Die Nacht brach an. Die Knickerbocker losten und Poppi und Dominik durften im Flugzeug schlafen. Axel und Lilo versuchten, es sich auf einer schmutzigen Decke vor der Maschine halbwegs bequem zu machen. Duarte wollte Wache halten.
Es dauerte lange, bis Lilo und Axel in einen leichten Schlaf sanken.
Kurz vor Mitternacht spürte Lilo etwas Kaltes an ihrem Arm. Als sie es wegwischen wollte, ertastete sie einen dünnen langen Körper.
Eine Schlange!, schoss es ihr durch den Kopf. Entsetzt versuchte sie, das Tier von sich zu stoßen. Aber die Schlange hatte sich bereits um sie geschlungen.
„Hilfe!“, keuchte Lilo und warf sich hin und her.
Keine Chance! Die Schlange ließ sich nicht mehr abschütteln. Sie hatte Lilo so geschickt umwickelt, dass es kein Entkommen gab.
In letzter Not riss das Mädchen den Mund weit auf.
Mit aller Kraft schlug sie die Zähne in den Schlangenkörper. Ein hoher Schrei ertönte und … Lilo erwachte.
Sie hatte einen Albtraum gehabt.
In Wirklichkeit war Poppi zu ihr gekommen und hatte sich an sie gekuschelt. Jetzt rieb sie sich den schmerzenden Arm.
„Was soll das? Wieso hast du das gemacht?“, beschwerte sich Poppi.
„Entschuldigung … ich … ich habe dich für eine Schlange gehalten!“, stammelte Lilo.
Auch Dominik war zu seinen Freunden zurückgekehrt.
„Im Flugzeug ist es so heiß, wir haben kaum noch Luft gekriegt“, erzählte Poppi leise.
Lilo sah sich nach Duarte um. Der Pilot war eingeschlafen. Er lag mit dem Kopf auf dem Baumstamm und atmete ruhig und gleichmäßig.
Die vier Freunde fassten einander an den Händen und lauschten in die Nacht.
Waren die Gangster, die den Absturz verursacht hatten, bereits in der Nähe?
Das Feuer prasselte und knisterte. Aus dem dichten Grün des Dschungels drangen vereinzelt Vogelschreie. In den Baumkronen raschelten Blätter.
„Ko… kommen wir je von hier weg?“, flüsterte Poppi.
„Jaja, bestimmt, das spüre ich!“, log Lilo.
„Ich habe solchen Durst!“, jammerte Axel. „Glaubt ihr, ich darf mir Wasser aus der Flasche nehmen?“
Dominik war nicht einverstanden. „Du musst Duarte fragen. Außerdem will ich dann auch etwas abbekommen!“
„Quatsch, wir trinken jetzt einfach!“, sagte Axel, dem die Zunge am Gaumen klebte.
Er rappelte sich auf und aktivierte das Kameralicht an seinem Smartphone. Langsam stolperte er auf das Flugzeug zu.
Kaum hatte er einige Schritte gemacht, hörte er ein heftiges Rascheln. Axel blieb wie angewurzelt stehen und leuchtete das Gebüsch am Rand der Lichtung ab. Dort bewegte sich doch etwas! Der Schein des Lichts glitt über Blätter und Äste, doch da war nichts. Weder Tier noch Mensch. Axel atmete einige Male tief durch und setzte seinen Weg fort.
Sofort begann es wieder zu rascheln. Als Axel abermals stehen blieb, verstummten auch die Geräusche. Axel bekam Angst. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sein Magen schmerzte und seine Arme schienen alle Kraft verloren zu haben. Wer lauerte im Gebüsch? Axel hatte das Gefühl, von mindestens hundert Augen beobachtet zu werden.
Axel wollte nur noch zurück zu den anderen. Er drehte sich um.
Geschockt zuckte er zusammen. Seine drei Freunde und Duarte waren nicht mehr allein. Etwa ein Dutzend Männer hatten sie umstellt. Sie trugen Arm- und Schulterpanzer, Lendenschurze und hohe Federkronen. Einige der Krieger hatten ihre Speere auf die Gefangenen gerichtet. Andere hielten Fackeln in den Händen, die aber nicht entzündet waren.
Die Männer mussten sich hinter Axels Rücken an seine Freunde herangeschlichen haben.
Axels Gedanken überschlugen sich. Sollte er den anderen helfen oder die Flucht ergreifen und später versuchen, die vier zu befreien?
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Aus den Büschen, in denen es geraschelt hatte, tauchten ebenfalls Krieger auf. Sie richteten lange Speere auf Axel und drängten ihn zum Lagerfeuer zurück. Der flackernde Lichtschein ließ die harten, versteinerten Gesichtszüge der Männer bedrohlich und undurchschaubar erscheinen.
Aus der Gruppe trat ein Krieger hervor. Er war in ein Jaguarfell gehüllt. Auf seinem Kopf thronte ein Schmuck, der aus Knochen, einem Jaguarschädel und wehenden schwarzen Federn bestand.
Er musterte die vier Knickerbocker von den verdreckten Turnschuhen bis zu den verstrubbelten Haaren. Ängstlich drängten sie sich zusammen und versuchten, sich so klein wie nur igendwie möglich zu machen.
„Willkommen im Namen von Atalpacoa!“, sagte der Krieger. „Er begrüßt euch in seinem Reich und erwartet euch morgen zur Stunde der untergehenden Sonne!“
Axel, Lilo, Poppi und Dominik trauten ihren Ohren nicht. Der Mann, der wie ein Ureinwohner aussah, sprach ihre Sprache. Sogar ohne Akzent! Sie schienen also wirklich erwartet worden zu sein. Aber wer war Atalpacoa?
„Kommt mit!“, befahl der Mann im Jaguargewand.
Als die Detektive zögerten, flüsterte Duarte: „Tut, was er sagt. Wir haben keine andere Wahl. Los, macht schon!“
Die Männer hielten ihre Fackeln ins Feuer und entflammten sie. Nach und nach wurde es auf der Lichtung heller. Die Krieger nahmen die Knickerbocker und den Piloten in ihre Mitte und setzten sich in Bewegung.
„Sind das … Ureinwohner?“, fragte Lilo atemlos.
Duarte schüttelte kaum merklich den Kopf. „Nein. Ich weiß nicht, wer sie sind. Die Männer sind wie Azteken gekleidet. Das war ein kriegerisches, blutrünstiges Volk, das bis vor knapp fünfhundert Jahren in Mexiko lebte.“
Axel glaubte, nicht recht gehört zu haben. „Vor fünfhundert Jahren? Wieso gibt es die dann noch immer? Und was machen sie in Brasilien?“
Der Krieger im Jaguarfell drehte sich mit finsterer Miene zu den Gefangenen um. „Reden ist euch nicht erlaubt!“, herrschte er sie an.
„Wohin bringen Sie uns?“, fragte Axel trotzdem.
„Ihr werdet es erfahren, wenn die Zeit dafür gekommen ist! Aber jetzt kein weiteres Wort mehr!“
Stumm marschierten sie mit den Kriegern in die pfeilförmige Schneise und von dort in den Regenwald. Die Männer waren mit der Umgebung sehr vertraut. Geschickt schoben sie Äste und Blätter zur Seite und legten einen schmalen Trampelpfad frei. Er führte zu einem breiten Fluss, auf dem unzählige winzige Blätter schwammen. Am Ufer lagen fünf Kanus vertäut.
Die Knickerbocker und Duarte wurden voneinander getrennt. Jeder musste in ein anderes Boot klettern. Wortlos griffen die Krieger zu den Paddeln und tauchten sie ins Wasser. Nacheinander setzten sich die Kanus in Bewegung.
Nach etwa zehn Minuten kam das Boot, in dem Dominik hockte, zum Stillstand. Der Knickerbocker sah sich um. Die anderen Kanus waren bereits hinter der nächsten Flussbiegung verschwunden.
Zwei Krieger hoben Dominik in die Luft. Sie schwenkten ihn aus dem Kanu über den Fluss. Dominik schrie auf. Die Fremden wollten ihn ins Wasser werfen und an die Krokodile verfüttern!
Dominik trat mit den Füßen um sich und bettelte: „Nein, bitte nicht!“