DREIZEHN

Ryan starrte die Tür an, die Sam ihm vor der Nase zugeschlagen hatte, betroffen über Sams unerwarteten Wutausbruch. Er hatte keine Ahnung, was er getan hatte, um ihn zu verärgern. Eigentlich hatte er die Sache nur ein wenig ins Lot bringen und ihre Freundschaft wiederherstellen wollen, vielleicht einen Versuch machen wollen, seinen Wunsch nach mehr offen auszusprechen. Aber er hatte es nicht geschafft, die richtigen Worte zu finden, und jetzt hatte er anscheinend unbeabsichtigterweise alles noch viel schlimmer gemacht.

Scheiß drauf .

Heute Abend würden sie offensichtlich kein vernünftiges Gespräch mehr zustande bringen. Er straffte die Schultern und machte sich auf den Weg nach unten und auf die Suche nach einem weiteren Bier.

* * *

Die Party war inzwischen in vollem Gange.

Ryan lehnte im rappelvollen Wohnzimmer an der Wand. Die Musik pulsierte wie ein äußerlicher Herzschlag, und die Vibrationen drangen ihm bis ins Mark. Er schaute auf die Uhr. Es war fast halb zwölf. Nur noch dreißig Minuten bis Mitternacht. Das Haus platzte vor betrunkenen Studenten schier aus den Nähten. Leute aus ihren Kursen, Rugbykameraden, Freunde von Freunden von Freunden. Er kannte allenfalls die Hälfte der Gesichter.

Ryan hatte den ganzen Abend über Ausschau nach Sam gehalten. Er konnte einfach nicht anders. Ihre Wege hatten sich ein paarmal gekreuzt – in der hell erleuchteten Küche auf der Suche nach Bier, im Gedränge der Tanzenden, auf der Treppe, wenn sie sich aneinander vorbeidrängten. Doch sie hatten sich nicht angesehen und kein Wort miteinander gewechselt. Ryan litt immer noch unter Sams harschen Worten von vorhin, und er hatte keine Ahnung, wie er das in Ordnung bringen sollte.

„Hey, Ry.“ Eine weiche Hand fasste ihn am Arm. Lange, perfekt manikürte Fingernägel gruben sich in seinen Bizeps, als eine junge Frau den Mund an sein Ohr legte, um sich ihm trotz der Musik verständlich zu machen. „Lange nicht gesehen. Hattest du schöne Weihnachten?“

Ryan drehte den Kopf und begegneten dem hoffnungsvollen Blick von Caroline. Sie war eine der vielen Frauen, die er letztes Jahr gevögelt hatte. Eine der wenigen, die er mehr als einmal gevögelt hatte. Sie war hartnäckig gewesen und hatte sich nur höchst ungern abweisen lassen, als er sich vage damit herausgeredet hatte, dass er noch nicht für eine Beziehung bereit sei. Sie war atemberaubend schön, aber das wusste sie auch, und sie hatte seinen Mangel an Interesse als Herausforderung aufgefasst.

„Ja, war ganz okay, danke. Und du?“

Er atmete den aufdringlichen, viel zu süßen Duft ihres Parfüms ein und kämpfte gegen den Drang an, seinen Arm wegzuziehen. Sie kam noch näher, legte ihm ihre andere Hand auf die Brust und ließ sie auf eine Art über seine Rippen gleiten, dass er sich am liebsten der Berührung entwunden hätte.

„Der übliche langweilige Familienkram. Es ist schön, wieder an der Uni zu sein. Viel mehr Potenzial für Spaß.“ Ihre Worte trieften vor Zweideutigkeit.

Caroline trat noch einen Schritt näher und stand jetzt direkt vor ihm. Nah, viel zu nah. Sie packte ihn an den Hüften und drückte ihren Unterleib aggressiv gegen seinen völlig desinteressierten Schwanz.

„Wen willst du an Mitternacht küssen?“, fragte sie und reckte ihm einladend das Gesicht entgegen.

Ryan wollte kein Arschloch sein. Er hatte sie bereits einmal enttäuscht, also konnte er jetzt zumindest höflich sein. Aber er wollte nicht, dass sie einen falschen Eindruck gewann. Er fasste nach ihren Händen, schob sie weg und hielt sie fest – vor allem, um sie davon abzuhalten, erneut nach ihm zu greifen.

„Ich habe keine Pläne“, sagte er leichthin, neckend, aber nicht ermutigend.

Er hielt über ihre Schulter Ausschau nach einem passenden Fluchtweg – und erstarrte, als er Sam in der Menge entdeckte. Sam tanzte und schwang seine schlanken Hüften. Irgendein Typ, den Ryan flüchtig kannte, aber nicht zuordnen konnte, hatte die Arme um Sams Taille gelegt und schmiegte sich von hinten an ihn. Ein hässlicher Splitter Eifersucht durchbohrte Ryan, und ihm wurde schlecht.

Dann, als hätte er Ryans Blick auf sich gerichtet gefühlt, hob Sam den Kopf und schaute in Ryans Richtung. Sein Blick fiel auf Carolines Hände, die Ryan immer noch festhielt, und er erstarrte für einen Moment. Dann drehte er sich um und schlang seinem Partner die Arme um den Hals, während sie sich im Takt der Musik wiegten.

Ryan ließ Carolines Hände los und drängte sie beiseite, um nicht mehr zwischen ihrem Körper und der Wand eingeklemmt zu sein. Jetzt war es ihm egal, ob er sie enttäuschte. Er wollte nur weg von der lauten Musik und der erstickenden Hitze der Menschen um ihn herum.

„Ich muss mal“, log er.

„Sieh zu, dass du mich nachher wiederfindest.“ Sie schmollte und strich sich eine perfekt blondierte Haarsträhne hinters Ohr.

Ryan antwortete nicht. Er ging bereits weg.

Sein Zimmer war leer und vergleichsweise ruhig nach dem Radau unten. Er hatte die Tür vorhin vorsichtshalber von außen abgeschlossen, denn bei der letzten Hausparty hatte irgendein Idiot Bier über seinen Laptop verschüttet.

Ryan warf sich bäuchlings aufs Bett. Er hatte Kopfschmerzen, aber eher vor unterdrückten Gefühlen als von den paar Bier, die er getrunken hatte. Er hatte es langsam angehen lassen, weil er befürchtete, irgendwas Dummes zu tun, wenn er sich die Kante gab.

Er umarmte sein Kissen und gab sich eine Zeitlang seinem Elend hin, während der tiefe Bass von unten durch den Fußboden dröhnte und gelegentlich laute Stimmen oder ein Ausbruch von Gelächter bis in seine Abgeschiedenheit vordrang.

Es klopfte an seiner Tür, aber das ignorierte er. Wer auch immer das war, konnte sich verpissen. Er hatte sich eingeschlossen und nicht die Absicht, sich in nächster Zeit zu bewegen.

Das Klopfen ging beharrlich weiter und wurde immer lauter, bis jemand mit der Faust gegen die Tür hämmerte. „Ryan, lass mich rein. Ich weiß, dass du da drin bist.“

Ryans Herz setzte einen Schlag aus, als er Sams Stimme erkannte. „Was willst du?“

„Lass mich einfach rein!“

Ryan kam in Bewegung. Er schloss die Tür auf und öffnete sie. Sam drängte sich herein, machte die Tür schnell wieder zu und schloss hinter sich ab. Dann lehnte er sich schwer dagegen.

„Danke“, seufzte er erleichtert. „Kann ich mich hier bis nach Mitternacht verstecken?“

Sams Wangen waren vom Tanzen gerötet, sein Haar noch zerzauster als sonst – es fiel ihm in wirren Strähnen über ein Auge. Ryan juckte es in den Fingern, es zurückzustreichen, die Hände in den Strähnen zu vergraben, ihn an sich zu ziehen. „Ja, klar.“

„Und es tut mir leid wegen vorhin.“

„Ähm… okay.“ Ryan wusste nicht genau, was er zu ihrer seltsamen Meinungsverschiedenheit vorhin im Flur sagen sollte. „Vor wem versteckst du dich?“, fragte er stattdessen.

„Vor diesem Typen da unten. Er ist aufdringlich, und ich bin nicht interessiert.“

Eine Welle der Erleichterung durchströmte Ryan. „Wirklich? Vorhin hast du aber ziemlich interessiert ausgesehen.“

„Ich hab‘ nur getanzt. Aber er hat mich begrapscht, da habe ich ihn abserviert. Ich will heute Abend niemanden abschleppen.“ Sams Wangen röteten sich noch mehr und er senkte den Blick. „Aber warum hast du dich hier eingeschlossen? Du hast doch vorhin ganz schön mit Caroline geschmust.“

„Ich bin schwul, schon vergessen?“

Ryan konnte nicht aufhören, Sams Gesicht anzustarren. Das helle Deckenlicht in seinem Zimmer ließ die verstreuten zimtfarbenen Sommersprossen auf Sams blasser Haut deutlich hervortreten. Seine Lippen waren tiefrosa und glänzten feucht, als hätte er jemanden geküsst.

Unter Ryans Blick leckte Sam sich nervös die Lippen, befeuchtete sie noch mehr, und sein Blick huschte nach oben in Ryans Gesicht.

„Richtig. Wie konnte ich das bloß vergessen.“

Ryans Zorn entbrannte bei dem sarkastischen Unterton, mit dem Sam das sagte. Geht das schon wieder los . „Was zum Teufel ist dein Scheiß-Problem?“, fauchte er. „Du hast gesagt, wir sollten lieber nur Freunde bleiben, und ich versuch’s ja, okay? Ich versuch’s. Also warum bist du dann so ein Arschloch? Wenn du mich nicht willst, was spielt es dann für eine Rolle, wenn ich was mit Caroline anfange – nicht, dass ich das wollte. Aber mal im Ernst. Du hast gesagt, was zwischen uns passiert ist, wäre keine große Sache, also was interessiert es dich dann?“

„Moment mal… was?“ Eine kleine, verwirrte Furche bildete sich auf Sams Stirn. „Ich dachte, du willst das so. Ich hab‘ dich gefragt, ob wir das fortsetzen sollen… das mit uns “ – er gestikulierte zwischen sich und Ryan hin und her – „aber du hast dich nicht direkt darum gerissen.“

Ryan dachte an ihre gestelzte Unterhaltung im Auto zurück und versuchte, sich daran zu erinnern, was genau er zu Sam gesagt hatte.

„Ich habe nicht nein gesagt.“ Da war er sich sicher. Warum hätte er das tun sollen?

„Du hast aber auch nicht ja gesagt.“

„Ich war durcheinander“, gab Ryan zurück. „Wir hatten noch nicht darüber geredet, weil wir nicht dazu gekommen sind, und dann kam alles so plötzlich und ich habe versucht, darüber nachzudenken, was ich will, weil das alles neu für mich ist und ich Angst davor hatte, was es für mich bedeuten würde, wenn wir nicht mehr nur Freunde wären, sondern… mehr als das. Aber Herrgott, Sam. Ich mag dich wirklich, verdammt nochmal – und nicht nur als Freund.“

Ryan machte eine Atempause. Mit hämmerndem Herzen versuchte er, Sams Reaktion zu deuten.

Sam sah völlig perplex aus. Er fixierte Ryan mit starrem Blick, die Lippen leicht geöffnet, als versuchte er, den Sinn hinter dem Wortschwall zu verstehen, der aus Ryan hervorgesprudelt war.

„Ich habe mich vor meiner Mum geoutet“, fügte Ryan hinzu. „Vor meinem Dad noch nicht, aber das habe ich vor. Bald. Und vor meinen anderen Freunden. Das mache ich auf jeden Fall, auch wenn du nicht mit mir zusammen sein willst. Ich bin bereit, offen damit umzugehen, wer ich bin.“

Sam blinzelte. „Natürlich will ich mit dir zusammen sein, du Blödmann. Ich bin in dich verliebt, seit… hm, ich weiß nicht mal genau, wie lange ich schon in dich verliebt bin. Muss ich erst ausrechnen. Aber auf jeden Fall schon viel zu lange.“ Seine Wangen röteten sich bei diesem Geständnis. „Oh Gott, tut mir leid. Das ist wahrscheinlich viel zuviel Druck. Kannst du bitte vergessen, dass ich das gesagt habe?“ Er zog den Kopf ein und wischte sich die Haare aus der Stirn. Aber sie fielen ihm gleich wieder über die Augen.

Ryan hob die Hand und strich ihm die Strähnen hinters Ohr. Er ließ die Finger zärtlich über Sams Wange gleiten, und Sams Bartstoppeln kitzelten seinen Daumen.

„Herrgott, Sam… Ich––“

„Du brauchst es nicht zu sagen. Nur, weil ich meine blöde Klappe nicht halten kann.“ Sams Stimme war scharf. Er blickte ruckartig auf und sah Ryan an. Seine Wangen waren immer noch gerötet und heiß.

Ryan starrte ihn an, aber er musste etwas sagen. „Ich wollte sagen, dass ich dir neulich Nacht fast betrunken eine SMS geschrieben hätte, dass ich auch in dich verliebt bin.“

„Du warst neulich Nacht in mich verliebt?“ Sam zog die Augenbrauen hoch, doch um seine Lippen spielte ein leichtes, neckendes Lächeln. Er fasste Ryan an den Hüften und ließ seine Hände mit leichtem Druck dort liegen, ohne ihn an sich zu ziehen oder wegzuschieben.

„Ich bin’s immer noch.“ Ryans Hand lag immer noch an Sams Wange, und sein Daumen ruhte jetzt in der Nähe von Sams Mundwinkel.

Unten hörte die Musik auf wie abgeschnitten, und alle begannen den Countdown bis Mitternacht zu brüllen: „Zehn, neun, acht––“

„Ich will dich um Mitternacht küssen“, sagte Ryan. Plötzlich wusste er ganz genau, was er wollte. Keine kalten Füße mehr, keine Unsicherheit. Sein Herz pochte heftig.

„Dann mach nur.“ Sams Lippen formten ein Lächeln, das Ryan glatt den Atem verschlug.

„Los, komm.“ Ryan packte Sam am Handgelenk und zog ihn von der Tür weg, um sie öffnen zu können. Er zerrte Sam hinter sich her und rannte durch den Flur, die Treppe hinunter und in das brechend volle Wohnzimmer.

„Zwei, eins!“

Der erste Glockenschlag von Big Ben hallte durch die sekundenlange Stille, ehe die ganze Party in Jubelgeschrei ausbrach.

Das Zimmer war voller Menschen, die sich umarmten und küssten und sich gegenseitig Neujahrsgrüße zuriefen.

Ryan führte Sam mitten ins Gedränge und wandte sich ihm zu. Es war ihm egal, wer zuschaute – je mehr Leute sie sahen, desto besser. Wenn er sich schon outete, dann mit Stil. Damit alle morgen etwas zum Tratschen hatten.

„Frohes neues Jahr“, sagte er. Sam konnte ihn bei dem Radau zwar nicht hören, aber er konnte es ihm von den Lippen ablesen. Sams Lippen bewegten sich, als er die Worte erwiderte, und sie grinsten sich an wie Idioten. Irgendwo in der Nähe ging in einem Garten ein Feuerwerk los.

„Dann mach nur“, wiederholte Sam. Er fasste Ryan an den Hüften und zog ihn an sich.

Ein Prickeln wallte in Ryans Brust auf und schäumte über wie geschüttelter Champagner, wenn die Flasche entkorkt wird, und endlich beugte er sich vor und küsste Sam auf den Mund. Er merkte, dass Sam lächelte, und tat es ihm nach, dann ertastete er die Konturen dieses Lächelns mit der Zungenspitze. Sam öffnete den Mund für einen innigen, langsamen Kuss, der zärtlich war und schmerzlich süß. Ryan legte Sam die Hände an die Wangen und brachte seinen Mund in den richtigen Winkel, und Sam schlang ihm die Arme um die Taille und presste sich enger an ihn, bis ihre Hüften perfekt ausgerichtet waren. Ihr Verlangen erwachte, langsam und träge, aber ohne sie zum Handeln zu treiben.

Sie hatten alle Zeit der Welt, erkannte Ryan. Jetzt lebten sie nicht mehr in einem Ausnahmezustand, irgendwo eingeschneit außerhalb ihres normalen Lebens. Das hier war ihre neue Realität. Zusammen zu leben, einander zu lieben, als beste Freunde und – davon ging Ryan aus – als Liebespaar.

2015 würde das beste Jahr aller Zeiten werden.