Kapitel 22: Beste Absichten
„WAS WEISST DU
über den Morast?”, fragte Patrick und klopfte mit seinem leeren Krug laut auf den Tisch. „Noch eins!”
Die Level-7-Serviererin Lulu, die von Lucianna aus meiner Schule gespielt wurde, rollte die Augen. Kurz darauf erschien ein riesiger Krug mit frischem, feurigem Bier aus den Schwarzen Bergen. Den ersten hatte Patrick in einem Zug ausgetrunken, nachdem ich ihm das Medaillon gezeigt hatte. Nun drehte er es in seiner Hand, öffnete es und starrte eine Weile auf das Porträt.
„Der Morast? Ich habe gehört, dass es dort von schrecklichen Monstern wimmelt, die Stecher heißen. Sie legen ihre Eier unter deine Haut. Das ist meistens tödlich, besonders wenn man ihnen genug Zeit lässt, sich tiefer in den Körper zu graben.”
„Stecher?” Patrick trank einen Schluck und hob die Augenbrauen. „Glaub mir, Junge, das ist nicht das Schlimmste, was es da draußen gibt. Die Sümpfe bergen wahre Schrecken ...”
Er murmelte etwas Unverständliches, bevor er verstummte und an mir vorbei in die Ferne starrte. Ich folgte seinem Blick, doch ich konnte nichts sehen.
Oder ...?
In einer Ecke des Gasthauses saß eine Brigade aus den Olton-Steinbrüchen. Die Männer genossen das leckere Essen, das sie als Nicht-Bürger in der realen Welt nicht bekamen: geröstete Wildschweinrippen mit Bergen von Perlgraupen, angereichert mit gemahlenen Kaldaunen, Pfeffer und Öl. Meine Fertigkeit Kochen
erleichterte es mir, die Gerichte zu identifizieren, die im Gasthaus serviert wurden. Ich erinnerte mich an meinen Plan, Kochen
zu leveln, bevor ich mich auf den Weg machen würde, um zu farmen. Ich musste bei Koch Arno vorbeischauen. Vielleicht würde er mir ein paar neue Rezepte geben.
„Pass auf, wo du hingehst, Spatzenhirn!” Das Scheppern zerbrechenden Geschirrs und die folgenden Flüche waren im ganzen Gasthaus zu hören. Ich erkannte die Stimme. Es war Crag. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie er einen Arbeiter einen halben Meter in die Luft hob und ihn schüttelte. „Manny, Bergarbeiter”, war über seinem Kopf zu lesen.
„Oh, tut mir leid. Es war ein Missgeschick. Meine Schuld ...”, murmelte der Bergarbeiter.
„Ein Missgeschick? Wer‘s glaubt, wird selig!”, zischte Crag. „Los, komm, ich übergebe dich den Wachen.”
„Um Gottes willen, nicht zu den Wachen!”, keuchte Manny. „Bitte nicht! Sie wollen Geld von mir, und wenn ich nicht zahlen kann, werfen sie mich ins
Gefängnis. Dann kann ich nicht arbeiten. Ich habe eine Familie, ein Kind ...”
„Zu welchem Gott betest du?”, fragte der Krieger. Er sah interessiert aus, als er den Bergarbeiter herunterließ. „Sag schon!”
„Zu welchem Gott?”, fragte Manny verwirrt. „Zu Gott eben. Zu wem sonst? Der Vater, der Sohn und ...”
„Was für einen Unsinn redest du denn da, du Schwachkopf? Eines Tages wirst du lernen, dass Nergal der Leuchtende der einzig wahre Gott ist. Und für diese Gotteslästerung wirst du kurz und klein geschlagen. Los jetzt, beweg dich!”
Der Arbeiter war etwa 40 Jahre alt. Die Männer seiner Brigade blickten düster vor sich hin, aber niemand versuchte, ihm zu helfen. Sich mit der Stadt anzulegen, bedeutete bei ihrem Ansehen und auf ihrem Level, sich großen Ärger einzuhandeln. Nur ein 20-jähriger Arbeiter wollte aufspringen, doch der Mann neben ihm hielt ihn zurück.
Die Sache verschlug mir die Sprache. Der Sahnebierkrug, den er zerbrochen hatte, war vielleicht eine halbe Silbermünze wert, aber Crag wollte Manny offensichtlich Angst einjagen und ihm als „Entschädigung” alles abnehmen, was er besaß. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass Crag gern „Entschädigungen” verlangte.
Ich sah Patrick an, aber der saß immer noch in Gedanken versunken da. Sein Blick war glasig, seine Lippen zuckten geräuschlos und sein
gnomisches Getränk stand unberührt vor ihm.
Angetrieben von Crag ging Manny an mir vorbei. Verdammt! Also gut, ich hatte noch keine Möglichkeit gehabt, dem Nicht-Bürger namens Clayton zu danken. Ich konnte versuchen, meine karmische Schuld auf diese Weise zurückzuzahlen. Ich stand auf und stellte mich zwischen den Ganker und den Bergarbeiter.
„Hallo, Crag! Wie geht‘s, wie steht‘s?” Ich bemerkte, dass die Ausrüstung des Kriegers sich verschlechtert hatte. „Sieht aus, als ob du etwas gelitten hättest.”
„Ah, Scyth.” Er verengte die Augen. „Diese Sache geht dich nichts an, halt dich da raus. Es betrifft nur mich und diesen
MOSOW
!
[2]
”
MOSOW
? Der Ausdruck war ein Schimpfwort für einen Menschen, der keinen Wert für die Gesellschaft besaß, ein Schimpfwort für alle Nicht-Bürger. Ich erinnerte mich wieder an Clayton/Dargo und stellte mir vor, er würde an Mannys Stelle sein.
„Jetzt geht es mich etwas an. Wo liegt das Problem? Ein Krug Sahnebier? Ich bestelle dir einen neuen. In Ordnung?”
„Nein! Ich wiederhole: Die Sache geht dich nichts an, halt dich raus. Dein Clan wird dir nicht helfen, und ich bin im Recht. Du weißt es, er weiß es und alle anderen wissen es auch!”
Er schrie die letzten Worte so laut,
dass er die Aufmerksamkeit aller Besucher des Gasthauses auf sich zog. Alle verstummten, selbst die Barden auf der Bühne unterbrachen ihre Musik.
„Leute!”, rief Crag. „Dieser MOSOW
hat mir absichtlich einen Krug Bier aus der Hand geschlagen. Der Krug ist zerbrochen, das Bier hat sich über mich ergossen, ich bin ärgerlich und will diesen Mistkerl den Wachen übergeben.” Er deutete auf Manny. „Habe ich das Recht dazu?”
„Ja, hast du! Typen wie er müssen bestraft werden. Du tust das Richtige!”, hörte ich einige Spieler in dem Durcheinander sagen. Die Nicht-Bürger schwiegen und versuchten, Manny nicht anzusehen.
Crag nickte befriedigt und stieß mich an der Schulter an, sodass ich zur Seite flog. „Geh mir aus dem Weg! Ich will dich nicht noch einmal sehen”, sagte der Krieger.
Ich dachte fieberhaft nach. Mit Gewalt würde ich ihn nicht aufhalten können. Sollte ich die Dementoren zu Hilfe rufen? Das wäre unverschämt von mir, besonders, nachdem ich es abgelehnt hatte, mich ihnen anzuschließen, und sie noch nicht wussten, dass ich beschlossen hatte, ihnen zu helfen. Sollte ich Mannys Strafe bezahlen? Sein Ansehen bei der Stadt würde trotzdem sinken, und er würde vielleicht sogar seine Arbeit verlieren.
„Ich fordere dich zu einem Duell heraus!”, rief ich ihm nach. „Mein blauer
Gürtel gegen 5 Goldmünzen von dir, unter der Bedingung, dass
du dem Bergarbeiter vergibst.”
„Was?” Crag hielt abrupt inne. Er ließ den Arbeiter los und kam zu mir zurück. „Ein Zweikampf? Ohne deine Freunde? Nur du und ich?”
„Ja, nur du und ich. Morgen Abend um 21 Uhr vor der Stadtmauer.
„Der Junge hat den Verstand verloren! Level 4 gegen Level 12?”, rief jemand.
„He, das ist dieser Idiot, der ein ganzes Jahr lang vor dem Gasthaus gesessen hat!”, warf ein anderer ein.
„Und das ist Crag, ein PK der Extraklasse und PvP-Spezialist. Ich wette 1 Goldmünze, dass Scyth nicht mal 10 Sekunden überleben wird.”
Aber es gab auch andere Stimmen, die eher überrascht klangen. Der Tisch, an dem die Arbeiter aus dem Steinbruch saßen, war nicht weit weg. Ich hörte sie sagen: „Wer ist das? Warum will er uns helfen? Ist er einer von uns?”
„Besiegeln wir es mit einem Handschlag!” Crag grinste. „Habt ihr alle gehört? Morgen Abend um 21 Uhr vor der Stadtmauer werde ich diesen Schwachkopf dafür bestrafen, dass er den Mund zu voll genommen hat! Wenn ich ihn besiegt habe, muss er mir einen seltenen Gürtel geben.”
„Falls du mich besiegst. Nicht, wenn du mich besiegt hast. Alles andere stimmt”, sagte ich laut.
„Es ist mir egal, was du vorhast, aber eines will ich von vornherein klarstellen”, rief der Ganker. „Keine Beschränkungen im Hinblick
auf Ausrüstung, Waffen, Elixiere und Buffs.”
„Ich akzeptiere.” Ich streckte die Hand aus. „Einverstanden?”
Crag wartete einen Augenblick, grinste, blickte sich im Gasthaus um, um sicherzugehen, dass alle Anwesenden zuschauten, und schlug ein. Er drückte meine Hand, zog mich näher zu sich heran und flüsterte: „Warst wohl doch nicht ‚im Clan‘, was? Vielleicht hast du noch nie die Chance gehabt. Verabschiede dich schon mal von deinem Gürtel, du Wurm.”
Laut lachend und von sich überzeugt verließ er das Gasthaus, doch vorher schubste er Manny so kräftig, dass er unter einen Tisch rutschte.
Ich half dem Bergarbeiter, aufzustehen. Als er die Augen öffnete und mich erkannte, zuckte er zusammen. Er versuchte, etwas zu sagen, doch ihm fehlten die Worte, sodass er nur nickte. Danach ging ich zu Patrick zurück.
Er war wieder aufmerksam und hatte die Vorgänge interessiert beobachtet. Ich nahm einen Schluck Sahnebier.
„Deine Hände zittern ja”, bemerkte der Trunkenbold. „Wo hast du dich wieder hineingeritten, Junge? Sieh dich an, du bist nur ein gewöhnlicher Charakter, und trotzdem hast du einen ruhmreichen Krieger herausgefordert! Warum? Willst du dir etwas billigen Ruhm verschaffen?”
„Gerechtigkeit, keinen Ruhm.”
„Du bist ein Dummkopf”, sagte
Patrick böse. „Gerechtigkeit gibt es nicht.”
„Ich kann die Welt nicht ändern, aber ich kann mein Verhalten ändern”, erwiderte ich verärgert. „Reden wir nicht weiter darüber. Es ist mein Problem, nicht Ihres. Sie haben gesagt, dass ich etwas für Sie tun muss, bevor Sie mir etwas über das Medaillon erzählen. Worum handelt es sich?”
Patrick hielt den Gegenstand immer noch in der Hand. Er öffnete es, sah sich das Bild noch einmal an und gab es mir dann zurück.
„Also ... ich dachte, du könntest etwas tun, das ich vor langer Zeit nicht geschafft habe. Aber nachdem ich dich gesehen und gehört habe, glaube ich nicht, dass du mir helfen kannst. Die Aufgabe ist eher etwas für den Kerl, gegen den du morgen antreten wirst.”
„Was meinen Sie damit? Glauben Sie, nur, weil ich auf einem niedrigen Level bin als er, kann ich nicht siegen? Dann kennen Sie mich kein bisschen!”
„Glaub mir, Junge, ich kenne dich sehr gut!”, lachte Patrick. „Es ist keine Frage des Levels. Es geht um ... Ach, verdammt! Nergal soll dich holen! Also gut, hör zu. Ich bezweifle, dass du es schaffen kannst, weil ich bezweifle, dass du in der Lage sein wirst, den Morast zu erreichen, geschweige denn, ihn zu durchqueren. Aber das ist dein Problem, wie du gesagt hast.”
Er rief die Serviererin herbei, bestellte noch ein Bier und bat sie um einen Bleistift. Nachdem Lulu ihm beides gebracht hatte, zeichnete Patrick auf dem
Tisch eine grobe Skizze des Morasts, der Hauptstraße von Tristad und einiger Teile trockenen Landes. Dann markierte er die Route zu meinem Ziel.
„Hier befindet sich der Aufenthaltsort von Behemoth”, sagte er.
„Behemoth?”, fragte ich. „Ist das irgendein großes Tier?”
„Nein, es ist eine andere Art von Einheit. Falls sie will, wird sie sich dir offenbaren. Dann musst du ihr unbedingt sagen, dass ich dich geschickt habe, und tun, was sie von dir verlangt. Wenn die Zeit für deine Belohnung gekommen ist, sage ihr, dass du haben willst, was Behemoth mir versprochen hat. Sage Wort für Wort: ‚Das, was du Patrick versprochen hast.‘ Wenn sie sich weigert ...” Sein Blick verdüsterte sich. „Dann sind wir quitt und ich werde dir alles über das Medaillon erzählen.”
„Unerfülltes Versprechen”
Patrick O‘Grady, der ehemalige Captain einer Schwadron der Stadtwache und Ehrenbürger von Tristad, möchte, dass du zu dem Ort im Morast gehst, den er dir gezeigt hat, und einem Geist namens Behemoth hilfst. Als Belohnung bitte ihn um das, was er Patrick versprochen hat.
Belohnungen:
– 1.200 Erfahrungspunkte
– Dein Ansehen bei Patrick
O‘Grady wird sich um 150 erhöhen.
– Patrick O‘Grady wird dir die Geschichte des Medaillons erzählen.
– Die nächste Mission in der Kettenquest
Strafen bei Misserfolg:
– Dein Ansehen bei Patrick O‘Grady wird um 150 sinken.
– Dein Ansehen bei der Stadt Tristad wird um 10 sinken.
Empfohlenes Level:
mindestens 15
„Also gut, Junge. Was sagst du dazu? Nimmst du die Quest an?”, schnaubte er. „Nur damit wir uns verstehen: Ich habe keine materielle Belohnung für dich. Ich werde dir alles über das Medaillon erzählen, aber ich glaube nicht, dass dir die Geschichte gefallen wird. Übrigens, die Quest hat keine Eile. Ich verstehe, dass du noch stärker werden musst, bevor du die Reise unternimmst.”
Ich dachte nach. Ich war sicher, dass ich es mithilfe des Fluchs schaffen könnte. Außerdem würde das Mal der Vernichtenden Seuche
früher oder später ausgelöst werden, sodass ich mein Ziel unbeschadet erreichen würde. Darüber hinaus würde ich dort nur reden müssen, ich brauchte niemanden zu töten. Daher war mein Level egal. Außerdem gab es keine zeitliche Begrenzung, was ebenfalls zu meinem Vorteil war. Doch es wäre besser, mein Level zu erhöhen, bevor ich mich in den Morast wagen
würde, sonst würde ich jeden Tag Stunden damit vergeuden müssen, unterwegs aggressive Mobs zu töten.
Akzeptierst du Patrick O‘Gradys Mission?
Ja, keine Frage. Ich nahm die Quest an.
O‘Grady nickte. „Übrigens, du solltest Behemoth auch wegen des Fluchs fragen. Es war sein Werk.”
„Verstehe. Vielen Dank.”
„Na gut. Gibst du dem alten Onkel Patrick noch einen letzten Krug aus?”, fragte er heiter. Sein Verhalten hatte sich merklich verändert. Er war nicht mehr so stark angespannt. Es machte den Eindruck, als ob ihm eine schwere Last von den Schultern genommen worden wäre. „Die Sonne geht bald unter, aber ich bin kein bisschen müde. Spendierst du mir noch ein Bier, oder ist der heutige Abend vorbei?”
Ich nickte und legte 1 Silbermünze auf den Tisch. „Genehmigen Sie sich noch einen, Herr Patrick.” Er hatte recht gehabt. Er war ein „Ehrenbürger” und hatte es verdient, gut behandelt zu werden. „Ich muss gehen und mich auf das morgige Duell vorbereiten.”
Er klopfte mir auf die Schulter und bellte Lulu zu: „Noch ein Bier für einen Ehrenbürger von Tristad!”
Er hatte doch gerade eins bekommen! Ich hatte nicht einmal gesehen, wie er es getrunken hatte. Mochte Nergal mit ihm sein.
Das Leveln in Kochen
würde für heute
warten müssen. Mein neuer Plan war, mein Charakterlevel zu erhöhen, während Crag schlief. Ich hatte eine anstrengende Nacht vor mir.