Wenn man in einem fremden Land in die Schule gesteckt wird, ohne die Sprache zu können, gibt es zwei Möglichkeiten klarzukommen, bis man die Sprache kann:
a) Man hat einen großen Bruder.
b) Man ist so lustig, dass die Leute vergessen, dass man keinen hat.
Notgedrungen beschloss ich, lustig zu werden.
In der ersten großen Pause, in der neuen Schule, warfen meine Klassenkameraden mich in den Schnee. Als mir kalt wurde, stand ich auf, worauf die mich wieder in den Schnee warfen. Ein blödes Spiel, doch die Jungs hatten einen Heidenspaß. Also warf ich mich in der nächsten Pause selbst in den Schnee. Die Jungs lachten. Es war schön, endlich neue Freunde zu haben. Aber die Freundschaft hielt nur so lange ich im Schnee lag.
Ich war nicht der einzige sprachlose Ausländer in meiner Klasse. Es gab noch eine Griechin mit großen dunklen Haaren und langen schwarzen Augen. Sie hieß Antonia. Antonia wurde herumgeführt, ihr wurde alles erklärt, und als ein Typ aus der Parallelklasse sie mal an den Haaren zog, fielen die Jungs aus meiner Klasse mit Gebrüll über das Schwein her.
Ich dagegen kam morgens ins Klassenzimmer, und dieselben Jungs, die eben noch Antonias Haare verteidigt hatten, redeten in ihrer seltsamen Sprache auf mich ein und warfen mich in den Schnee. Ich hatte ja beschlossen, lustig zu werden, also lachte ich sie an - und bekam was auf die Fresse.
Als ich abends im Bett lag, dachte ich lange darüber nach, weshalb deutsche Jungs lange Haare verteidigen. Ich beschloss, dass ich in Zukunft nicht nur lustig werden wollte, nein, ich wollte auch lange Haare haben, hatte aber keine Ahnung, wie ich das bis zum nächsten Tag hinkriegen sollte.
Am nächsten Morgen traf ich Antonia auf dem Weg zur Schule. Ich hatte mir eine Mütze aufgesetzt, um meine langen Haare zu verbergen. Antonia lachte, und als wir an der Schule ankamen, waren wir Kumpels. Als wir ins Klassenzimmer rein wollten, nahmen die Jungs mir die Mütze weg, sahen, dass ich immer noch kurze Haare hatte, und wollten mich wieder verprügeln. Antonia ging dazwischen und plötzlich ließ man mich in Ruhe. Langsam kam ich dahinter: Man musste nicht selbst lange Haare haben, es reichte, wenn man jemanden kannte.
Von da an hielt ich mich immer in Antonias Nähe auf. Ich brachte sie zum Lachen und sie brachte mir Deutschländisch bei. Der erste Satz, den ich lernte, war: »Mach die Tür zu, es zieht!«
Als ich den Satz im Klassenzimmer ausprobierte, lachten alle, irgendwas daran schien lustig zu sein, ich wusste nicht was. War mir auch egal - Hauptsache, es funktionierte: Die Jungs lachten und vergaßen dabei, dass ich keine langen Haare hatte, was ich voll fett fand. Fett war damals das Wort für extrem, doch es gab auch Probleme.
Alle Jungs mochten Antonia, daher ging sie in den Pausen oft zum Kiosk, wo man ihr Flippereis schenkte. Wenn ich dann alleine auf dem Schulhof stand und die Jungs zu mir rüberschauten, brüllte ich schnell: »Mach die Tür zu, es zieht!« Die Jungs lachten jedes Mal, aber ich war mir nicht ganz sicher, ob es immer so bleiben würde. Ich musste irgendwie an Flippereis kommen, um Antonia enger an mich zu binden.
Am nächsten Tag setzte ich mich auf dem Schulhof in einen Pappkarton und verlangte Geld für einen Witz. Ich konnte nur einen einzigen auf Deutschländisch, aber bis sich das herumgesprochen hatte, konnte ich ein Flippereis für Antonia kaufen und mir ein Top-20-Textheft aus der Hitparade.
In der nächsten Pause setzte ich mich mit dem Textheft in den Pappkarton und verlangte Geld für die neuesten Hits der Rubettes und der Bay City Rollers.
In jeder Pause saß ich im Karton und sang. Sogar die Lehrer steckten Geld rein. Ich wurde reich, deckte Antonia mit Flippereis ein und lernte langsam Deutschländisch. Die Jungs ließen mich in Ruhe, aber zur Sicherheit beschloss ich, meine Haare wachsen zu lassen.