Kapitel 12: Gefahren und Belohnungen
DIE SONNE WAR
fast untergegangen, als ich nach Hause kam. Ich war müde und genervt vom Verkehr auf den Luftstraßen.
Meine Mutter stürzte sich sofort auf mich. „Wo bist du gewesen, Alex?”, fragte sie aufgebracht.
Das war eine seltsame Frage, denn sie konnte meinen Aufenthaltsort jederzeit verfolgen und genau sehen, wo ich zu welcher Zeit war.
Duda stieß meinen Arm mit seiner feuchten Nase an und leckte meine Hand. Während ich den Katzenhund streichelte, antwortete ich, ohne aufzublicken: „Ich habe einen Freund besucht.”
„Woher hast du Freunde in Cali Bottom?”
„Aus Dis
. Aber er hat den Löffel abgegeben.”
„Was heißt das?”
„Er ist gestorben.”
„Was?!”
Auf meinem Weg ins Bad gab ich knappe Antworten auf die Fragen meiner Mutter. Ihr rotes Gesicht und ihre raue Stimme deuteten an, dass sie
gerade einen üblen Streit mit meinem Vater gehabt hatte. Mein Vater war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war er in die Kneipe gegangen, um zu warten, bis sich die Wut meiner Mutter gelegt hatte. Wenn sie wütend wurde, wurde ihre Stimme hart, ihre Augen schienen zu sprühen und ich wartete jedes Mal auf den Moment, wenn schwarze Flügel aus ihrem Rücken wachsen würden. Wie in Filmen, wenn Leute vom Teufel besessen waren.
Schließlich gab sie Ruhe und ließ mich in Frieden. Sie murmelte nur, dass mein Mittagessen jetzt mein Abendessen wäre und ich es selbst aufwärmen könnte, wenn ich wollte. Ich wollte nicht. Nachdem ich mir die kalten, geschmacklosen Schnitzel aus synthetischem Fleisch in den Mund geschaufelt hatte, stieg ich in meine Kapsel. Während die Realität zu flackern begann und verschwand, bemerkte ich überrascht, wie sehr es mich wieder nach Dis
zog.
Ich hatte eine Menge zu tun. Zuerst wollte ich mir die Beute von Dargo holen. Ich bedauerte sehr, dass ich Clayton nie kennengelernt hatte. Außerdem musste ich mich um die ungelesenen Benachrichtigungen und Meldungen kümmern und meine Ausrüstung überprüfen. Wenn etwas darunter war, das ich nicht gebrauchen konnte, würde ich versuchen, es Leichtgewicht zu verkaufen. Ich musste zur Anschlagtafel beim Rathaus gehen, um zu sehen, ob Missionen verfügbar waren, und mich auf die Suche nach Patrick machen, um herauszufinden,
wie ich seinen Fluch loswerden könnte. Was das betraf, hatte ich eine interessante Idee. Wenn sie funktionieren würde ... Doch fürs Erste konnte ich damit leben.
Darüber hinaus wollte ich durch die Stadt gehen und mit einigen Einwohnern sprechen. Vielleicht würde einer von ihnen mir eine gute Quest geben. Als letztes musste ich mir überlegen, wie ich von nun an leveln sollte. Um es mit den Worten meines Onkels Nick zu sagen: Ich steckte bis zum Hals in Arbeit.
In Tristad wurde es langsam dunkel. Sandboxen waren an den physischen Ort eines Spielers auf dem Planeten gebunden, und die Zeit wurde ebenfalls synchronisiert. Alle Teenager, mit denen ich meine Sandbox teilte, lebten in der selben Gegend.
Ich tauchte an der gleichen Stelle auf, an der ich das Spiel verlassen hatte. Im nächsten Moment kam ein Spieler auf mich zu, irgendein mickriger Level-1-Anfänger. „Pass auf, wo du hingehst!”, rief er mit einer tiefen Bassstimme. Offensichtlich war ihm nicht klar, dass ich gerade wieder ins Spiel gekommen war. Erstaunt schaute ich hinter ihm her. Er sah aus wie ein 14-Jähriger, aber seine Stimme ... Beeindruckend!
Ich suchte mir eine sichere Ecke und prüfte mein Inventar. Was hatte Dargo der Verfluchte Lich gedroppt?
Als Erstes sah ich ein Amulett und keuchte vor
Freude. Mein erster ungewöhnlicher grüner
Gegenstand, der einen Bonus auf Attribute gab!
Schweres Bronzeamulett
Ungewöhnlich
+5 Ausdauer
Erforderliches Level: 5
Verkaufspreis: 98 Silbermünzen, 50 Kupfermünzen
Das Amulett hing an einem geflochtenen Lederband und war dazu gedacht, um den Hals getragen zu werden. Zu ärgerlich, dass die Levelanforderung für mich zu hoch war, um es anzulegen. Bei einer Auktion würde dieser Gegenstand sicher mindestens 3 oder 4 Goldmünzen einbringen, doch fürs Erste würde ich ihn behalten.
Ich platzierte das Amulett wieder in meinem Inventar und untersuchte den nächsten Gegenstand, den schuppigen Gürtel. Zuerst traute ich meinen Augen nicht, doch nachdem ich sichergestellt hatte, dass ich richtig gesehen hatte, konnte ich einen Freudenschrei nicht zurückhalten. Ich sprang hoch und schüttelte meine Faust. Der Ledergürtel war blau
. Ein seltener Gegenstand!
Verdorbener Schuppengürtel
Selten
Rüstung: 4
+9 Stärke
+12 Ausdauer
+3 % Chance auf kritischen
Schaden
Haltbarkeit: 90/90
Erforderliches Level: 10
Verkaufspreis: 7 Goldmünzen, 52 Silbermünzen
Chance, den Gegenstand nach einem Tod zu verlieren, reduziert sich um 50 %.
„Mann, woher hast du den, Noob?” Ich drehte mich um und erkannte den Krieger, der mir nur zu gut bekannt war: Level-12-Crag, auch bekannt als der 15-jährige Tobias Asser, der mich der Stadtwache ausgeliefert hatte.
Er grinste durch das offene Visier, aber er starrte auf meinen Gürtel. Langsam griff seine Hand nach meiner Beute.
„Das verrate ich dir nicht.” Schnell verstaute ich den Gürtel in meinem Inventar, ohne den Blick von Crag abzuwenden. Er tat so, als ob er sich am Hinterkopf kratzen wollte, und holte dabei weit aus. Konnte er sich wirklich kratzen, obwohl er einen Plattenhelm trug? Ich hörte, wie Metall auf Metall schabte. Der Krieger verzog ärgerlich das Gesicht.
„Verkauf ihn mir”, sagte Crag. „Das Ding ist gut für Stärke und Ausdauer. Du brauchst keins von beiden. Außerdem musst du erst ein halbes Jahr leveln, bevor du ihn anlegen kannst. Ich gebe dir 10 Silbermünzen.”
„Er steht nicht zum Verkauf, tut mir leid.”
Als ich gehen wollte, legte er seine schwere Hand auf meine Schulter. Ich drehte mich um und
sah, wie er die Augen verengte.
„20”, sagte Crag freundlich.
„Bei einem Händler kann ich 7 ½ Goldmünzen für ihn rausschlagen.”
„Bist du bescheuert? Wenn du ihn versteigerst, kannst du drei- oder viermal so viel bekommen und ...” Er verstummte.
„Genau, mein lieber Crag.”
„Ich gebe dir einen guten Rat, äh, Scyth. Verkauf ihn mir, denn du kannst ihn sowieso nicht benutzen.”
Mir wurde klar, dass er nie aufhören würde, solange ich antwortete. Darum erwiderte ich nichts mehr, während er nicht aufhörte, mich überzeugen zu wollen. Er erklärte, dass er mir alles geben würde, was er besaß – ganze 2 Goldmünzen. Den Rest würde er mir in der realen Welt geben, doch nicht sofort, sondern in Raten im nächsten Jahr ...
Ich hatte begonnen, alte Nachrichten zu lesen. „Ich habe heute Abend etwas vor, Alex, darum bin ich heute zum ersten Mal allein in Dis
. Ohne dich ist es noch hundertmal langweiliger!”, hatte Eve am Nachmittag geschrieben. Und weiter: „Wow, sieh dir diese Achievements an!”
Verdammt! Ich hatte vergessen, dass die Protokolle wichtiger Ereignisse den Gruppenprotokollen hinzugefügt wurden. Egal, Eve war eine Freundin, sie würde niemandem etwas verraten.
„Was bedeutet Mal der Vernichtenden
Seuche
? Haben sie dir eine neue Fertigkeit gegeben?” Danach folgten noch mehrere Gratulationsnachrichten, denn aus Langeweile hatte sie sich die Beute angesehen, die ich eingesammelt hatte. Schließlich hatte sie verkündet, dass sie mit ihrer Geduld am Ende wäre, und hatte das Spiel verlassen.
Ich wusste nicht warum, aber ich wollte nicht, dass Eve weiterhin Informationen darüber erhielt, was bei mir vorging, darum verließ ich die Gruppe. Sie hatte übrigens keine Erfahrung für die Gruft erhalten. Das ergab Sinn, denn andernfalls würde jeder Spieler auf diese Weise leveln.
„Hast du gehört, was ich gesagt habe? He, Noob, halloo-oo!” Ich schloss den Chat. Crag hatte seine in Eisenhandschuhen steckenden Hände vor meiner Nase zusammengeklatscht, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. „Ich gebe dir jetzt gleich 3 Goldmünzen.”
„Erstens störst du mich beim Spielen. Zweitens verstehst du offenbar nicht, was das Wort ‚nein‘ bedeutet, und drittens rufe ich gleich die Wache. Noch Fragen?”
„Na gut, Noob, aber ich werde dich nicht vergessen”, drohte Crag, bevor er wegging.
„Hast ja lange genug gebraucht, dir mein Gesicht zu merken ...”, antwortete ich, abgelenkt durch persönliche Nachrichten oder, genauer gesagt, eine einzige Nachricht. Und es war kein Spam, sie kam direkt von den Entwicklern.
Die Götter von
Disgardium
grüßen dich, ehrenwerter Scyth!
Zufällig oder nicht, durch deine jüngsten Handlungen hast du dir einen Platz unter unseren außerordentlichsten und einzigartigsten Spielern verdient. Du bist zur Gefahr für die Welt geworden!
Das System, das Spieler als Gefahren für die Welt klassifiziert, ist ein wichtiger und unverzichtbarer Teil unseres Spiels. Es ist der entscheidende Faktor, der
Disgardium bei unseren unzähligen Anhängern weltweit unverwechselbar und beliebt macht. (Jedenfalls in der langweiligen Welt, aus der du kommst.)
Potenzielle Gefahrenklasse, die du für die Welt darstellst: L
Derzeitige Gefahrenklasse, die du für die Welt darstellst: Z
Eigenschaften der Gefahr:
Unbemerkt, Teil der globalen Katastrophe „Vernichtende Seuche”, Pandemie, nichtlineare Charakterentwicklung, versteckter Vorteil gegenüber höherleveligen Feinden.
Schöpfe dein volles Potenzial aus und erreiche die maximale Gefahrenklasse!
Während deine Gefahrenklasse steigt, werden weitere
interessante Ereignisse um dich herum generiert und mehr Spieler werden sich der Jagd auf dich anschließen.
Was springt für dich dabei heraus, außer der Chance, unglaublich spannende Abenteuer zu erleben?
Nachdem die Gefahr beseitigt wurde, erhältst du:
– einen neuen Charakter mit einer einzigartigen Fertigkeit
– eine Ingame-Belohnung beginnend mit Level 1. Je höher deine letzte Gefahrenklasse war, desto wertvoller wird der Preis!
– ein Geldbonus, der von
Snowstorm Inc. auf ein individuelles Konto der Globalen Bank eingezahlt wird. Er hängt ebenfalls von deiner letzten Gefahrenklasse ab.
Und was jetzt? Spiele! Wachse als Gefahr und halte deinen besonderen Status geheim, auch nach deiner Eliminierung.
Das wird dir helfen, so lange wie möglich als Gefahr für die Welt auszuhalten und dir ermöglichen, dein Potenzial maximal zu entwickeln.
Solltest du deinen Status zu irgendeinem Zeitpunkt enthüllen, auch wenn es außerhalb der Spielwelt
passiert, behält das Unternehmen von
Snowstorm Inc. sich das Recht vor, ...
An der Stelle hörte ich auf, zu lesen. Ich brauchte einige Zeit, um mich zu sammeln. Ich ging die Ereignisse von heute Morgen immer wieder im Kopf durch. Was hatte mich an diesen Punkt gebracht? Patricks Fluch? Dargos Tod und das Achievement? Das Mal der Vernichtenden Seuche
? Den Eigenschaften der Gefahr nach zu urteilen war ich nicht weit von der Wahrheit entfernt.
Ich war also die Gefahr, von der die globale Meldung gesprochen hatte? Das Vorgebirge der Namenlosen Berge ... Es gab keinen Zweifel. Nun würden die Clans der Verhinderer eine Hetzjagd auf mich organisieren.
Zuerst müssten sie mich jedoch finden, und sie hatten keinen Zugang zu unserer Sandbox. Wie sollten sie es je erfahren? Schließlich stand es mir nicht auf der Stirn geschrieben ... oder doch? Ich öffnete mein Profil und überprüfte es genau. Ich fand nichts, dass auf mich als Gefahr für die Welt hindeutete. Das war wenigstens etwas.
Danach kehrte ich zu der Nachricht zurück. Was folgte, war eine Liste möglicher Strafen bis hin zum außergerichtlichen Entzug der Staatsbürgerschaft (für Bürger) und enorm hohen Bußgeldern. Den gesamten Text der Vereinbarung würde ich in einer separaten Nachricht erhalten, sobald ich den Bedingungen zugestimmt hätte. Warum sollte ich nicht zustimmen?
Ich hatte nichts zu verlieren. Ich hing nicht besonders an meinem Charakter, zumal er verflucht war.
Die Vereinbarung war in langweiliger Juristensprache geschrieben. Außer dem Hinweis, dass mein Status als Gefahr nicht zeitlich begrenzt war, fand ich nichts Neues darin. Ich war verpflichtet, jeden Tag mindestens 3 Stunden Echtzeit im Spiel zu verbringen. In einem getrennten Abschnitt wurde ausgeführt, dass, falls ich mein maximales Potenzial erreichen würde, das Unternehmen mich mit einer Kapsel entschädigen würde, die mich mit allem Lebensnotwendigen versorgen würde. Falls ich krank werden würde oder gezwungen wäre, das Spiel aus einem anderen Grund zu verlassen, würde ich die verlorene Zeit aufholen müssen.
Der Weg, den der Nekromant gewählt hatte, gefiel mir nicht. Ich wollte kämpfen und würde mich nicht mit Klasse Z zufriedengeben.
Am Ende der Nachricht wurde explizit das „Eliminieren der Gefahr” definiert. Ich konnte sterben, so oft ich wollte, aber nur solange, bis man mich als Gefahr geoutet hatte. Ich konnte durch ein Brandzeichen am Handgelenk identifiziert werden, das nur im Licht einer Flamme der Wahrheit
sichtbar sein würde, einem sehr teuren Artefakt, das nur mit extrem seltenen Zutaten hergestellt werden konnte.
Der Spieler, der die Gefahr enthüllt hatte, konnte sie eliminieren, indem er den Charakter tötete und ein volles Exkarnationsritual ausführte. Das Ritual war ziemlich einfach. Alles, was man
tun musste, war, dem Charakter einen spitzen Gegenstand ins Herz zu stoßen und feierlich zu erklären: „Ich vertreibe dich für immer und ewig aus Disgardium
!” Das musste jedoch schnell getan werden, bevor die Leiche verschwand.
Nachdem die Gefahr entlarvt und identifiziert worden war, wies das Spiel dem erfolgreichen Verhinderer eine Wissensmarkierung zu. Erst nachdem ein Spieler diese Markierung erhalten hatte, konnte er die Gefahr ein für alle Mal eliminieren. Danach droppte die Gefahr einen farbigen Kristall. Je höher ihre potenzielle Klasse, desto größer war der Kristall. Sobald dieser Kristall aktiviert wurde, öffnete er ein vorübergehendes Portal zu einer Schatzkammer, die die Belohnungen für den Verhinderer enthielt.
Ich entblößte mein Handgelenk und sah ein schwarzes Brandzeichen, das giftgrün leuchtete. Eine Textzeile erschien.
Brandzeichen einer Gefahr der Klasse Z mit Potenzial für Klasse L
„Wie geht‘s, wie steht‘s, Scyth?”, erklang eine tiefe, samtweiche Stimme. „Was hast du denn da?”