SECHS

Ryan überließ größtenteils Sam das Reden, während Mari mit zitternder Hand Tee einschenkte und für jeden ein Stück Kuchen auf einen Teller legte. Sam stellte sich und Ryan vor und erklärte, wo sie wohnten.

„Ah ja, es ist schön, zu sehen, dass das Haus genutzt wird“, sagte Mari. „Kleiner Tapetenwechsel für euch, ja?“

„Ja. Wir wohnen beide in der Stadt. Hier zu sein ist ganz was anderes.“

„Dann ist es wirklich eine stille Zuflucht. Das bedeutet der Hausname, wisst ihr“, fügte sie hinzu, als Sam verwirrt die Stirn runzelte. „Hafan Dawel – stille Zuflucht.“

„Das wusste ich nicht. Echt cool. Und ja… es ist ein bisschen anders als das, was ich gewohnt bin.“

Ryan klinkte sich für einen Moment aus dem Gespräch aus und kehrte in Gedanken zu dem Kuss mit Sam zurück.

Er fragte sich, was wohl passiert wäre, wenn Nerys sie nicht unterbrochen hätte. Vielleicht wären sie dann immer noch da draußen und würden sich im Schnee küssen. Vielleicht wären sie in ihr Cottage zurückgekehrt und hätten da weitergemacht, wo sie aufgehört hatten. Er versuchte Sam heimlich zu mustern, weil er nur zu gern gewusst hätte, was er von all dem hielt.

„Oh, danke“, sagte Ryan, aus seinen Tagträumen gerissen, als Mari ihm eine Teetasse reichte. Er balancierte die Untertasse auf der Armlehne des Sofas und hätte fast alles verschüttet, als Nerys auf seinen Schoß sprang.

„Ah, sieh mal einer an. Sie kennt dich.“ Mari nickte beifällig. „Sie weiß, wer ihre Freunde sind.“

Ryan versuchte, nicht zusammenzuzucken, als Nerys ihm den Schenkel knetete und ihre nadelspitzen Krallen sich in seiner Jeans verhakten. Schließlich drehte sie sich auf seinem Schoß ein paarmal im Kreis und rollte sich über seinem besten Stück zusammen. Ryan hoffte, sie würde ihre Krallen von jetzt an für sich behalten.

„Wie viele Katzen hast du eigentlich?“, fragte Sam.

Während er mit Mari ein Gespräch über ihre acht Katzen und deren Namen, Verwandtschaftsbeziehungen und Gewohnheiten führte, schweiften Ryans Gedanken ab. Direkt wieder zurück zu dem Kuss.

Sein Herz hatte gepocht wie verrückt, als er endlich Sams Lippen auf seinen gespürt hatte. Es hatte sich so absolut richtig angefühlt. Er fragte sich, wo es hätte hinführen können, welche Worte gewechselt worden wären. Doch Nerys‘ plötzliches Auftauchen hatte Ryan abrupt aus dem Moment gerissen. Er wusste, er hätte vielleicht hinterher etwas über den Kuss sagen sollen. Aber er hatte keine Ahnung gehabt, was er sagen wollte. Und die Katze war die perfekte Ablenkung und ein Vorwand gewesen, so zu tun, als wäre nichts geschehen.

Ryan beobachtete Sam während seiner Unterhaltung mit Mari, bewunderte die lebhaften Emotionen, die über sein kantiges Gesicht huschten, die flinken Handbewegungen, mit denen er gelegentlich seine Worte unterstrich, die Konturen seiner Lippen, wenn er lächelte. Etwas in Ryans Brust fühlte sich voll und warm an, und er schaffte es kaum, das Lächeln zu unterdrücken, das sich auf seine Lippen stehlen wollte, als er Sam ansah. Als er von Sam zu Mari schaute, fand er ihren Blick auf sich gerichtet. Er wurde rot und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Katze auf seinem Schoß zu.

„Und wegen des Schnees sind unsere Freunde dann nicht durchgekommen“, erklärte Sam gerade.

„Oh, ich dachte, ihr wärt nur zu zweit“, sagte Mari. „Wolltet ein bisschen Zeit für euch haben – romantisch und so.“

Ryan warf schnell einen Blick zu Sam. Bei Maris Vermutung hatte er einen knallroten Kopf bekommen, doch Sams Lippen zuckten, als müsste er seine Belustigung verbergen.

„Nein, eigentlich hätten wir zu viert sein sollen“, erklärte Sam. „Aber die anderen haben es nicht geschafft, bevor der Schnee gekommen ist.“

„Ah, nun, wie schade.“ Sie musterte Ryan auf eine Art, die für seinen Geschmack ein bisschen zu viel Verständnis verriet. „Und jetzt sitzt ihr hier fest?“ Sie sprach ‚hier‘ so aus, dass es wie ‚yurr‘ klang, bemerkte Ryan.

„Ja“, antwortete er, riss sich zusammen und nahm wieder am Gespräch teil. Es war nicht fair, Sam den ganzen Smalltalk zu überlassen.

„Aber was wollt ihr denn an Weihnachten essen?“, fragte Mari mit sehr besorgter Miene.

„Hühner-Nuggets aus dem Dorfladen, die sind wenigstens ein bisschen wie Truthahn“, sagte Sam. „Mit Backofen-Pommes statt Bratkartoffeln und Tiefkühlerbsen.“

„Oh nein, das geht ja ganz und gar nicht!“ Mari schüttelte mit höchst missbilligender Miene den Kopf. „Aber wisst ihr was? Ich glaube, Nerys hat uns allen einen Gefallen getan. Ich habe nämlich genau das gegenteilige Problem von euch – das ganze Haus voller Essen und niemanden, mit dem ich es teilen könnte. Meine Tochter und ihre Familie wollten heute Abend kommen und über Weihnachten bleiben. Ich hatte mir die ganzen Lebensmittel liefern lassen, bevor es geschneit hat, und ich werde es nie schaffen, das alles alleine zu essen. Verdammt, mit meiner Arthritis kriege ich den blöden Truthahn nicht mal in den Ofen geschoben. Wie wär’s, wenn ihr morgen früh irgendwann rüberkommen und mir beim Kochen helfen würdet, dann könnten wir an Weihnachten zusammen zu Abend essen? Wie findet ihr das?“ Ihr Gesicht strahlte, als sie diesen Vorschlag machte, und Ryan konnte die junge Frau in ihr erkennen, die sie einmal gewesen war. Die Begeisterung ließ die Jahre von ihr abfallen und ihre Augen funkeln.

Sam sah Ryan an und zog die Augenbrauen hoch.

„Liebend gern“, sagte Ryan. „Oder, Sam? Wenn du dir sicher bist.“

Sam nickte und Ryan erwiderte sein Lächeln.

„Natürlich bin ich sicher.“ Maris Freude war offensichtlich. „Ich kann es nicht leiden, wenn gutes Essen umkommt.“

Sie machten bei Tee und Kuchen Pläne für den nächsten Tag. Dann begann Mari von ihrer Tochter zu erzählen, nachdem Sam sich nach ihr erkundigt hatte.

„Nein, sie wohnt nicht weit weg. Nur unten bei Monmouth mit ihrer Frau und ihrem kleinen Sohn.“

„Ihrer… Frau?“, fragte Ryan zögernd, nicht sicher, ob er sich verhört hatte.

„Ja, Schatz, sie ist lesbisch. Sie haben vor ein paar Monaten geheiratet – das ist jetzt legal, wisst ihr – aber sie sind schon seit zehn Jahren zusammen, also wurde es wirklich langsam Zeit. Da auf dem Kaminsims steht ein Foto von ihnen. Schaut, ihr Sohn David war ein kleiner Page, seht ihr?“

Ryan betrachtete das Foto der beiden Frauen. Ihre violetten Kleider waren ähnlich geschnitten, aber in unterschiedlichen Schattierungen. Sie hatten die Arme umeinander gelegt und lächelten strahlend in die Kamera. Vor ihnen stand ein kleiner Junge von vielleicht sechs oder sieben Jahren in einem dunkelblauen Anzug.

„Wie schade, dass sie dich an Weihnachten nicht besuchen können“, sagte Sam mitfühlend. „Seht ihr euch stattdessen an Neujahr?“

„Dann wollen sie Belindas Familie besuchen – das ist meine Schwiegertochter – aber ich sehe sie sicher bald. Normalerweise kommen sie alle paar Wochen mal rauf und besuchen mich. Das machen sie schon, seit mein Bill gestorben ist. Sie passen halt auf mich auf, wisst ihr.“

Als der Tee getrunken und der Kuchen aufgegessen war, brachten sie alles für Mari wieder in die Küche. Ryan bot an, das Geschirr zu spülen, doch sie scheuchte ihn aus der Küche.

„Nicht nötig, mein Junge. Ich schaff‘ das schon. Wenn ich die Hände im heißen Wasser habe, wird mir wenigstens ein bisschen warm.“

„Okay, also danke nochmal, Mrs. – Mari, meine ich“, sagte Ryan. „Und bis morgen dann.“

„Wunderbar. Könnt ihr bitte so gegen Mittag kommen und mir helfen, den Vogel in den Ofen zu kriegen?“

Sie verabschiedeten sich und gingen wieder hinaus in die Kälte.

* * *

Es war dunkel draußen, als sie die Straße hinuntergingen. Stellenweise war Eis unter dem Schnee, und sie mussten aufpassen, um nicht auszurutschen.

Ryan stolperte, und Sam packte ihn am Arm, um ihn zu stützen.

„Danke“, sagte Ryan.

Sam hielt Ryan weiter fest, bis er die Balance wiedergefunden hatte. Und auch danach nahm er seine Hand nicht weg. Er entspannte seinen Griff ein wenig, aber er ließ erst los, als sie wieder bei ihrem Cottage waren.

Sie machten gleich ein Feuer im Kamin und beschlossen, sich um das Abendessen zu kümmern, bis der Raum sich ein wenig erwärmt hatte. Der Gasbackofen vertrieb die Kälte aus der Küche, während sie Tiefkühlpizza zubereiteten, und sie tranken die letzten paar Tropfen Wein von gestern Abend aus und öffneten eine neue Flasche.

Ryan war angespannt, immer noch fassungslos über den Kuss von vorhin. Sam schien sich nicht anders zu benehmen als normalerweise, aber Ryan kam sich vor, als müsste sein Unbehagen in jeder Bewegung erkennbar sein, in jedem Wort, das er sprach. Er war sich geradezu schmerzlich genau bewusst, wie oft sie sich beinahe berührten, während sie zusammen in der Küche herumliefen, das Essen machten und so taten, als wäre alles wie immer.

Nachdem sie gegessen hatten, war es im Wohnzimmer immer noch kalt, deshalb holten sie sich eine Wolldecke von oben. An gegenüberliegenden Enden des Sofas zu sitzen, die Beine unter der Decke ineinander verschlungen, erweckte einen trügerischen Eindruck von Intimität. Doch der riesige, unsichtbare Elefant, der zwischen ihnen hockte, machte Ryan ein bisschen verrückt. Alles, woran er denken konnte, war dieser Kuss – aber er hatte keine Ahnung, was er davon halten sollte. Die Weinflasche war beinahe leer, und das Schweigen war nahezu unerträglich geworden, als Sam es schließlich brach.

„Also… ich glaube, wir müssen über das reden, was vorhin passiert ist.“

Es entlockte Ryan einen zittrigen Seufzer der Erleichterung, dass Sam mehr Mumm hatte als er. Er fühlte sich innerlich verkrampft und angespannt und wusste immer noch nicht, was er wirklich wollte. Aber so wollte er definitiv nicht weitermachen.

„Ja“, sagte er und wich Sams Blick aus.

„Wörter mit mehr als einer Silbe zu sagen wäre gut.“

„Ja.“ Ryan grinste verlegen und leckte sich die Lippen. „Ähm…“

Sam schnaubte. „Herrgott nochmal. Okay, ich fange mit einer Frage an. Hast du vorher schon mal einen Kerl geküsst?“

Ryan schüttelte den Kopf und wagte einen Blick zu Sam. Etwas huschte über Sams Gesicht – Erleichterung, vielleicht, oder Befriedigung.

„Wolltest du das schon mal?“

„Vielleicht auf eine abstrakte Art und Weise.“ Ryan zuckte die Achseln. „Aber nicht so… nicht so, wie ich es mit dir gemacht habe.“

„Aber gestern hast du zum ersten Mal was gesagt. Also, wo kam das her?“

Ryan holte tief Luft. „Das ist nicht völlig neu.“ Seine Wangen wurden heiß und sein Puls schoss nach oben, als er sich dafür bereit machte, ehrlich zu sein. Er schaute nicht zu Sam, sondern blickte starr in die Flammen, beobachtete das Flackern und Glühen, mit dem sie das Holz verzehrten. „Ich denke schon seit einer Weile… auf diese Art an dich.“

„Wie lang ist eine Weile?“

„Kann ich nicht genau sagen. Ich glaube, es hat angefangen, als du dich geoutet hast. Das hat mich nachdenklich gemacht.“ Ryan war sich sicher, dass sein Gesicht knallrot sein musste.

„Bist du schwul, Ry?“ Ryans Kumpels benutzten kaum jemals die Kurzform seines Namens. Er war mehr daran gewöhnt, von Verwandten so genannt zu werden. Doch von Sam hörte es sich passend an.

„Ja, ich glaube schon.“ Das klang selbst in Ryans Ohren unsicher, und er hasste es. Denn er war sich sicher. Er war nur nicht daran gewöhnt, es laut auszusprechen. Doch er holte tief Luft und sah Sam in die Augen, als er weitersprach. „Okay, nein. Ich glaube es nicht, ich weiß es.“

„Aber was ist mit den Frauen, die du ständig mit nach Hause gebracht hast? Im zweiten Studienjahr haben wir uns schon überlegt, ob wir an deiner Schlafzimmertür ein Drehkreuz einbauen sollen.“

Ryan zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich wollte ich mir beweisen, dass ich... du weißt schon… nicht schwul bin. Aber das hat nicht funktioniert.“

„Hast du deshalb aufgehört?“

Ryan hatte seit dem Sommer wie ein Mönch gelebt. Jon und Anthony, ihre beiden anderen Mitbewohner, hatten ihn mit seinem plötzlichen Mangel an Action aufgezogen. Doch Ryan hatte den Druck des Studiums als Ausrede benutzt.

„Ja. Aber ich war nicht bereit, mich zu outen und so, also habe ich stattdessen eine Menge Schwulenpornos geguckt.“ Ryan zuckte die Achseln, und seine Wangen wurden schon wieder heiß.

Sam grinste. „Echt jetzt?“

Ryan nickte.

„Und das hat dir geholfen, zu einer Entscheidung zu kommen?“

„Vermutlich.“

„Aber warum zum Teufel hast du denn nie was zu mir gesagt?“ Schmerz blitzte in Sams Augen auf. „Gott, Ryan. Du hättest doch wissen müssen, dass du mit mir reden kannst, ohne dass ich über dich urteile.“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich wollt‘ ich nich‘, dass du denkst, ich häng‘ mich an dich, weil ich keine anderen schwulen Typen kenne, vor allem, weil ich… du weißt schon. Ein bisschen scharf auf dich war.“ Er versuchte, es so klingen zu lassen, als wäre es keine große Sache. „Du bist ein Freund, mein bester Freund. Ich wollte nichts verkomplizieren, indem ich versuche, mit dir was anzufangen. Es kam mir ein bisschen schräg vor, so über jemanden zu denken, mit dem ich angeblich befreundet bin.“ Ryan erwähnte nichts davon, dass seine Gefühle für Sam weit über ein beiläufiges Interesse hinausgingen. Wie zum Henker sagte man seinem besten Freund, dass man in ihn verknallt war? Dafür gab es kein Handbuch.

„Ich meine nicht, dass du auf mich stehst. Ich meine, warum hast du mir denn nicht gesagt, dass du schwul bist?“

„Oh.“ Ryan wurde schon wieder rot. „Ich weiß nicht. Vermutlich war ich noch nicht bereit, darüber zu reden.“

Ryan wusste, dass er ausweichend reagierte und Sam die wahre Tiefe seiner Gefühle nicht eingestand. Sam zu sagen, dass er daran gedacht hatte, ihn zu küssen, war die eine Sache. Aber ihm zu sagen, dass er ihm seit fast einem Jahr hinterher schmachtete – das war mehr, als Ryan zuzugeben bereit war. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, von Sam freundlich abgewiesen zu werden. Was sicher passieren würde, wenn Sam wüsste, wie weit Ryans Interesse ging.

„Du bist ein Idiot“, sagte Sam. Aber als Ryan ihn ansah, breitete sich ein Lächeln über Sams Gesicht aus, und Ryan stellte beruhigt fest, dass zwischen ihnen alles in Ordnung war. „Du hättest es mir sagen sollen.“

„Leck mich“, sagte Ryan und trat Sam unter der Decke ans Schienbein. „Ich bin kein Idiot. Es war schwierig.“

„Doch, du bist einer. Aber egal. Also was jetzt? Wir sind hier, allein. Haben Zeit totzuschlagen…“ Sam verstummte und wackelte anzüglich mit den Augenbrauen. Dann fügte er hinzu: „Schade, dass wir beim Dekorieren nicht auch einen Mistelzweig aufgehängt haben.“

Hoffnung flammte in Ryans Brust auf, und er versuchte, mit bewusst ruhiger Stimme zu antworten: „Brauchen wir denn einen?“

„Ich brauch‘ keinen, wenn du auch keinen brauchst.“

Es gab eine bedeutungsvolle Pause. Sie starrten einander an, und Ryans Herz pochte. Hormone rauschten durch seine Adern, und seine Erregung wuchs.

„Worauf wartest du dann noch?“

Das reichte Sam offensichtlich als Einladung. Er warf die Decke beiseite und kletterte auf Ryans Schoß, kniete sich breitbeinig über ihn und blickte mit einer zielstrebigen Konzentration auf ihn hinab, die ebenso furchteinflößend wie erregend war. Denn Ryan wusste, wo das hinführen würde. Diesmal würde nichts und niemand sie aufhalten, wenn sie erst einmal anfingen, sich zu küssen.

Doch Ryan würde jetzt keinen Rückzieher machen. Er griff nach Sam, schlang die Arme um seinen schlanken Körper und zog ihn an sich, bis sich ihre Lippen berührten.