Der Ernst des Lebens

Als ich fünfzehn war, jobbte ich als Kartenabreißer in einem Kino. Zu dem Kino gehörte auch ein kleines Borno-Kino, in dem Erwachsenenfilme gezeigt wurden. Jeden Tag kamen die Jungs aus der Schule vorbei und guckten Filme. Am Tag danach wurde auf dem Schulhof dann der jeweilige Film besprochen und der Borno des Monats gewählt.

Eines Tages standen wir mal wieder auf dem Schulhof und stritten uns, denn die Jungs waren sich einig, dass der Film »Schlucks noch einmal, Sammy« der Hit war. Ich stimmte dagegen, weil ich ihn nicht verstanden hatte. Eine nackte Frau dringt unter Gewaltanwendung in eine Kantine ein, und nachdem sie sich Broccoli in den Mund gesteckt hat, fällt sie wild stöhnend über den Koch her - konnte das Sex sein? Da ich noch nicht mit einem Mädchen geschlafen hatte, fehlten mir die Vergleichsmöglichkeiten, doch in der Klasse gab es ein paar echt coole Typen. Und dann gab es noch den coolsten Typ - den Boss. Das war der, der die meisten Mädchen geküsst hatte, das schnellste Mofa und ein eigenes Zimmer hatte. Damals hieß der Typ Gunnar. Als wir auf dem Schulhof standen und den Borno-Film des Monats ausdiskutierten, legte ich mich ins Zeug, um die Jungs davon zu überzeugen, dass »Schlucks noch einmal, Sammy«, kein guter Film war. Aber plötzlich sagte Gunnar: »›Schlucks noch einmal, Sammy‹ ist geil.«

Geil war damals das Wort für fett und Gunnar war ja der Boss, also fanden alle den Streifen plötzlich unheimlich geil.

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Ich war zu der Zeit mit einem Mädchen zusammen, das Karin hieß, und auch sonst war sie ziemlich berechenbar. Doch sie meinte, dass sie schon mal gepoppt hatte. Gepoppt war damals das Wort für gevögelt, und so hoffte ich, Karin auch mal gevögeln zu können. Jeden Tag hingen wir nach der Schule in ihrem Zimmer herum, manchmal dachte ich, wir würden gleich, aber irgendwie bog ich an den Kreuzungen immer falsch ab. Karins Mutter hatte einen Freund, der war Psychiater und manchmal, beim Abendessen, fragte er mich über mein Leben aus. Als er sich alles angehört hatte, meinte er, dass meine verkorkste Kindheit sich irgendwann rächen würde und dann würde mich der Ernst des Lebens einholen.

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Ich war zwar nicht der Meinung, dass meine Kindheit verkorkst gewesen war, aber ich hörte aufmerksam zu und versuchte, dabei möglichst viele Fremdwörter aufzuschnappen. Im O-Ton klang es so, dass mein Leben auf- grund von Fehlerziehung in den Grundstrukturen destruktiv vorgegeben sei.

Jahre später spielte ich mit meiner Band in der Stadt. Nach dem Konzert kam der Psychiater zu mir und sagte nur: »Siehste!« Aber das ist eine andere Geschichte.

Nach Gunnars Ansage auf dem Schulhof, saß ich jeden Tag im Borno-Kino. Ich schaute mir alles ganz genau an und versuchte, die Sache zu verstehen, aber die Dinge, die auf Karins Bett passierten, hatten definitiv nichts mit dem zu tun, was in »Schlucks noch einmal, Sammy« passierte.

Eines Abends nutzte ich die Gelegenheit und unterbrach den Redeschwall des Psychiaters, um ihn zu fragen, ob er bei Frauen Broccoli empfehlen würde.

Er legte Messer und Gabel beiseite, schwieg lange, und schließlich wiederholte er das mit dem Ernst des Lebens, der mich irgendwann einholen würde.

Danach war die Stimmung am Tisch gedrückt. Ich spürte, dass ich irgendwas Falsches gesagt hatte, aber der Psychiater war überhaupt nicht nachtragend - ich durfte weiterhin zu jeder Tageszeit mit Karin alleine in ihrem Zimmer sein. Nur an den Kühlschrank ließ er mich nicht mehr.

Ich riss weiter Karten ab, verdiente mir ein gutes Taschengeld und hing mit den Jungs herum. Aber meine Beziehung mit Karin vertiefte sich nicht. Ich begann den Spruch »Der Weg ist das Ziel« zu hassen.

Doch plötzlich änderte sich alles:

Am letzten Schultag vor den Ferien, standen wir wie immer auf dem Schulhof und wählten diesmal »Candy Lips« zum Borno des Jahres. Endlich ein Borno-Film, den ich kapierte: Da war ein Mädchen, das nichts konnte außer Poppen, also poppte sie. Eine dramaturgische Meisterleistung, fand ich. Und auch der Rest von »Candy Lips« war echt kultig: Die Synchronisation lief mit polnischem Akzent und die Dialoge waren in Reimform. Zum Beispiel sagte der Held gleich am Anfang zu dem Stubenmädchen, das entlassen wurde: »Nö. Da häng ich ihn lieber in den Wind, denn der bläst besser als du, mein Kind.«

Gelächter im Borno-Kino war eine ganz neue Erfahrung für mich und ich lachte gerne mit. Beim Sex zu lachen gefiel mir viel besser als diese Gemüseaktionen - alles in allem fand ich »Candy Lips« echt geil.

Natürlich wurde »Candy Lips« nicht Bornodes Jahres, nur weil ich ihn geil fand. Nein, Makker fand den Streifen echt nass. Makker, das war der neue Boss und der Typ, der Gunnar aufs Maul gehauen hatte, geil durch nass ersetzte und Karin poppte, was mich für Heidi frei machte, die mich sofort bei ihr übernachten ließ. Heidi hatte »Candy Lips« auch verstanden, und so lachten wir viel, während sie mich ins Ziel brachte.

In den folgenden Wochen lief alles prächtig. Ich hatte meinen Mathelehrer im Borno-Kino getroffen und bekam plötzlich super Noten in Mathe. Außerdem hatte Makker mir Karin endgültig abgenommen und am ersten Abend bei ihr zu Hause hatte er dem Psychiater eine aufs Maul gegeben, was ich echt nass fand. Das war Heidi auch, und so ging die Schulzeit dem Ende entgegen und ich hatte endlich mit einem Mädchen geschlafen und gelernt, dass man beim Sex lachen durfte. Alles in allem, fand ich, stand mir die Welt nun offen. Ich nahm mir eine Menge vor. Sollte der Ernst des Lebens tatsächlich versuchen, mich einzuholen, würde er sich verdammt anstrengen müssen.

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