Kapitel 20: Freundliche Fremde
TRÄUME SPIEGELTEN DIE Wirklichkeit wider. So ähnlich hatte es jedenfalls ein bekannter Psychologe vor langer Zeit einmal ausgedrückt. Das traf jedoch nicht auf meine Träume zu, denn während der wenigen Stunden, die ich vor der Schule schlafen konnte, hatte ich geträumt, Crawlers Einladung akzeptiert zu haben und ein Mitglied des Clans der Dementoren geworden zu sein.
Eds Idee war einfach gewesen: Dungeons würden nicht neu laden, solange sich mindestens ein Gruppenmitglied darin aufhielt. Der einzige Überlebende nach einem Wipe würde immer ich sein, darum sollte ich den Wiederauferstehungsstein benutzen, um Tissa wiederzuerwecken. Die Dementoren hatten mir erzählt, dass es ein äußerst teurer, handgefertigter Gegenstand wäre, der jedes tote Gruppenmitglied wiedererwecken könnte, das sich noch in seinem Körper befand. Und solange ein Mitglied der Gruppe in der Instanz blieb, konnte ein Spieler als Leiche liegen bleiben .
Die Dementoren hatten einen Großteil ihres Vorratslagers geleert, um das Geld für dieses Artefakt aufzubringen. Ihr bisheriger Plan war gewesen, Infects Unsichtbarkeit einzusetzen. Er sollte den Kampfmodus verlassen und Tissa wiedererwecken. Dann sollte die Priesterin des Leuchtenden Gottes ihre Fähigkeit nutzen, um alle anderen zurückzuholen. Auf diese Weise würde der Clan nach einem Wipe nicht zurückrennen müssen, um die ganze Instanz noch einmal von vorn zu beginnen, in der Hoffnung, dass niemand anderes sie inzwischen betreten hatte. Leider hatten die hochleveligen Mobs den Plan durchkreuzt, indem sie Infect aus seiner Tarnung geholt und in Stücke gerissen hatten. Das Artefakt war nutzlos gewesen, doch statt es bei der Auktion zu verkaufen, hatten sie es behalten.
In unserer Sandbox gab es nur einen einzigen Dungeon, der noch nicht gespielt worden war. Er war vor langer Zeit in den Olton-Steinbrüchen erschienen und hieß „Das Böse aus den Tiefen”. Das empfohlene Mindestlevel war 20, und niemand in der Sandbox war so stark. Crawler hatte fast zwei Jahre gebraucht, um Level 16 zu erreichen. Nachdem Spieler zwei Jahre in der Sandbox verbracht hatten, wurden sie zwangsweise ins große Disgardium transferiert, auch wenn sie bleiben wollten.
Während der ganzen Zeit hatte sich Das Böse aus den Tiefen ungestört ausbreiten und neue Territorien suchen können. Darum wartete nun eine märchenhafte Belohnung auf den Spieler, der es schaffen würde, den Dungeon zu bewältigen. Der Stadtrat erhöhte den Preis für das Böse mindestens einmal im Monat. Die Levels der Bosse und Mobs erhöhten sich ständig, und die Qualität der Drops verbesserte sich dementsprechend. Aber vor allem würde der Spieler garantiert 2 Achievements erhalten: Erster Durchlauf und Erster Kill eines Endbosses, den bis jetzt nur wenige zu Gesicht bekommen hatten.
Also träumte ich, dass ich dem Clan beigetreten wäre, und wir die Instanz in den Olton-Steinbrüchen geschafft hätten. Und ich war nicht gestorben, doch Fluch der Untoten war ausgelöst worden, sodass noch am gleichen Tag nicht nur mein eigener Clan, sondern die ganze Sandbox einschließlich Patrick dem Trunkenbold die Jagd auf mich eröffneten. In meinem Traum jagten sie mich überall in Tristad mit Fackeln und Mistgabeln, bevor sie mich einfingen. Bevor ich ein für alle Mal aus Dis verbannt wurde, verkündete der Erste Stadtrat Whiteacre: „Untote gehören ins Grab!”, und Patrick nickte und sagte: „Verfluchter Untoter! Er hätte eine Kupfermünze für den alten Onkel Patrick erübrigen sollen.”
Mein Traum war so überwältigend, dass ich fast gekniffen hätte und nicht zur Schule gegangen wäre. Dazu hätte ich allerdings eine Krankheit vortäuschen und eine entsprechende Benachrichtigung ans System schicken müssen. Ich wusste nicht, wie man das am besten anstellte, aber ich hatte von Klassenkameraden gehö rt, die ihre Körpertemperatur erhöht hatten, indem sie viel Kaffee getrunken oder einige Tropfen Jod geschluckt hatten.
Während ich noch darüber nachdachte, kam meine Mutter ins Zimmer und zwang mich, aufzustehen, weil sie meine Bettwäsche abziehen wollte, um sie reinigen zu lassen. Unterdessen entschied ich, dass es einfacher sein würde, den Unterricht über mich ergehen zu lassen, als herauszufinden, wie ich mir in einer Apotheke Jod besorgen könnte.
Also flog ich wie gewöhnlich mit Eve zur Schule. Sie redete ununterbrochen, aber die Farbe ihres Zimmers im neuen Haus war ein derart triviales Problem für mich, dass ich den Drang verspürt hatte, ihr eine Ohrfeige zu geben, um sie zum Schweigen zu bringen. Das tat ich natürlich nicht. Es war schließlich nicht ihr Fehler, dass sie ein einfacheres Leben hatte als ich.
Die Stadt lag unter einer dichten Wolkendecke. Nur über Stadtvierteln von Klasse-D-Bürgern und höher wurde der Himmel geräumt, und unser Viertel gehörte nicht dazu.
Als Eve bemerkte, dass ich in Gedanken weit weg war, stieß sie mich an. „Alex!”
„Sorry, ich habe nicht zugehört. Was hast du gesagt?”
„Mein Geburtstagsgeschenk! Ich habe mir das ‚Cooles Babe‘-Paket gewünscht. Es enthält eine Schönheitsoperation, Gesichtskorrektur und ...” Eve errö tete.
„Und was?”
„Alex! Zwing mich nicht, es auszusprechen!”
„Einen Sexroboter?”
„Nein, Blödmann!” Eve wurde wütend und sagte kein Wort mehr, bis wir angekommen waren.
Ich wusste, dass ihr Geschenk einen Roboterliebhaber beinhaltete. Er würde ihr ... alles beibringen. Meine Eltern waren in dieser Hinsicht altmodisch. Sie dachten, dass so etwas zu weit ginge, und die meisten Teenager waren der gleichen Meinung. Es war uncool, einen dieser Roboter zu haben. Zuzugeben, dass man eine Puppe benutzte, auch wenn es eine war, die kaum von einer echten Person zu unterscheiden war, kam sozialem Selbstmord gleich. Darum sprach niemand in der Schule darüber, aber ich wusste genau, dass Aaron Quan eine von seinen Eltern bekommen hatte, die wie Denise Le Bon aussah. Er hatte es zwar abgestritten, aber er hatte mindestens einmal mit ihr geschlafen. Haha! Natürlich glaubten wir Aaron „Roboterlover” Quan aufs Wort!
Denise Le Bon hatte übrigens 100 Millionen Phönix dafür erhalten, dass das Unternehmen ihr Bild in erotischen VR-Welten und für Modelle von Lustrobotern verwenden durfte. Mein Vater liebte den Witz, dass die Menschheit sich ihre schlechten Angewohnheiten nicht abgewöhnte, sondern sie nur weniger schädlich machte.
Zu Beginn der ersten Pause zogen Ed und die Jungs mich in den Schulhof und bearbeiteten mich erneut. Letzte Nacht hatte ich ihr Angebot abgelehnt und gleich darauf das Spiel verlassen, als Bomber angefangen hatte, Flüche auszustoßen. Heute Morgen hatten sie am Schuleingang auf mich gewartet, aber als ich angekommen war, hatte es bereits geklingelt. Tissa hatte mich während des Unterrichts angestarrt. Hung hatte mich von hinten getreten, und Malik hatte unheilvoll geflüstert: „Aaaaleex!” Als ich mich umgedreht hatte, hatte er die Arme vor der Brust gefaltet und so getan, als ob er beten würde. Ich hatte den Kopf geschüttelt und sie von da an ignoriert.
„Du Mistkerl, Sheppard. Zwing mich nicht, noch härter zu drücken!”, drohte Hung jetzt, während er mich mit der Hand gegen die Wand presste.
„Alex, Süßer, warum zerbrichst du so schnell? Du bist wie ein kleines Mädchen!”, machte Tissa bei dem Spaß mit. „Es ist dein Recht, unserem Clan nicht beizutreten, aber schließ dich einer Gruppe an und komm mit uns. Wir bekommen das Achievement und du kannst gehen. Was sagst du dazu?”
„Verdammt, Alex!” Ed schlug mit der Faust neben meinem Kopf gegen die Wand. „Was ist dein Problem?”
„Jungs, Tissa! Merkt ihr nicht, dass ihr die Sache viel schwieriger macht, als sie ist? Wo habt ihr das Verhandeln gelernt? Erstens könnte ich allein durch den Dungeon kommen und leveln. Zweitens könnt ihr mich durch Gewalt nicht einschüchtern. Sagen wir mal, ich würde dem Clan beitreten, wir gehen in die Instanz, ihr sterbt und ich benutze den Wiederauferstehungsstein nicht? Hat euch noch niemand gesagt, dass Leute nur zusammenarbeiten, wenn beide Seiten davon profitieren? Ihr würdet bekommen, was ihr wollt, aber was ist mit mir? Warum sollte ich die Erfahrung und Loot mit euch teilen?”
„Seht ihr, er macht es nicht!”, rief Malik. „Habe ich dir nicht gesagt, dass er ein Freak ist, Tissa? Gut, er spielt jetzt Dis . Na und? Er ist immer noch der gleiche Alex Sheppard, den wir seit der ersten Klasse kennen.”
Ed räusperte sich und sagte düster: „Hung, lass ihn los. Soll er ruhig seine Zeit verschwenden.”
„Wir hätten ihm gestern nicht helfen sollen!”, schrie Malik wütend. „Er ist es nicht wert.”
„Doch”, widersprach Ed. „Wir erlauben Außenseitern wie Crag nicht, einen von uns zu erledigen ... egal, was für ein Dreckskerl er ist.”
Tissa wollte etwas sagen, doch sie schwieg. Ed verstand, dass ich nicht antworten würde, und winkte ab.
„Verschwinde, Sheppard. Nutze deine Cheater-Fähigkeiten, verbessere dein Level ... Falls du deine Meinung änderst, weißt du, wo du uns findest. Gehen wir, Leute.”
Ich blieb noch für eine Weile stehen und merkte, wie sich eine merkwürdige Frustration in mir aufbaute.
Als ich in die Klasse zurückkehrte, brannten meine Wangen. Ich wich den Blicken der Dementoren aus. Ed hatte mir ein schlechtes Gewissen gemacht, und ich dachte während der ganzen nächsten Stunde über die Sache nach, bevor ich eine Entscheidung traf.
Ich verstand langsam, was Rodriguez gemeint hatte, als er Eve verbrannt und zu mir gesagt hatte, dass ich keine Freunde hätte. Es war etwas Besonderes gewesen, als sie mich gestern verteidigt hatten. Es war eine Mischung aus Freude, Stolz und Zufriedenheit über den gerechten Ausgang der Situation mit Crag gewesen. Darum beschloss ich, ein Risiko einzugehen.
Nach der Stunde wollte ich mit ihnen reden, doch Herr Kovacs rief mich zu sich. Der Geschichtslehrer durchsuchte sein Tablet und öffnete mein Erfolgsprofil.
„Das ist der Bericht der letzten Woche über dich. Dein Aktivitätslevel während des Unterrichts ist um 84 % gesunken. Ist alles in Ordnung? Hast du vielleicht ein Problem?”
Ja, ich hatte gleich mehrere Probleme. Die Scheidung meiner Eltern, meine Angst, den Staatsbürgerschaftstest nicht zu bestehen, die ständige Sorge, meinen Gefahrenstatus geheim halten zu müssen und meine Beziehung zu den Dementoren. Doch sobald ich darüber reden würde, würde ich unter die Beobachtung des akademischen Kollegiums gestellt werden. Die Aufgabe dieser Leute wäre, mir zu helfen, aber ich konnte mir keine Maßnahme vorstellen, die vorteilhaft für mich wäre. Wahrscheinlich würden sie mir nur einen Haufen Fragen stellen, meine Eltern zurechtweisen und mir einen Betreuer zuweisen. Ein Betreuer wäre das letzte, was ich gebrauchen könnte, darum lächelte ich und sagte: „Nein, alles in Ordnung, Herr Kovacs.”
„Ach ja?” Er legte den Kopf schief und sah mich misstrauisch an – einer seiner psychologischen Tricks, für die er bekannt war. „Du kannst mir die Wahrheit sagen, Alex. Wir kennen uns schon eine lange Zeit. Ich erinnere mich noch an deinen ersten Schultag, als du erst sechs Jahre alt warst. Jetzt bist du fast erwachsen.”
„Jeder wird erwachsen, Herr Kovacs.” Ich zuckte die Schultern und sah mich nervös um. Ich wollte mit Ed, Tissa und den anderen reden, aber nicht in Dis .
„Du kannst mich Greg nennen, Alex.”
„Alles ist in bester Ordnung, Greg. Kann ich jetzt gehen? Meine Freunde warten auf mich.”
„Ja, aber wenn du mit jemandem reden willst, weißt du, wo du mich findest.”
Es war bereits das dritte Mal, dass ich diese Worte heute gehört hatte. Heute Morgen nach dem Frühstück, als mein Vater kurz vergessen hatte, dass er sich von meiner Mutter scheiden lassen würde, hatte er sie gefragt, wo seine Socken wären, und sie hatte geantwortet: „Du weißt, wo du sie finden kannst, Mark. Und wenn nicht, solltest du lernen, Sachen dort hinzulegen, wo sie hingehören.”
Ehrlich gesagt stimmte das nicht so ganz. Mein Vater und ich wussten immer, wo wir unsere Sachen hingelegt hatten, und der Reinigungsroboter fasste sie nicht an, aber meine Mutter hatte die Angewohnheit, sie „wegzuräumen”. Sie legte sie hin, wohin sie ihrer Meinung nach gehörten, und diese Plätze änderten sich ständig, sodass es zu einer legendären Quest werden konnte, abends ein T-Shirt zu finden, das man morgens auf die Couch geworfen hatte.
Draußen kam ein lästiger Dunst vom Himmel. Die Startrampe war bereits leer. Es war kein einziges fliegendes Auto zu sehen, und bis auf zwei Schüler war niemand mehr da. Unter dem Dach standen Eve in einem beigen Mantel unter ihrem Luftstrom-Regenschirm und neben ihr eine vor Kälte zitternde Tissa. Ihr Gesicht war von der Kapuze ihres weiten Hoodies verdeckt und ihre Hände steckten in den Taschen. Als sie mich entdeckte, winkte sie. Eve machte einen unentschlossenen Schritt auf mich zu und warf einen Blick auf Tissa.
„Willst du dich mit unter meinen Schirm stellen?”, fragte Eve.
„Wir müssen uns unterhalten”, sagte Tissa.
„Danke, Eve”, erwiderte ich. Dann wandte ich mich Tissa zu und antwortete: „Ich muss auch mit dir reden.”
Eve zog einen beleidigten Flunsch. Es war eine unangenehme Situation. Ich hatte das Gefühl, meine alte Freundin gegen neue Freunde einzutauschen.
„Ist unter dem Schirm Platz für uns drei?”, wandte ich mich an Eve.
„Ich weiß es nicht ... Ich kann den Luftstrom höher einstellen.” Eves Finger glitt am Griff nach unten. „Okay, stellt euch neben mich.”
Ich ging unter den Schirm. Tissa zwängte sich zwischen Eve und mich. Sie stand so dicht bei mir, dass mein Herz schneller schlug.
„Leg los”, sagten Tissa und ich gleichzeitig. Wir schwiegen verlegen.
„Spielst du heute Dis , Alex?”, fragte Eve unsicher. „Sollen wir uns wieder vor das Gasthaus setzen? Wenn du willst, können wir zusammen leveln. Ich will mir Spielwährung kaufen, damit ich mir Ausrüstungsteile beschaffen kann. Soll ich dir auch einige besorgen?”
Tissa rümpfte spöttisch die Nase. „Hier stinkt‘s nach Fett. Und nach Schleim.”
„Hör auf!”, rief ich. „Eve, Tissa macht nur Spaß. Ja, ich werde in Dis sein, aber du musst fürs Erste allein leveln. Ich bin schon auf Level 4 und habe meine eigenen Quests. Beeil dich und hol mich ein”, ermutigte ich Eve und klopfte ihr auf die Schulter.
„Na gut, Alex”, sagte Eve leise. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Wenn ich dich eingeholt habe, kann ich dir helfen.”
So miserabel hatte ich mich noch nicht einmal gefühlt, als ich von der Scheidung meiner Eltern erfahren hatte. Dadurch war es noch schwieriger, Tissas nächste Frage zu beantworten.
„Hör zu, Alex. Ich lasse Dis heute ausfallen. Ich will zum südlichen Distrikt fliegen und einen Wasserpark besuchen. Kommst du mit? Es macht bestimmt Spaß. Und später könnten wir ins Karamba gehen. Mein Freund ist dort der Türsteher, er lässt uns hinein. Wir könnten etwas trinken ... Was sagst du dazu?”
„Klar, machen wir”, nickte ich, während ich Eve nicht aus den Augen ließ. „Das hört sich gut an.”
Es gelang mir gerade noch, den Schirm aufzufangen, als er aus Eves Händen flog.