Erstes Zwischenspiel: Clayton
ER IST WEG”, sagte Trixie.
„Was hältst du von ihm?”, fragte Clayton.
„Er ist ein guter Kerl, Clay. Er hat nicht gekniffen.”
Clayton nickte. Trixies Onkel hatte ihn bereits angerufen und ihm erzählt, dass der Junge das fliegende Auto manuell gesteuert hatte. Das sagte ihm eine Menge. Aus seinem Fenster im 36. Stock hatte er ein fliegendes Auto passieren sehen. Das musste Scyth gewesen sein.
Ein trauriges Lächeln zog über sein faltiges Gesicht. Mit seiner beweglichen Hand nahm er einen Donut und hielt ihn an die Nase. Tief atmete er den lange vergessenen Duft ein, den Duft seiner Kindheit. Seine russische Großmutter hatte sie „Pyshka” genannt. Wenn ihr Enkel zu Besuch gekommen war, hatte sie so viele davon gebacken, dass Clayton für die nächsten Tage selbst wie ein Donut ausgesehen hatte.
In Öl gebackene Pyshka ... Clayton lachte, biss ein Stück ab und genoss den Geschmack. Das letzte Mal hatte er so etwas vor vielen Jahren gegessen, als er ein erfolgreicher Raumschiffpilot gewesen war. Er hatte über 5.000 Tage im Weltraum verbracht. Wenn er nur den Unfall nicht gehabt hätte! Das Rettungsshuttle hatte nicht richtig funktioniert, als er in die Erdatmosphäre eingetreten war, und es hatte eine harte Landung gegeben. Fast sein ganzer Körper war gelähmt gewesen, sein Status hatte sich geändert und er hatte seine Staatsbürgerschaft verloren. Das monatelange Koma hatte seine Ersparnisse und die von der Firma gezahlte Entschädigung aufgebraucht, noch bevor er aufgewacht war. Von einer Operation und Implantaten hatte er nur träumen können.
„Tut mir leid, Clay”, hatte der Mann von der Gewerkschaft mit gesenktem Blick gesagt. „Die Leute stehen hinter dir, aber ... Wir haben schon so viel bezahlt, um dich am Leben zu erhalten.”
Das Einzige, das ihm außer Selbstmord geblieben war, waren Cali Bottom und Dis gewesen. Das und weiter nichts. Nur Dis , ein minderwertiges Produkt. Nur ein Ersatz für das reale Leben.
Dort war er im Körper des Verfluchten Lichs gefangen gewesen, dem Boss der Tempelgruften. Aber das war besser, als es sich anhörte. Wenigstens konnte er in der virtuellen Welt laufen.
Die Entwickler hatten sich nicht die Mühe gemacht, mehrere Versionen der gleichen Instanz für die verschiedenen Gruppen von Spielern in Sandboxen zu erstellen. Man war der Meinung, dass das Spiel auf diese Weise realistischer wäre und die Sozialisation der Jugendlichen unterstützen würde. Eine Instanz war ein separater, dauerhafter Teil des Spiels, und wenn jemand in der Instanz war, konnte sie von niemand anderem betreten werden.
Normalerweise waren Instanzen von feindlichen NPC-Charakteren bevölkert, doch in diesem Jahr hatte das Unternehmen an einigen Orten nach und nach den „menschlichen Faktor” eingeführt. Eine Reihe von Nebencharakteren an geringer besiedelten Orten wurden unter die Kontrolle von Nicht-Bürger-Spielern gestellt, die nach bestimmten, nur Snowstorm Inc. bekannten Kriterien ausgewählt worden waren. Es war alles streng geheim, und das Geheimnis zu enthüllen, könnte mit einem lebenslangen Spielverbot bestraft werden. Für einen Nicht-Bürger bedeutete ein lebenslanges Spielverbot für Disgardium praktisch die Todesstrafe durch Verhungern. Jeder vernünftige Mensch würde absolutes Stillschweigen darüber bewahren, dass er statt eines Bergarbeiters, Holzfällers oder einer Reinigungskraft einen „Mob” oder „Bot” spielte, wie die Spieler die Charaktere verächtlich nannten.
Aber Trixie war kein vernünftiger Mensch. Er war geistig auf dem Stand eines Kindes. Für Clayton und seinen Onkel war er trotz seiner fast 40 Jahre ein Junge. Seine geistige Entwicklung war stark verzögert, daher hatte er nicht verstanden, dass er das Geheimnis für sich behalten musste, und hatte der gesamten Spielwelt seine neue Rolle mitgeteilt: Er war ein Zombie in der Tempelgruft. Niemand hatte den buckligen Mann ernstgenommen oder ihm geglaubt. Niemand außer ihm, Clayton, dem Freund seines Onkels. Und er hatte sofort verstanden, was vor sich ging.
Dann wurde Clayton zum Abgesandten der Vernichtenden Seuche – der nächsten Katastrophe, die das Unternehmen sich für das Spiel ausgedacht hatte. Dargo der Verfluchte Lich! Ha!
In den ersten Wochen hatte ihm seine neue Rolle als Gruftboss Spaß gemacht. War er nicht im Spiel, wenn er benachrichtigt wurde, dass Spieler die Instanz betreten hatten, ließ er alles stehen und liegen und lud Dis . Manchmal blieb er sogar im Spiel und schlief während der Pausen zwischen den Kämpfen.
Die ersten Skelette und Zombies gehorchten ihm bereitwillig und führten seine Befehle aus. Während er im Level aufstieg, lernte er neue Dinge, und seine Gruft-Armee erhielt neue Plätze. Es gelang ihm, eine Ratte mit dem Fluch der Untoten zu infizieren, und sie verbreitete die Infektion. So erschien eine neue Art von Mob in der Instanz: Zombieratten. Schade nur, dass sie ihm nicht gehorchten. Doch sie besetzten auch keine Plätze in seiner Armee, darum sperrte er sie einfach im Weinkeller ein, um sie daran zu hindern, seine menschlichen Zombies anzunagen.
Danach experimentierte er mit der ihm verfügbaren verfluchten Magie und schaffte es, das Faulige Gräuel zu kreieren – eine widerliche Kreatur, die aus verschiedenen Teilen menschlicher Körper zusammengenäht war. Dieser besonders starke Mob würde eines Tages vielleicht der Gruftboss werden, wenn er hoch genug levelte. An seinen Fähigkeiten zu arbeiten und Attribute und Fertigkeiten zu kombinieren, machte Spaß, obwohl es ihm jedes Mal den Magen umdrehte. Trotzdem rümpfte Clayton schon lange nicht mehr die Nase über seine Mobs, sondern betrachtete sie als Tiergefährten und seine persönliche Wache. Das war mehr oder weniger ihre Aufgabe.
Als er eines Tages wieder die Benachrichtigung erhielt, dass eine neue Gruppe von Spielern die Instanz betreten hatte, änderte er geschickt seine Taktik, indem er mehrere Wachen in seinem Dungeon platzierte. Früher oder später würde die Gruppe seine Gruft erreichen und alle Mobs einschließlich des Lichs töten. Aber Dargo studierte seine Feinde und änderte seine Taktik jedes Mal, um ihnen ihre Aufgabe zu erschweren und die Spieler auszutricksen, die in seinen – seinen! – Dungeon kamen, um leichte Beute zu machen.
Dargo und seine Untertanen verdienten Erfahrung und erhöhten nach und nach ihre Levels. Zu schade, dass einer von ihnen von einer Person gesteuert wurde und den primitiven Verhaltensskripts nicht gehorchte. Und es war doppelt so schade, dass es sich bei diesem Untertan um Trixie handelte. Er war nicht der Hellste, doch wenigstens leistete er Dargo Gesellschaft. Wenn niemand in der Instanz war, hatten sie Zeit, sich zu unterhalten.
Erfahrung zu verdienen, dauerte lange, denn jedes Mal, wenn sie starben, verloren sie einen Teil davon. Doch sie hatten eine ganze Ewigkeit vor sich. Zumindest eine Ewigkeit im Spiel, so hieß es jedenfalls in der Einführung, die Snowstorm Inc. ihm vor Antritt seiner neuen Aufgabe geschickt hatte. Wenigstens so lange, bis die Gefahr der Vernichtenden Seuche von allen Kräften in ganz Disgardium besiegt sein würde. Danach würde es neue Aufgaben für ihn geben. Er würde auch nicht unbedingt böse Kreaturen spielen müssen, obwohl Clayton selbst und Spieler wie er in seinen Augen die Bösen waren, weil sie das reale Leben durch dreidimensionale Abbildungen ersetzt hatten.
Diese verdammten Spielkonventionen! Wenn es möglich wäre, würde er all seine Mobs versammeln und sie die Spieler gemeinsam am Eingang begrüßen lassen. In zwei oder drei Jahren könnte Dargo vielleicht den gesamten Tempel des Leuchtenden Gottes übernehmen und von einer lokalen zu einer globalen Instanz werden, wie zum Beispiel die infizierten Ruinen von Tristad.
Doch gestern war dieser merkwürdige Junge vorbeigekommen. Er war nach seinem Tod nicht aus der Gruft verschwunden, sondern immer wieder an der Stelle respawnt, an der er gestorben war. Zuerst hatte Clayton gedacht, dass es ein Bug wäre, und hatte ein Ticket an den technischen Support geschickt, doch sie hatten ihm mitgeteilt, dass es Teil des Spiels wäre.
Ein Gruftboss, der sich über einen Cheater beschwerte. Haha! Clayton lächelte. Trixie interpretierte das Lächeln auf seine Weise und gab ihm noch einen Donut – den letzten.
„Hier, nimm ihn.”
„Bist du immer noch hier? Los, Trixie, dein Onkel wartet auf dich.”
„Okay”, antwortete der bucklige Mann.
Clayton brauchte nichts zweimal sagen. Für Trixie war das Gehorchen der einfachste Weg, zu leben.
„Trixie, warte.”
„Was ist, Clay?”
„Wenn dir der Junge begegnet ... Alex ...”
„Scyth?”
„Ich wusste schon immer, dass du schlau bist, Trix! Ja, Scyth. Wenn du ihm begegnest – hier oder in Dis – hilf ihm, ja?”
„Ich helfe ihm. Ich helfe Scyth. Clay sagt es, und Trixie tut es.”
„Danke. Und noch etwas: Sag deinem Onkel, dass er ein guter Kerl ist.”
„Onkel gut”, lächelte Trixie, sodass Clayton seine faulenden Zähne sehen konnte.
Nachdem der bucklige Mann gegangen war, verspeiste Clayton genüsslich den Donut, aß seine UNM und starrte dann lange aus dem Fenster. Ja, er hatte ein Fenster, von dem aus er den Himmel sehen konnte. Sicher, es peinigte ihn, dass er außer Reichweite war, aber in gewisser Hinsicht hatte er Clayton auf der Erde gehalten.
Zu sehen, wie Alex wieder und wieder versucht hatte, ihn zu töten, obwohl es offensichtlich ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen war, hatte etwas in ihm ausgelöst. Alex war anders als die anderen, die nach ein paar erfolglosen Versuchen aufgegeben hatten. Nein, dieser Junge erinnerte ihn an sich selbst in dem Alter, als ein an Asthma leidender Clay gegrinst hatte, bevor er so lange um seinen Wohnblock gerannt war, bis er sich die Lunge aus dem Hals gehustet hatte, um sich auf die vorgeschriebene ärztliche Untersuchung vorzubereiten, die er bestehen musste, um die Raumfahrtakademie besuchen zu können.
All seine Wut über die ungerechte Welt, das Leben und das Schicksal, das ihm den Rücken zugekehrt hatte, hatte in einer Folge von Tötungen Ausdruck gefunden, die ihm schnell langweilig geworden waren. Clayton hatte Alex auf jede mögliche Art besiegt, sich über ihn lustig gemacht und ihn mit allen Ausdrücken in seinem Bedienfeld verhöhnt – das Unternehmen erlaubte ihm nicht, selbst zu sprechen –, aber der Junge hatte nicht aufgegeben. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte er gedacht, dass dieser Scyth kein Spieler, sondern ein Bug sein müsste, ein Systemfehler.
Doch er war kein Fehler gewesen. Schließlich war Clayton müde geworden und hatte herausfinden wollen, was vor sich ging. Darum hatte er Scyth am Leben gelassen. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine reale Person, einen realen Teenager, der nach den Sternen griff.
Daraufhin hatte Clayton aufgegeben. Er hatte den Hardcore-Modus aktiviert, der den Tod seines Charakters endgültig machte, die Instanz war verschwunden, und er hatte sich von Scyth töten lassen. Diese Option war hinzugefügt worden, um besondere Spannung zu erzeugen. Sie gab Charakteren wie Dargo dem Lich zehn Mal mehr Erfahrung und erlaubte ihnen, auf eigene Gefahr zu spielen. Er würde wahrscheinlich alle Fortschritte verlieren, die er sich in monatelanger Arbeit verdient hatte, und vielleicht im Körper eines hirnlosen Zombies von vorn anfangen müssen. Keine verlockende Alternative. Dieses Risiko wollte Clayton nicht eingehen, darum hatte er an diesem Morgen beschlossen, den Job als Gruftboss aufzugeben und seine frühere Arbeit im Steinbruch wieder aufzunehmen. Er hatte dort noch alte Freunde, und auch wenn die Bezahlung geringer war, gab es wenigstens mehr Leute, mit denen er sich unterhalten konnte, als nur Trixie den Zombie.
Scyth hatte ihn besiegt, die Tempelgruft war vom Bösen befreit worden, und Clayton war mit seiner Entscheidung vollkommen zufrieden gewesen. Er hatte Dis verlassen und war zur einzigen Dusche des ganzen Stockwerks gerollt, um sich zu waschen. Bei seiner Rückkehr hatte er eine Benachrichtigung von Snowstorm Inc. vorgefunden, in der man ihn des unlauteren Verhaltens und Vertragsbruchs beschuldigte. Am Ende der kurzen Nachricht hatten sie den Nicht-Bürger Andrew Clayton mit einem lebenslangen Spielverbot belegt, das für alle Spielwelten galt.
Nun konnte Clayton weder seinen Lebensunterhalt verdienen, noch blieb ihm ein Grund zum Leben. Der Junge sollte nichts davon wissen, darum hatte er Trixies Onkel gebeten, Ausschau nach ihm zu halten. Falls Scyth auftauchen würde, sollte er ihm sagen, dass Clayton gestorben war.
Dann hatte er aber doch bis zum Abend gewartet. Entweder hatte er sich versichern wollen, dass er recht gehabt hatte und der Junge es wert gewesen war und sein Versprechen gehalten hatte, oder er hatte einfach gehofft, einen letzten Donut essen zu können. Vielleicht war es von beidem etwas gewesen.
Doch nun hatte er das letzte Ziel seines Lebens erreicht. Es gab keinen Grund mehr, zu bleiben. Im Leben nach dem Tod konnte man vielleicht auch noch Spaß haben.
Clayton rollte zum schmalen, weit geöffneten Fenster, zog sich an der Fensterbank hoch und flog ein letztes Mal.