben so unsicher ist und sie von der Angst beherrscht werden, dass wieder so etwas Schreckliches passieren könnte.
Hier ist professionelle Behandlung angesagt. Diese Menschen müssen an die Hand genommen werden, damit sich ihr in Aufruhr befindliches Gefühlssystem wieder beruhigen kann und damit es ihnen gelingt, das Erlebte in ihr Leben zu integrieren.
Der erste wichtige Schritt ist Stabilisierung. Erst wenn das seelische Gleichgewicht wiederhergestellt ist, können Gefühle und Erinnerungen zugelassen werden. Manchmal ist es, wie schon gesagt, richtig, dass Erinnerungen verkapselt bleiben, weil die Betroffenen momentan oder auch ein Leben lang damit überfordert wären. Auch wenn sich eine traumatische Erfahrung mit aller Wucht bemerkbar macht, kann es richtig sein, in der Therapie nur einen Teil der Gefühle zu zeigen und anzuschauen. Wie so oft kommt es darauf an, sich selbst und seine Grenzen gut zu spüren.
»Normalisieren und integrieren«, das ist eine wichtige Handlungsanweisung im Umgang mit Traumata. Ich kann von mir behaupten, eine wandelnde posttraumatische Belastungsstörung zu sein, die sich gut integriert und normalisiert hat.