ZEHN

Sie standen auf, zogen sich an und gingen nach unten, um Frühstück zu machen. Während sie zusammen in der kleinen Küche standen, wollte Ryan Sam ständig berühren – nur flüchtig, aber auf eine Art, die über das rein Freundschaftliche hinausging, woran sie sich bisher immer gehalten hatten. Doch er behielt seine Hände bei sich, da er nicht wusste, wo die Grenzen jetzt lagen.

Ryan seufzte.

Bevor sie nach Hause fuhren, mussten sie ernsthaft über das reden, was hier gerade lief. Ansonsten konnte es verdammt komisch werden, wieder an der Uni und mit ihren Freunden zusammen zu sein, wenn diese ganze Unsicherheit zwischen ihnen schwebte. Aber Ryan hatte keine Ahnung, was Sam von all dem hielt. Offenbar war er scharf auf ihn, sonst hätten sie nichts miteinander angefangen, aber vielleicht war das für Sam nur ein flüchtiges Abenteuer.

Ryan rührte seinen Tee um und nahm den Beutel heraus, dann machte er dasselbe bei Sams Tasse, während Sam den Toast mit Butter bestrich.

„Willst du Marmelade?“, fragte er Ryan.

„Ja, bitte.“

Ryan beobachtete ihn und ging dabei in Gedanken immer noch die Möglichkeiten durch.

Ganz ehrlich, Ryan wusste selbst nicht genau, was er wollte. Er war Hals über Kopf in Sam verliebt – das konnte er zugeben. Nichtsdestotrotz war es die eine Sache, mit Sam herumzumachen, während sie hier allein waren – aber was würde passieren, wenn sie wieder an der Uni waren? Er hatte keine Ahnung, ob Sam diese ‚Beziehung‘ weiterführen wollte, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks. Und selbst wenn er das wollte, war Ryan bereit, sich zu outen? Und falls nicht, wäre Sam dann bereit, alles geheim zu halten? Es gab zu viele offene Fragen, und das stresste Ryan. Er war froh, dass sie noch eine weitere Nacht zusammen verbringen würden. Vielleicht würde er mit ein bisschen mehr Zeit die Dinge klarer sehen.

* * *

Nach dem Frühstück stand Sam auf und zog seine Jacke an.

„Ich geh‘ nur meine Mum anrufen.“ Er setzte sich auf die unterste Treppenstufe und zog die Schuhe an.

„Okay.“ Ryan begriff unglücklich, dass es für seine Eltern keine Rolle spielte, ob er noch einen Tag länger blieb oder nicht. Daheim wartete nur ein leeres Haus auf ihn. „Bist du sicher, dass es okay ist, noch eine Nacht zu bleiben?“

„Ja, wenn du willst?“

Ryan zuckte die Achseln und versuchte, lässig zu klingen. „Na ja, ich hab‘ keinen Grund, mich mit der Heimfahrt zu beeilen, also…“

„Cool.“ Sam klopfte sich auf die Jeanstasche, um sich zu vergewissern, dass er sein Handy dabeihatte. „Bin gleich wieder da.“

Sie hatten heute Morgen kein Feuer angezündet, also machte Ryan den Kamin sauber, während er auf Sams Rückkehr wartete. Er fegte die Asche von gestern Abend in einen Eimer. Der Staub brachte ihn zum Niesen, und er wischte sich mit dem Handrücken die Nase. Hoffentlich hatte er jetzt keinen Ruß im Gesicht.

Als die Tür aufging, drehte er sich um. Doch sein Begrüßungslächeln verrutschte, als er Sams Gesicht sah.

„Was ist los?“

„Nichts Schlimmes… aber meine Oma ist gestern gestürzt, und sie ist im Krankenhaus. Sie hat sich den Arm gebrochen, und das muss genagelt werden. Morgen wird sie operiert.“

„Oh, Shit.“

„Ja, sie wird schon wieder, aber sie wird zuhause in nächster Zeit ein bisschen Hilfe brauchen. Mum und Dad wollen heute Nachmittag hinfahren und ein paar Tage dortbleiben, also muss ich nach Hause und auf meine kleinen Geschwister aufpassen. Tut mir leid, Ry.“ Er runzelte die Stirn, entschuldigend und besorgt.

„Nein, ist schon gut. Natürlich musst du zurück.“ Ryan hätte Sam jetzt gern in den Arm genommen und ihn getröstet, aber Sam hastete bereits die Treppe rauf.

„Ich fang‘ mal an zu packen“, sagte er. „Ich will so schnell wie möglich los.“

„Ja, klar.“

Ryan ging die Küche durch, räumte alles auf und packte die Lebensmittel, die sie gekauft hatten, in Plastiktüten. Die Enttäuschung über das vorzeitige Ende ihrer gemeinsamen Zeit lag ihm schwer im Magen, obwohl er sie zu ignorieren versuchte. Er knallte eine Schranktür brutal zu, wütend auf sich selbst, weil er so ein selbstsüchtiges Arschloch war, wenn Sams Oma sich verletzt hatte und Sam sich offensichtlich Sorgen um sie machte.

„Scheiße“, fluchte er. „Gottverfluchte Scheiße.“

Er wünschte wirklich, sie hätten diese zusätzliche Nacht gehabt.

* * *

Sie schafften es, in weniger als einer Stunde zum Aufbruch bereit zu sein. Dafür, dass sie es so eilig hatten, hinterließen sie das Cottage so sauber und ordentlich wie nur möglich.

„Können wir noch bei Mari vorbeigehen und tschüss sagen?“, fragte Ryan. „Wir haben es versprochen.“

„Ach ja, natürlich. Gut, dass du daran gedacht hast.“

Sie gingen die kurze Strecke zu Maris Haus zu Fuß und klopften an die Tür.

„Guten Morgen“, begrüßte sie sie. „Kommt rein. Ich setze Wasser auf.“

„Tut mir leid, aber wir können nicht bleiben“, sagte Sam.

Er erklärte die Sachlage, und Ryan sah, wie sich Maris Miene vor Besorgnis verdüsterte. „Oh, das tut mir aber leid. Ich hoffe, deine Oma erholt sich gut. Aber es war lieb von euch, dass ihr an mich gedacht habt. Ich hätte mich gefragt, was passiert ist, wenn ihr nicht vorbeigekommen wärt. Fahrt vorsichtig, und nochmal danke für das schöne Weihnachtsfest.“

Sie umarmte Sam und küsste ihn auf die Wange, dann machte sie dasselbe mit Ryan.

„Dir auch vielen Dank“, sagte Ryan. „Vielleicht sehen wir uns mal wieder, wenn wir das nächste Mal kommen.“

„Ja, ihr müsst mich unbedingt besuchen kommen, wenn ihr wieder mal hier seid.“

Etwas streifte Ryans Knöchel, und als er nach unten schaute, sah er Nerys. Sie miaute, und er ging in die Hocke, um sie zu streicheln. „Tschüss, Nerys. Lauf nicht wieder weg.“

Sie miaute wie zustimmend und begann dann zu schnurren.

* * *

Auf der Heimfahrt war Sam schweigsam. An seinem angespannten Gesicht merkte Ryan, dass er besorgt war. Sam mochte seine Oma, da machte er sich zwangsläufig Sorgen um sie.

Ryan überlegte ständig, ob er das Thema ‚Beziehung‘ zur Sprache bringen sollte und was – wenn überhaupt – aus ihnen werden sollte, wenn sie wieder zurück waren. Aber der Zeitpunkt erschien ihm unpassend. Sam hatte gerade andere Dinge im Kopf, und Ryan wollte ihm nicht noch mehr Stress machen, indem er ihn unter Druck setzte.

Aber als sie fast schon bei Ryans Elternhaus waren, konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Er brauchte etwas, irgendeinen Hinweis darauf, was Sam empfand und wie sie mit der Sache umgehen sollten.

„Also, äh“, begann Ryan und zupfte an einem Fingernagel herum, um Sam nicht ansehen zu müssen. „Wir sind nie dazu gekommen, über alles zu reden… du weiß schon. Über das, was passiert ist.“ Redegewandt, Ryan. Sehr redegewandt . „Ich hab‘ mich gefragt… was wir machen sollen, wenn wir nächste Woche wieder in Brighton sind.“

Ryan sah aus dem Augenwinkel, wie Sam den Kopf drehte und ihm einen kurzen Blick zuwarf, ehe er wieder auf die Straße schaute. Sams Tonfall war schwer zu deuten, als er antwortete: „Tja. Was möchtest du denn? Sollen wir mal probieren, ob das mit uns klappt?“

Ryan geriet in Panik. Ja, was zum Teufel wollte er eigentlich? Wollte er mit Sam zusammen sein, eine Beziehung anfangen? Er wusste, dass seine Gefühle für Sam meilenweit von Freundschaft entfernt waren. Aber war er bereit, sich als schwul zu outen, mit allen Konsequenzen fertig zu werden? Da war er sich nicht sicher. Doch Sam ging schließlich offen mit seiner Sexualität um. Da war es nicht fair, von ihm zu verlangen, ihre Beziehung Ryan zuliebe geheim zu halten.

„Ich weiß nicht“, antwortete er. Er zerbrach sich den Kopf, wie er das näher ausführen sollte, wie er seine komplizierten Gefühle für Sam auf eine Art erklären sollte, die ihn nicht abschrecken würde. Doch Sam seufzte und sprach dann weiter, ehe Ryan einen zusammenhängenden Satz formulieren konnte.

„Schon gut. Es ist keine große Sache. Vielleicht ist es das Beste, wenn wir nur Freunde bleiben. Und falls du dir Sorgen machst, dass ich was zu jemandem sagen könnte – das hab‘ ich nicht vor. Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.“ Er bremste scharf an einer Kreuzung und hielt den Blick starr auf die rote Ampel geheftet, als Ryan ihn ansah und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten.

Es ist keine große Sache .

Die Worte waren wie Gift, das kalt durch Ryans Adern rann und dafür sorgte, dass sich ihm der Magen umdrehte. Bittere Wut stieg in ihm hoch bei der Erkenntnis, dass das alles für Sam nur ein kleiner Spaß gewesen war. Und dass die Gefühle sehr einseitig waren, schmerzte schlimmer, als er es je für möglich gehalten hätte. Er steckte offensichtlich noch tiefer drin, als er gedacht hatte.

„Oh. Gut.“ Er zupfte an einem Nietnagel an seinem Daumen herum und riss ihn ab. Es begann zu bluten, und der scharfe Schmerz lenkte ihn ab. „Ja, klar. Wir sollten es wahrscheinlich einfach dabei belassen. Es als Urlaubsflirt verbuchen oder was auch immer.“

Die Ampel wurde grün.

„Das ist wahrscheinlich das Beste.“ Sams Stimme klang gepresst. Er legte den Gang ein und ließ den Motor laut aufheulen, als er losfuhr.

Vielleicht war Sam dieses Gespräch ja peinlich. Falls ja, war er da nicht der Einzige.

Ryans Wangen wurden heiß. Gott sei Dank hatte er nicht zu viel gesagt. So wusste Sam wenigstens nicht, dass Ryan blöderweise in ihn verknallt war, und sie konnten irgendwie wieder nur Freunde sein, ohne dass es zu peinlich wurde. Oh ja, Ryan würde sich eine Zeitlang die Wunden lecken müssen, aber er würde darüber wegkommen. Es gab genug andere schwule Fische im Meer, richtig? Nur weil er so dumm gewesen war, sich in seinen besten Freund zu verlieben, hieß das noch lange nicht, dass er nicht irgendwann jemand anderen finden würde, für den er genauso viel empfand wie jetzt für Sam.

Sam bog in Ryans Straße ein, und sie blieben stumm, bis er vor Ryans Elternhaus anhielt.

„Also dann.“ Ryans gespielte Fröhlichkeit klang selbst in seinen Ohren falsch. „Danke fürs Mitnehmen, und wir sehen uns dann ja wohl in ein paar Tagen in Brighton. Wann fährst du zurück?“

„Wahrscheinlich erst an Silvester.“ Sams Gesicht war verschlossen, und er trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum.

„Okay, gut, also bis dann.“ Ryan machte die Autotür auf und stieg aus. Sam stieg ebenfalls aus und stand unsicher herum, während Ryan seine Tasche aus dem Kofferraum holte.

Schließlich hob er den Kopf und sah Ryan an, und für einen Moment starrten sie einander in die Augen. Sam sah bleich aus, und seine pinkfarbenen Lippen hoben sich deutlich von der Blässe seiner Haut ab. Die Schatten unter seinen Augen waren dunkler als sonst, und Ryans Herz geriet ins Stolpern, als er ihn ansah. Es würde verdammt schwer werden, zu einer platonischen Freundschaft zurückzukehren – jetzt, wo er wusste, wie es sich anfühlte, Sam zu küssen und ihn in den Armen zu halten. Er stellte seine Tasche ab, trat vor und zog Sam in eine „Definitiv-nur-Freunde“ – Umarmung, die besser war als nichts. Sam erwiderte die Umarmung, und Ryan atmete den Duft seiner Haare ein, da er die Erinnerung an ihn bewahren wollte.

Nur allzu bald fühlte Ryan, wie Sam sich von ihm loszumachen begann, und ließ ihn gehen.

„Ich hoffe, deine Oma wird wieder. Pass auf dich auf, ja? Und wir sehen uns dann an Neujahr.“

„Ja, bis dann, Ry.“

Sam verzog die Lippen zu einem traurigen, kleinen Lächeln, das Ryan ihm am liebsten weggeküsst hätte. Er drehte sich um und stieg wieder ins Auto, und Ryan sah ihm nach, als er wegfuhr, und fühlte ein Ziehen im Herzen, als das Auto um die Ecke bog und aus seinem Blickfeld verschwand.