„So verrückt und fröhlich die Menschen in diesem Land sein können, so grausam und brutal sind sie manchmal gegen alle, die sich nicht wehren können. Ihr müsst Entsetzliches durchgemacht haben. Doch jetzt seid ihr in Sicherheit, das verspreche ich euch!“
Diese Worte waren für die Knickerbocker eine Erlösung. Sie hatten allerdings ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil sie diesen freundlichen und herzlichen Mann anlügen und bestehlen mussten, um ihre Freunde Lilo und Dominik zu retten.
Diego de Riviera führte die beiden in ein riesiges Wohnzimmer, das mit Marmor ausgelegt war.
„Entschuldigt, dass ich euch nicht sofort geholfen habe, aber … ich … ich habe nicht gewusst, ob es sich nur um ein abgekartetes Spiel handelt, um mich zu überfallen. Ich bin natürlich sehr misstrauisch und … Na ja … ist egal!“
Axel hatte das Gefühl, dass der Mann ihnen vertraute. Er sprach ganz ungezwungen mit ihnen.
„Ich versuche immer wieder, armen Kindern zu helfen. Manchmal mit Erfolg“, berichtete de Riviera. „Oft ist es aber auch sehr enttäuschend.“
An einer Wand entdeckte Axel ein großes gerahmtes Foto. Es zeigte Männer, die auf einer Art Brücke standen. Alle drei trugen Raumanzüge und hielten ihre Helme unter dem Arm. Hinter ihnen war die Einstiegsluke einer Rakete zu erkennen.
Axel humpelte auf das Bild zu. Ihm tat zwar nichts weh, aber zu hinken konnte dem Eindruck, den er vermitteln wollte, nur förderlich sein.
Er betrachtete die drei Männer auf dem Foto. Einer hatte Sommersprossen und kurze rotblonde Haare. Er strahlte siegessicher. Der zweite blickte etwas zweifelnd und besaß ein hartes, kantiges Gesicht. Der dritte Mann war ihr Retter. Axel deutete auf das Foto und drehte sich verwundert zu de Riviera um.
„Der mit den roten Haaren heißt Morris MacMillan, der andere ist John Landers und der dritte … ja, das bin ich!“, sagte de Riviera und der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Ich war einer der ersten Brasilianer im Weltraum. Ich habe an einem Raumflug im berühmten Spaceshuttle teilgenommen. Wir sind drei Tage um die Erde gekreist und haben an Bord verschiedene Experimente durchgeführt. Einige waren sehr erfolgreich, andere sind fehlgeschlagen – das gehört nun mal dazu. Nach meiner Rückkehr auf die Erde wurde ich von zahllosen Journalisten belagert. Alle wollten mit mir reden. Ich habe ziemlich viel Geld mit Werbung für Getränke, Elektrogeräte und Schokoriegel verdient. Allerdings geht mir der Medienrummel ganz schön auf die Nerven, deshalb habe ich mich so weit wie möglich zurückgezogen.“
Der Astronaut schien froh zu sein, so dankbare Zuhörer gefunden zu haben.
„Deutsch habe ich an der Universität gelernt, Englisch auch. Portugiesisch ist meine Muttersprache und Spanisch beherrsche ich ebenfalls.“
Die Knickerbocker blickten ihn mit müden Augen an. Mit einem Mal schien de Riviera zu begreifen, wie erschöpft sie waren.
„Ich zeige euch, wo ihr schlafen könnt. Legt euch hin und ruht euch aus. Spätestens übermorgen seid ihr auf dem Weg nach Hause. Und keine Angst! In diesem Haus kann euch nichts passieren. Es ist gut gesichert.“
Die Detektive lächelten dankbar und folgten ihm ins obere Stockwerk. Ihr Zimmer hatte die Größe einer Sporthalle und verfügte über zwei Bäder.
„Ihr werdet alles finden, was ihr braucht. Habt ihr Hunger?“, wollte de Riviera wissen.
Axel und Poppi hatten sogar großen Hunger und vor allem Durst. Deshalb gingen sie zuerst in die Küche. Kurze Zeit später lagen sie gesättigt in weichen Betten und unterhielten sich flüsternd.
„Ich glaube nicht, dass dieser Mann Atalpacoa bestohlen hat“, sagte Axel.
„Dieser Verrückte will einfach etwas haben, was de Riviera gehört. Übrigens habe ich den goldenen Pavian noch nirgends gesehen!“, erwiderte Poppi.
„Was soll das bloß alles?“, fragte sich Axel.
„Hoffentlich schlafen Lilo und Dominik auch so gut wie wir“, wisperte Poppi.
Gleich am nächsten Morgen wollten sich die beiden Knickerbocker auf die Suche nach dem goldenen Pavian machen.
Lilo und Dominik verbrachten diese Nacht nicht in weichen Betten, sondern in der Gruft, die neben dem Donnerloch lag.
Gloria war auch hierhergebracht worden und gemeinsam setzten die drei alles daran, nicht die Nerven zu verlieren.
Als der nächste Tag anbrach, wurden sie in einen Hubschrauber verfrachtet. Einer der beiden Krieger, die die Gefangenen begleiteten, war Paolo. Gloria konnte ihm nicht eine Sekunde lang in die Augen blicken. Den ganzen Flug über verbarg sie ihr Gesicht in den Händen.
Das Ziel ihrer Reise wurde ihnen nicht verraten. Trotz aller Anspannung starrten Lilo und Dominik gebannt aus dem Fenster. Was sie sahen, war atemberaubend schön. Unter ihnen tobten ungeheure Wassermassen. Sie flogen über einem riesigen Fluss dahin.
Donnernd ergoss sich das Wasser über Felskanten ins Tal. Hier gab es nicht einen, sondern mehr als zweihundert Wasserfälle. Aus der Schlucht, in die das Wasser stürzte, erhob sich ein gigantischer Regenbogen.
Dominik beugte sich zu Lilo. „Über diesen Ort habe ich schon mal was gelesen. Das müssen die Wasserfälle von Iguaçu sein!“, sagte er.
Lilos Miene war sehr ernst. „Wieso bringen sie uns hierher?“
Mehrere weitläufige Inseln ragten aus dem breiten Fluss. Sie waren mit Brücken verbunden, über die die Touristen zu den Wasserfällen gelangen konnten.
Allerdings gab es auch Inseln, zu denen kein Weg führte und die besonders knapp am Abgrund lagen. Auf einer dieser flachen breiten Inseln setzte der Hubschrauber auf. Die Krieger kletterten ins Freie. Auch die Gefangenen mussten aussteigen.
Paolo und der andere Krieger drückten Lilo eine brasilianische Tageszeitung in die Hand und hoben sie in eine große Holzkiste. Dominik und Gloria mussten sich ebenfalls hineinzwängen. Sie wurden mit einer Digitalkamera fotografiert. Danach durften sie wieder aus der Kiste steigen.
„Was haben die vor?“, fragte Dominik leise.
Lilo zuckte mit den Schultern. Da entdeckte sie, dass Paolo inzwischen an einem Metallrohr und einer Uhr hantierte. An jedem Ende des Rohres befand sich eine große Öse, an denen er gerade ein Seil befestigte. Dieses Seil zog er durch den Haltegriff der Kiste. Schließlich hoben die beiden Krieger die Kiste hoch und ließen sie ins Wasser gleiten. Wie ein Schiffchen schaukelte sie auf den Wellen. Während Paolo das Seil festhielt, damit die Holzkiste nicht von der Strömung weggetrieben wurde, schlug der andere einen langen Eisenpflock als Verankerung für das Halteseil in den Boden.
Lilo war sofort klar, was hier geschah. „Wir sollen jetzt bestimmt wieder in die Kiste. In dem Metallrohr ist eine Zeitschaltuhr – wahrscheinlich eine kleine Bombe. Wenn sie losgeht, reißt das Seil und wir stürzen den Wasserfall hinab. Das überleben wir nie!“
Kaum hatte sie ausgesprochen, zückten die Krieger ihre Messer und zwangen die drei Gefangenen, wieder in die Holzkiste zu klettern.
„Vielleicht schaffen es Poppi und Axel rechtzeitig“, stieß Dominik hervor. In seiner Stimme schwang Verzweiflung.
Die Männer ließen den Holzdeckel auf die Kiste fallen und nagelten sie mit kräftigen Hammerschlägen zu.
Lilo, Dominik und Gloria spürten, wie sie von den Wassermassen mitgerissen wurden und ein Stück den Fluss hinuntertrieben. Ein heftiger Ruck ging durch die Kiste. Das Seil hatte sich gespannt und verhinderte, dass sie die Wasserfälle hinabstürzten.
Aber für wie lange?
Ein neuerlicher Ruck ließ die drei vor Schreck aufschreien. War das Seil gerissen?