Vogelfütterung

Atalpacoas Worte hatten bewirkt, dass die Turnschuhe kehrtmachten und wieder verschwanden. Nun setzten sich auch die Goldsandalen langsam in Bewegung.

Bitte, bitte, nicht setzen!, flehte Lilo im Stillen.

Vergeblich! Wie ein Sack ließ sich Atalpacoa auf den goldenen Prunkstuhl fallen und schnaufte. Er rutschte unruhig hin und her und begann mit seinem rechten Fuß zu wippen. Atalpacoa schien überaus nervös zu sein. Endlich kam sein Begleiter zurück. Die Turnschuhe hatte er gegen Mokassins aus weichem Leder getauscht.

Einer allein kann den Thron nicht tragen!, schoss es Lilo durch den Kopf. Ob der Typ nach weiteren Trägern gerufen hat?

Es war wie das schönste Geschenk der Welt, als sich Atalpacoa plötzlich erhob. Anscheinend hatte er sich nur kurz ausgeruht. Die Knickerbocker hörten ein leises Knirschen. Links vom Thron öffnete sich eine Tür. Der Herrscher und sein Begleiter verschwanden dahinter. Sofort schloss sie sich wieder.

Erleichtert atmeten die vier Detektive auf. Das war gerade noch gut gegangen.

„Kriechen wir wieder raus?“, fragte Axel leise.

„Gleich“, erwiderte Lilo. „Wir sollten lieber noch ein bisschen warten.“

Fünf Minuten verharrte die Bande regungslos unter dem Thron, aber nichts geschah. Also robbten sie hervor und richteten sich stöhnend auf.

„Seht nur, die Tür mit dem Goldvogel … Sie ist nicht ganz zu!“, wisperte Poppi.

Lilo zögerte nicht. „Wir müssen da rein!“, entschied sie. „Hier ist etwas megafaul. Ich glaube, die spielen alle nur Theater. Oder seit wann tragen Azteken Turnschuhe?“ Schnell erklärte sie den anderen, was sie beobachtet hatte.

Die Knickerbocker schlichen zu der offenen Tür. Dahinter lag ein Raum, der von zwei Petroleumlampen erhellt wurde. Am anderen Ende war eine Steintür, die keine Klinke, sondern einen goldenen Knauf hatte, der sich wie ein Riegel zur Seite schieben ließ. Lilo packte ihn und zog daran. Die Tür schwenkte auf.

Der Raum dahinter lag in völliger Dunkelheit. Die Knickerbocker aktivierten die Taschenlampen-Apps auf ihren Smartphones. Lilo blies vor Erstaunen die Backen auf. Die Einrichtung dieses Zimmers stammte sicherlich nicht aus der Aztekenzeit.

Hier standen zwei Schreibtische mit Laptops, Aktenschränke, ein Telefon und eine Funkanlage. Auf modernen Stühlen lagen Hosen, Hemden und Jacken verstreut und auf dem Boden entdeckte Lilo die öligen Turnschuhe. In einer kleinen Nebenkammer fanden die vier farbenfrohe Federkronen und Lederumhänge. An einer Wand hingen mehrere goldene Vogelmasken, wie sie Atalpacoa bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte.

Während Lilo ein paar Kisten untersuchte, die unter den Schreibtischen standen, stürzte sich Dominik auf das Telefon und hob ab.

„Das ist die Rettung! Wir müssen nur jemanden anrufen und sagen, wo wir sind“, sagte er.

Während sich die Jungen um das Telefon kümmerten, kramten die Mädchen in den Kisten, in denen Druckerpapier, Farbpatronen und sogar Würstchen in Dosen sowie Kekse aufbewahrt wurden. In der letzten Kiste, die Lilo öffnete, entdeckte sie allerdings etwas ganz anderes. Sie zögerte einen Augenblick, ließ den Gegenstand dann aber doch unter ihrem Schienbeinschutz verschwinden.

„He, kommt her! Helft uns!“, rief Axel den beiden Mädchen zu.

„Bald können wir mit dem Rest der Welt Kontakt aufnehmen!“, jubelte Dominik. „Wir müssen nur herausfinden, welche Vorwahl wir brauchen. Das weiß ich leider nicht.“

Da sich keiner mit dem Gerät auskannte, drückte Dominik einfach ein paar Tasten. Er wählte zweimal die Null und wartete. Aber außer einem gleichmäßigen Tuten tat sich nichts. Hastig probierte er andere Kombinationen aus, hatte jedoch keinen Erfolg.

„Wer ist dieser Atalpacoa? Warum spielt er Theater? Der Typ ist doch nicht von gestern!“, grübelte Lilo.

„Nein, das ist er nicht!“, erwiderte eine Stimme.

Die Knickerbocker mussten sich nicht umdrehen. Sie kannten die Stimme. Es war der Jaguarmann!

„Zeit für die Vogelfütterung“, verkündete er mit ruhiger Stimme.

Die Freunde wandten sich um, wagten jedoch nicht zu fragen, was er damit meinte.

„Ihr seid das Futter“, fuhr der Jaguarmann mit ausdrucksloser Stimme fort und deutete mit seinem Speer von einem zum anderen.

„Nein, bitte, tun Sie uns nichts!“, flehte Poppi. „Was haben wir denn verbrochen? Warum machen Sie das alles mit uns?“

„Ihr seid auserwählt worden!“, antwortete der Krieger. „Allerdings habt ihr euch dieser hohen Auszeichnung bislang nicht als würdig erwiesen. Deshalb wird einer von euch nun den Donnervögeln vorgeworfen, um den großen Geist milde zu stimmen!“

Die Knickerbocker trauten ihren Ohren nicht.

„Was … was soll das bedeuten?“, hauchte Lilo.

Der Jaguarmann schwieg. Er trieb sie mit seinem Speer aus dem Raum und verriegelte ihn sorgfältig.

Aus der Halle kamen auf seinen Befehl hin vier Krieger geeilt, die die Freunde schnappten und ihnen die Arme auf den Rücken drehten. Der Magier mit dem Jaguarfell öffnete die Tür, hinter der Atalpacoa und der Turnschuhträger vorhin verschwunden waren. Seine Leute folgten ihm mit ihren Gefangenen. Am Ende eines niedrigen Ganges traten sie auf eine Art Steinbalkon.

Vor ihnen lag eine weitläufige Halle, die das Innere des mächtigen Bauwerkes füllen musste, auf dem die beiden Pyramiden errichtet worden waren. Von der Decke hingen an Seilen Gestalten mit schwarzen Schwingen, spitzen, metallisch glänzenden Schnäbeln und dolchähnlichen Krallen an den Füßen. Sie sahen aus wie riesige Vögel.

„Das sind mit Sicherheit alles Krieger, die sich verkleidet haben!“, flüsterte Dominik mit zitternder Stimme.

„Jetzt ist auch klar, warum wir vorhin niemandem begegnet sind“, sagte Axel und deutete in die Halle. Alle Bewohner der Stadt hatten sich hier versammelt.

Die Krieger stiegen mit ihren Gefangenen eine steile Rampe hinab. Sie wurden von lautem Geschrei begrüßt. Die Männer trugen noch buntere und größere Federkronen als am Vortag. Viele Frauen hatten auf dem Rücken Gebinde aus langen Federn, die wie Pfauenräder aussahen.

„Ein Vogelhaus voller Irrer!“, raunte Lilo ihren Freunden zu, als sie durch die tobende Menge zu einem Käfig geführt wurden. Er stand auf einem Steinpodest an der rechten Seite der Halle. Unsanft stießen die Krieger Lilo, Dominik und Poppi hinein und verriegelten die schmale Tür.

„Was … was machen die jetzt mit uns?“, wimmerte Dominik.

„Ich halte das nicht aus!“, kreischte Poppi.

„Loslassen! Hilfeeee!“, schrie Axel. Er wurde zu einem steinernen Sockel in der Mitte der Halle geschleppt. Auf dem Sockel befanden sich zwei dicke Holzpflöcke, die mit Federn und Tierfellen verziert waren und nach oben hin schmal zuliefen. Auf ihren Spitzen steckten Tierschädel.

Aber nicht nur Axel wurde dorthin gebracht. Von der anderen Seite des Raumes wurde eine junge Frau herbeigeschleift. Sie versuchte verzweifelt, sich loszureißen. Zwecklos. Die Krieger, die sie festhielten, kannten keine Gnade.

Sie führten die Frau zu einem Thron, der genau gegenüber dem Käfig aufgebaut war. Dort saß Atalpacoa und musterte die Gefangene spöttisch. Mit einer herrischen Handbewegung gab er den Befehl, sie zu einem der Holzpfähle zu bringen. Sie wurde auf den Sockel gehievt und mit Lederriemen festgebunden. Die Zuschauer tobten.

Lilo fielen die Schalen auf, die die Vogelmenschen in ihren Händen hielten. Sie waren mit dem roten, süßlich duftenden Saft gefüllt.

„Was machen sie mit Axel?“, schrie Dominik und rüttelte an den Gitterstäben.

Der Jaguarmann trat neben Atalpacoa und wechselte einige Worte mit ihm. Danach richtete er sich auf und schwenkte seinen Speer. Augenblicklich verstummten alle. Zuerst verkündete der Magier etwas in einer Sprache, die wie Portugiesisch klang. Die Bewohner des Reiches von Atalpacoa jubelten, nachdem er seine Rede beendet hatte.

Dann sprach er auf Deutsch weiter und wandte sich an Axel und seine Freunde. „Atalpacoa duldet in seinem Reich niemanden, der die Freiheit seines Volkes gefährdet. Unwürdige werden dem Geist des Donners geopfert!“

Die junge Frau wand sich zwischen den Holzpfählen hin und her und versuchte, sich loszureißen. Die engen Lederfesseln zogen sich dadurch aber nur noch stärker zusammen.

Axel war vor Schreck wie versteinert, als sie auch ihn an einen Pfahl banden. Er starrte den Mann mit dem Jaguarfell an und brachte keinen Ton heraus.

„Bitte, tun Sie Axel nichts! Er ist doch unschuldig!“, tobte Lilo und ihre Stimme überschlug sich. Niemand beachtete sie.

Die Frau kreischte etwas auf Portugiesisch und brach in hemmungsloses Schluchzen aus. Keiner der Vogelmenschen zeigte sich gerührt.

Dominik wusste, dass die Azteken ein überaus blutrünstiges Volk gewesen waren, das auch Menschenopfer dargebracht hatte. Aber es gab keine Azteken mehr. Oder?

Der Jaguarmann blickte zur Decke der Halle und schwenkte abermals den Speer. Er stieß einen schrillen Schrei aus, woraufhin Bewegung in die Männer mit den schwarzen Schwingen kam.

Bisher hatten sie regungslos auf ihren Schaukeln gesessen. Nun ließen sie sich nach hinten kippen. Ihre Schnäbel richteten sie drohend auf die beiden Gefangenen in der Mitte der Halle. Sie begannen zu schaukeln und schlugen dabei mit den Flügeln.

Der Magier brüllte etwas. Das war offensichtlich das Kommando zum Angriff!

Die Vogelmänner lösten sich von den Trapezen und stürzten kopfüber nach unten. Sie hatten dicke Seile um ihre Beine gewickelt, die ihren Fall bremsten.

Axel schrie verzweifelt auf, als er die spitzen Schnäbel auf sich zurasen sah.

Als die Vogelmenschen knapp über ihrer Beute angelangt waren, klappten sie ihre Schwingen zur Seite und änderten auf diese Art ihre Flugrichtung. Wie Trapezkünstler im Zirkus schwebten sie sternförmig auseinander und schwangen zu den Wänden. Dort angekommen, stießen sie sich mit den Krallen wieder ab und rasten abermals auf Axel und die Frau zu. Sie spielten mit ihren Opfern.

„Diese Irren wollen Axel und die Frau … mit den Metallschnäbeln … zerreißen!“, krächzte Poppi.

Wie Aasgeier gingen die Männer auf den Knickerbocker und die Frau los. Sie waren überaus geschickt und steuerten direkt auf ihr Ziel zu. Erst im letzten Augenblick änderten sie die Richtung und schwangen an den Pfählen vorbei. Die Menge tobte vor Begeisterung.

Schließlich hob der Magier seinen Speer und zeigte mit der Spitze auf die Gefesselten. Er wollte das Spiel anscheinend beenden. Beim nächsten Mal würden die Männer bestimmt nicht mehr ausweichen.