WAS KANN ICH SELBST TUN?

Gegenwart verändert sich, indem man sie mit neuen Gedanken und Erlebnissen überschreibt. Das Leben spielt sich heute ab. Wenn uns die Vergangenheit ärgert, dann können wir die Gegenwart dagegensetzen. Unser Gehirn ist formbar, auch wenn die wesentlichen Prägungen in der frühen Kindheit entstehen und wir an diesen Verschaltungen nicht mehr rütteln können.

Aber wir können bei uns selbst für positive Gefühle sorgen. Indem wir uns ausprobieren. Erfahrungen machen. Ob mit Menschen oder der Natur. Indem wir eben nicht in der alten Falle hängenbleiben, die da ist: immer über die Vergangenheit nachdenken.

Es gibt in Asien einen Trick, Affen zu fangen. In einen großen, irgendwo befestigten Kürbis wird eine Orange gelegt. Der Affe steckt seine Hand hinein, greift nach der Orange – und kriegt die Orange nicht heraus. Statt die Orange loszulassen, seine Hand wieder herauszuziehen und abzuhauen, hängt er fest und wird so zur leichten Beute für seine Jäger.

Diese Geschichte passt zu vielen Menschen. Sie lassen ihre alte Geschichte nicht los. So, als würde die Belohnung schon kommen, wenn sie nur lange genug daran festhalten. Dabei sind erwachsene Menschen doch frei. Sie können sich Neuem, anderem zuwenden, auch wenn sie äußerst bittere Erfahrungen gemacht haben.

Auch diese Einsicht kann ein reifer Mensch haben: Einsamkeit kann unheimlich schön sein, Leiden ebenso, Traurigsein auch. Es sind intensive Gefühle. Sie machen deutlich, dass man lebendig ist. Es gibt kein Gesetz, das besagt, dass das Leben immer heiter und angenehm sein muss. Aber ebenso wenig gibt es ein Gesetz, das besagt, dass es immer traurig und immer einsam ist.

Das Leben enthält viel Veränderung, das können wir an der Natur ablesen. Wichtig ist es, für die Veränderungen offenzubleiben und nicht in Panik zu geraten, wenn die Zeiten schwierig sind und Verzweiflung das Herz umklammert.

Pflegen Sie Ihre Beziehung

Das Thema intime, innige Beziehung ist so wichtig – und wird merkwürdigerweise so oft unterschätzt. Eine gute intime Beziehung ist eine hervorragende Voraussetzung, um seelisch gesund zu bleiben. Körperliche Berührung, miteinander sprechen, einander Feedback geben, Sorgen und Glücksmomente teilen – das alles ist gut für den Menschen. Es löst angenehme Gefühle aus und kurbelt die Ausschüttung der Endorphine an. Diese grandiose Ressource als Paar zu nutzen, ist eine sehr gute Idee.

In der Anfangszeit einer Beziehung, in der Phase der großen Verliebtheit, ist das auch allen klar, und jeder spürt die segensreiche Wirkung. Doch leider hält diese Phase nicht allzu lange an.

Ein beliebter Vortrag, den ich in Scheidegg regelmäßig gehalten habe, heißt »Die Kunst der Ehezerrüttung«. Mein Publikum amüsierte sich immer sehr, aber ich bin nicht sicher, ob allen klar ist, dass sie selbst auch betroffen sind.

Meine Kernaussage lautet: Millionen Paare bemühen sich nicht mehr umeinander. Sie ziehen sich hübsch an – fürs Büro. Oder wenn sie mit anderen ausgehen. Zu Hause, nur mit dem Partner, lassen sie sich gehen. Ein schönes Symbol dafür: der »Wohnbeutel«, man kann auch Jogginganzug dazu sagen oder einfach hässliches, hundert Prozent unerotisches Teil für Feierabend und Wochenende. So begegnen sich also Paare, die ein paar Jahre zusammen sind.

Und nicht nur hier hält Nachlässigkeit Einzug. Auch das Interesse aneinander wird nicht gepflegt. Es beginnt ein Wettkampf um Aufmerksamkeit, um Lob, um Liebe. Zwei Bedürftige ringen miteinander – und zu guter Letzt herrscht eine Pattsituation. Der eine gibt dem anderen nichts, weil er vom anderen auch nichts bekommt. So versiegt die Quelle, die eigentlich so sehr zum Wohlbefinden beitragen könnte.

Wenn möglich beziehe ich die Partner mit ein, wenn Menschen in Krisen zu mir kommen. Oft stellt sich heraus, dass es auch oder sogar vor allem in der Beziehung zentrale Probleme gibt. Die Patienten sind immer wieder überrascht darüber. So als wäre es möglich, dass eine Partnerschaft, die von Missachtung geprägt ist, keine große Wirkung hat. Doch! Hat sie!

So viele Paare führen ein furchtbares Leben miteinander. Was ich da schon alles gehört habe. Die Menschen klauen sich gegenseitig die Post, sie kritisieren sich dauernd, sie machen sich vor Nachbarn schlecht. Oder sie leben gleichgültig nebeneinanderher. Lieber versaut man sich selbst das ganze Leben, als einen Schritt auf den anderen zuzugehen. Jeder sitzt in seinem Schützengraben, Sturmhaube auf dem Kopf, voller Angst, sich dem Konflikt zu stellen. Keine körperliche Nähe, ständige Anspannung.

Ich arbeite gerne mit Paaren. Oft ist die Paarbeziehung der Schlüssel für Ängste und Depressionen. Glauben Sie mir das, es gibt unzählige Beispiele: Ein Partner geht in die Depression, statt sich beruflich weiterzuentwickeln, damit er den anderen nicht überholt und für ihn bedrohlich wird. Ein anderer entwickelt eine Angststörung, damit der Partner bloß nicht wagt, sich zu entfernen.

Ich frage die traurigen Paare, die vor mir sitzen, direkt, was sie füreinander empfinden. Meistens kommt etwas verdruckst die Antwort »Wir lieben uns«. Dann frage ich, wann sie einander das letzte Mal ein Kompliment gemacht haben. Oft fällt ihnen dann nichts Konkretes ein.

Ich spreche alles an, was mit ihrem Kontakt zu tun hat: Woran sehen Sie, dass Sie sich lieben? Ich bin kein Voyeur, aber ich halte es für sehr wichtig, offen über Sexualität zu sprechen. Viele Therapeuten tun das nicht, weil es ihnen selbst peinlich ist oder sie Angst haben, voyeuristisch zu wirken. Dabei ist die Sexualität ein Seismograph für die Qualität der Beziehung. Wenn die Sexualität schlecht ist oder gar nicht mehr stattfindet – nicht mal in Form von Zärtlichkeit –, dann ist man mit der falschen Person zusammen. Das bedeutet nicht, dass sich ein solches Paar sofort trennen muss. Aber es bedeutet, dass die beiden unbedingt darüber sprechen müssen, was bei ihnen los ist.

Über Sexualität wird in Paarbeziehungen heute genauso wenig gesprochen wie in den prüden fünfziger Jahren, das ist meine Erkenntnis aus der Arbeit mit Hunderten Paaren. Sie leiden, sie schweigen, sie gewöhnen sich daran, allein zu onanieren, sie reden sich ein: Das ist bei anderen doch auch nicht besser; man kann nicht alles haben; mein Mann ist ein ganz Lieber, Sex ist nicht wichtig. Das stimmt aber nicht, es gibt eigentlich bei jedem ein Grundbedürfnis nach Berührung und nach Intimität. Und es ist schade und kann krank und traurig machen, sich dieses Grundbedürfnis abzugewöhnen.

Ich finde es bedauerlich, wie falsch oft mit sexuellen Problemen umgegangen wird: Urologen verschreiben Berge von Potenzmitteln, die die Männer – heimlich! – schlucken, eine halbe Stunde bevor es zur Sache gehen könnte. Frauen (und auch Männer) spielen Orgasmen vor, weil sie den anderen nicht lang strapazieren oder alles schnell hinter sich bringen wollen. Da sind Menschen, die eng zusammenleben, die glauben, sich gut zu kennen und zu vertrauen, aber sie zeigen sich dem anderen gar nicht wirklich. Wie sollen sie sich angenommen fühlen, wenn sie immer etwas zurückhalten, verheimlichen?

Es gibt nur eine Lösung, und die geht so: im Kontakt bleiben – und wenn der Kontakt abgebrochen ist, sich Zeit nehmen, eine angenehme Atmosphäre schaffen, einander zuhören, offen miteinander sprechen.

Folgende Entwicklung gibt es häufig: Die Paare hören zuerst auf, sich zu streicheln, dann sich zu küssen, schließlich bleibt nur noch ab und zu Geschlechtsverkehr übrig, der wird durchgezogen, eher pro forma, um sich zu bestätigen, dass man in einer Paarbeziehung lebt, die den Namen verdient. Verdient sie allerdings auch so nicht.

Ich bestärke die Paare, sexuell von vorne anzufangen, sich neugierig zu entdecken. Sie sollen erotische Literatur lesen, von mir aus auch gute Pornos anschauen, um verbalisieren zu lernen, was sie wollen, was sie anmacht und mit Lust erfüllt. Manchmal verbiete ich einem Paar streng, miteinander Sex zu haben. Ich sage den beiden, sie dürften nur darüber sprechen. Der Mann solle seiner Frau am Tisch sagen: »Wenn ich nicht so verklemmt wäre, würde ich jetzt deine Lippen liebkosen, deine Brüste auspacken …« Die Paare müssen dann oft über sich selbst lachen, wenn sie das umsetzen, was ich ihnen gesagt habe.

Verbale Erotik macht an, das ist bekannt. Aber viele reden nicht über Sex. Sie reden überhaupt nicht über sich selbst und ihre Wünsche, sondern führen ein stilles, verklemmtes Leben und wundern sich, dass sie furchtbar traurig dabei werden.

Im besten Fall redet sich der Mann dann ordentlich in die Erregung, dem ich verordnet habe, mit seiner Frau keinen Sex zu haben; die beiden sagen sich: »Der Dogs ist doch doof … wir haben jetzt einfach Sex.« Wunderbar. Es ist ein bisschen lustig geworden. Intervention hat gewirkt.

Manchmal schicke ich ein Paar für ein Wochenende allein auf eine Hütte, die ich kenne und die mitten in den Bergen liegt. Es ist ein Geheimtipp, ich gebe ihn gerne weiter, mir liegt ja daran, dass meine Patienten davon profitieren.

Viele erzählen mir dann, wenn sie zurück sind: »Wir haben uns nichts zu sagen, das haben wir gemerkt.« Und ich frage: »War es trotzdem schön?«, und wenn die Antwort ist: »Ja, wir haben uns miteinander wohl gefühlt«, dann mache ich ihnen Mut, das doch zu genießen. Ich sage: »Wer dreißig Jahre verheiratet ist, muss sich nicht dauernd etwas zu sagen haben. Der darf sich von dem Druck frei machen und auch mal die Ruhe und den Frieden miteinander genießen.«

Manchen Paaren gebe ich vor, dass sie nicht miteinander reden dürfen, sondern mal schweigen sollen. Das ständige belanglose Geplauder kann eine Ehe auch zerrütten, weil die Gespräche nie in die Tiefe gehen. Eine der Grundregeln ist: Distanz schafft Nähe, und Nähe schafft Distanz. Es ist wichtig, dass die Partner auch ein eigenes Leben und eigene Interessen haben. Und dass sie dann auch wieder Zeiten zu zweit haben, in denen Nähe entsteht. So hat man sich dann ab und zu eben doch etwas zu sagen.

Es kann auch eine gute Entscheidung sein, räumlich auseinanderzurücken, damit jeder seine eigenen Gefühle wieder spüren kann. Warum soll einer nicht mal vorübergehend ausziehen? Manchmal ist auch eine endgültige Trennung die beste Idee – und ich versuche dann zu vermitteln, dass so ein Schritt völlig normal sein kann: »Sie haben vor zwanzig Jahren gut zusammengepasst. Aber jetzt machen Sie sich gegenseitig das Leben zur Hölle«, sage ich und empfehle: »Lassen Sie das. Gestehen Sie es sich ein. Und schauen Sie jeder für sich, dass Sie ein gutes Leben führen.«

Bei mir selbst war es übrigens auch so. Ich habe 1984 geheiratet, wir haben eine wunderbare Tochter großgezogen – nach zwanzig Jahren hatten wir uns nichts mehr zu sagen. Es gab viele Dissonanzen und kaum mehr Überschneidungen. Wir haben uns getrennt, aber wir kommen jetzt gut miteinander klar.

Ich habe heute eine Form der Beziehung gefunden, die mir entspricht. Es ist auch wichtig, das herauszufinden. Beziehungen sind wichtig. Einsamkeit tut weh und kann krank machen. Ich habe eine Partnerin, doch wir sehen uns nur am Wochenende. Jeder von uns hat eine Ehe hinter sich. Jeder von uns braucht Raum für sich selbst. Mein Grundsatz ist: »Ich brauche dich nicht. Aber ich will dich.«

Abhängigkeiten sind ungesund. Natürlich gibt es in Familien finanzielle Verflechtungen, und man übernimmt Verantwortung füreinander. Das Wichtige ist: Jeder ist und bleibt ein Einzelwesen. Er kommt als solches auf die Welt und wird als solches sterben. Jeder ist dafür verantwortlich, dass er dem Leben seine guten Seiten abgewinnt, dass er seine Chancen nutzt und sein Potential entfaltet, so gut es geht. Und dass er für seine Botenstoffe sorgt – auch dann, wenn sein Gehirn nicht aufs günstigste verschaltet wurde und es bittere Erfahrungen gab.

Ich gehe sehr viel in die Natur. Wenn das Wetter schön ist, steige ich auf einen Berg. Ich habe eine Liebesbeziehung, die mir sehr wichtig ist, aber ich unternehme auch viel allein. Nach meinem Verständnis ist das ein wesentlicher Grundsatz in der Paarbeziehung: Nur wer allein leben kann, ist auch beziehungsfähig.

Wagen Sie etwas

Eine besonders traurige, besonders schreckliche und herausfordernde Zeit, die ich vor ein paar Jahren durchmachte, war im Nachhinein das Beste, was mir passieren konnte. Es war der 24 . Dezember 2005 . Mir standen verdammt einsame Tage bevor. Ich hatte mich ein halbes Jahr zuvor von meiner Frau getrennt, hatte nur wenige Freunde und hier und da mal eine kleine Affäre. Hinzu kam, dass ich seit mehreren Wochen Morddrohungen zugeschickt bekam.

Im Oktober war es losgegangen, da hatte ich einen Brief erhalten mit einer Patrone und einem Zettel, auf dem stand: »Weihnachten wirst du erschossen.« Natürlich hatte ich die Polizei informiert. Die Beamten nahmen meine Sorgen durchaus ernst und stellten verschiedene Untersuchungen an, ließen mich dann aber wissen, dass sie leider nichts machen könnten. Bei mir trafen weitere Drohbriefe ein – mit der Nachricht »Du hast noch fünf Wochen zu leben«; »Du hast noch vier Wochen zu leben« und so weiter. Weihnachten versprach also eine richtig harte Nummer zu werden.

Mein bester Freund hatte versucht, mich davon zu überzeugen, am 24 . Dezember zu ihm zu kommen. Auch meine damals einundzwanzigjährige Tochter, die von der Morddrohung nichts wusste, hatte mich zu sich eingeladen. Ich aber hatte alles abgelehnt und mich entschlossen, die Herausforderung anzunehmen. Ich verbrachte den Abend allein in dem großen, einsamen Haus am Bodensee. Die Polizei fuhr öfter Streife als die Wochen zuvor, die Türen hatte ich verriegelt, das Telefon war in greifbarer Nähe.

Heiliger Abend allein zu Hause, keine neue Liebe in Sicht – das reicht schon, um sich ziemlich mies zu fühlen und am Sinn des Lebens zu zweifeln. Dazu das Gefühl, jedes Geräusch draußen vor der Tür, jedes Knarzen der Treppe könnte bedeuten, dass sich der Mörder nähert. Es war wirklich schrecklich. Obwohl ich ganz bestimmt ziemlich abgehärtet bin, fühlte ich mich elend und einsam. Und vor allem: Ich hatte Angst.

Aber da ich Psychiater bin, sah ich das Ganze natürlich auch als eine Art Experiment und beobachtete mich. Ich nahm die Angst wahr, die mir die Kehle zuschnürte, auch die aufsteigende Panik, wenn ich mir meine private Zukunft vorstellte. Und als ich dann an die vielen Familien denken musste, die überall auf der Welt in großer Harmonie Weihnachten feierten, verspürte ich unangenehme Beklommenheit. Zwischendurch gelang es mir aber auch, mich vollkommen zu entspannen und meine Situation zu genießen, die Einsamkeit, die Unsicherheit.

Irgendwann machte sich so ein »Na und?«-Gefühl in mir breit. Ich empfand mich als mutig und war stolz darüber, das alles auszuhalten. Auch dieses Gefühl war da: Wer so tief unten ist, für den kann es eigentlich irgendwann nur wieder besser werden.

Am nächsten Tag lebte ich immer noch. Glücksgefühle überschwemmten mich. Auch am zweiten Weihnachtsfeiertag passierte nichts Schlimmes. Stundenlang saß ich vor der Terrassentür und schaute auf den Bodensee. Es ging mir gut. Erst kommt die Panik, dann kommt die Ruhe. Am dritten Weihnachtstag war ich so in mir ruhend, dass ich dachte, ich würde niemals wieder irgendjemanden sehen wollen.

Ich fühlte mich ungeheuer gestärkt. Was kann einem noch großartig passieren, wenn man so etwas hinter sich gebracht hat? Dennoch, es dauerte noch eine Weile, bis das Ende der Talsohle erreicht war. Diese hässliche Weihnachtsnacht war aber ein Schlüsselerlebnis für mich. Ich wusste jetzt: Ich stehe das durch.

Diese Geschichte habe ich immer wieder einmal bei den erwähnten morgendlichen Treffen der Patienten im Kaminzimmer der Allgäuer Klinik erzählt. Da waren so viele Menschen, denen der Mut fehlte, sich solchen Herausforderungen zu stellen, um dann daran zu wachsen. Viele beklagten: Das Leben sei nun mal so schwierig, da könne man sich nur verkriechen, verstecken oder suizidal werden. Wie oft habe ich so etwas gehört.

Es waren Menschen darunter, die schwere Schicksale erlitten hatten, wirklich. Viele von ihnen steckten in Schwermut und Angst fest und probierten sich selbst nicht mehr aus. Stattdessen nahmen sie endlos viele Therapiestunden in Anspruch, besuchten eine Klinik nach der anderen, über Wochen und Monate, verankerten sich immer stärker in ihrem »Es geht mir schlecht«-Leben, wurden immer schwächer und verloren jede Selbstachtung, weil sie nichts mehr wagten. Natürlich hatten sie dann auch irgendwann nicht mehr dieses Erfolgserlebnis, stolz darauf zu sein, aus eigener Kraft etwas geschafft zu haben, und sicher zu sein, bei allem, was es an Problemen gibt, wenigstens immer noch selbst die Zügel in der Hand zu haben.

Der Mensch ist von Natur aus feige und faul, vor allem wenn es darum geht, Konflikte auszutragen und sich Veränderungen zu stellen bzw. sich überhaupt den Herausforderungen zu stellen, die einen aus der Zone herausholen, in der man es sich eingerichtet hat. Nicht unbedingt gut eingerichtet hat, das muss ich hier betonen, sondern überhaupt eingerichtet hat. Das ist meine Erkenntnis. Menschen verharren ja auffällig oft in Konstellationen, unter denen sie leiden und die scheußlich sind. Sie jammern und wehklagen ständig, aber immerhin ist ihnen das vertraut, und das fühlt sich für sie erst mal besser an, als sich auf neue Erfahrungen einzulassen.

Runter vom Gas

Was wir auch im Alltag verändern können: das Tempo. Nicht mehr den schnellsten Zug, das schnellste Flugzeug nehmen oder mit dem Auto rasen, sondern den gemütlichsten Zug nehmen oder mit einem schnellen Auto langsam fahren. Was haben wir davon, immer schneller von einem Ort zum anderen zu kommen? Nichts.

Natürlich müssen wir oft mithalten, um den Anschluss nicht zu verlieren. Der Fehler vieler Menschen ist aber, dass sie sich auch in ihrer Freizeit reizüberfluten. Sobald ein Moment Zeit ist, werden SMS geschrieben, Mails gelesen usw. Als ich vor kurzem bei einem Vortrag gefragt wurde, warum die psychischen Erkrankungen so zunehmen, gab ich zur Antwort: »Weil wir die Fähigkeit verloren haben, in unserer Freizeit zu entspannen und Kräfte zu sammeln. Wenn wir Zug fahren, schauen wir nicht mehr aus dem Fenster, im Flugzeug schlafen wir nicht mehr oder lesen wir nicht etwas Entspannendes, unser Hirn wird ständig overloaded

»Wer durchs Leben rast, ist schneller tot, wer langsam geht, kann den Weg genießen.« Ist das nicht ein schöner Satz? Wir haben in der Klinik in Scheidegg aus gutem Grund das meditative Gehen entwickelt. Das Prinzip ist, ganz bewusst eine Strecke, die man leicht in zwanzig Minuten zurücklegen kann, in einer Stunde zu gehen und sich den Weg so einzuteilen, dass man keine Pausen macht, sondern langsam ans Ziel kommt.

Es ist schwer, aus trainierten Verhaltensmustern auszubrechen. Aber auch spannend, wenn man es mal wagt, denn man verblüfft die ganze Umwelt, die sich doch so daran gewöhnt hat, dass man seinen Verhaltensmustern treu bleibt.