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Vor dem Bella Center zündet Hannah sich eine Kippe an und bereut ihr Vorhaben. Während sie sich genügend Mut anraucht, um den Messebesuchern entgegenzutreten, betrachtet sie die fettverschmierten Glastüren, durch die mit Schwingmechanismus und Handschubkraft Grauhaarige, Jütländer und Kinder in die Welt der Bücher und wieder hinaus geschleust werden. Mit diesen Menschen soll sie sprechen. Oh Gott, ich will lieber sterben!

»Entschuldigung, aber können Sie mit der Zigarette vielleicht etwas weiter vom Eingang weggehen?«

Hannah wendet sich um und blickt direkt auf das Haar einer Frau, die zu anderen Zeiten bestimmt eine ausgezeichnete Milchmagd abgegeben hätte. Heutzutage ist sie Lehrerin, und die selbstgefärbten Haare sind seit dem letzten Bleichen vier Zentimeter gewachsen. Hannah senkt ihren Blick, schaut der Frau in die gekränkten Augen. Die Pädagogin weist mit Leidensmiene auf die Gruppe unruhiger Kinder, die hinter ihr stehen.

»Die rauchfreie Zone geht bis ganz dahinten.«

Die Frau zeigt nun auf eine Bude, die so weit weg liegt, dass Hannah sie kaum noch erkennt. Hannah lächelt demonstrativ.

»Okay, ich soll also nach Schweden, um eine Kippe zu rauchen?«

»Es ist doch wegen der Kinder. Sie werden vielleicht zum Rauchen verleitet, wenn sie jemanden mit Zigarette sehen. Oder sie könnten Krebs bekommen.«

»Davon, dass sie mich rauchen sehen?«

»Davon, dass Sie ihnen ins Gesicht rauchen.«

Hannah blickt zuerst die Milchmagd-Pädagogin und dann die Kinder müde an, die sie anstarren, als wäre sie Darth Vader. Dann beugt sie sich zu dem Erstbesten hinunter, einem rotznasigen Jungen mit roten Backen. Hält ihm die qualmende Zigarette hin.

»Hast du Lust, die hier fertig zu rauchen?«

Der Junge schüttelt ängstlich den Kopf. Hannah richtet sich auf, schaut der Pädagogin direkt in die Augen.

»Sehen Sie – ich inspiriere niemanden einen Dreck.«

Hannah drückt die Kippe aus, dreht sich um und betritt die Buchmessenhölle. Die Rufe der Frau, sie solle die Kippe aufheben und in den Mülleimer werfen, ignoriert sie.

Bücherstände bilden die Wände dieses Labyrinths, in dem von grauhaarigen Weißweinfrauen aus Lesezirkeln bis hin zu jungen Paaren mit umgeschnallten Babys alle möglichen Leute herumirren. Manche auf der Jagd nach dem nächsten großen Leseerlebnis, andere in der Hoffnung, einen Blick auf ihren Lieblingsautor zu erhaschen – die meisten wohl einfach auf der Flucht vor der Langeweile zu Hause. Einen Schal um den Kopf geschlungen, gelingt es Hannah, Begegnungen sowohl mit Kollegen als auch mit Lesern und Journalisten zu vermeiden, während sie sich vorankämpft. Sie spürt, wie ihre Platzangst in einem Anfall von kaltem Schweiß und Atemnot ihren Höhepunkt erreicht, während sie den Stand betritt, wo ihre Bücher auf einem eigenen Tisch arrangiert sind. Hier soll sie stehen und ihren Namen hineinsetzen. Bastian ist nicht da, obwohl er versprochen hatte, zu kommen. Verärgert stellt sie fest, dass der Stapel ihrer Bücher völlig unberührt zu sein scheint. Es sieht auch nicht so aus, als würde sich das ändern: Außer einer müde wirkenden Verlagspraktikantin hinter dem Tresen ist sie die Einzige hier. Hannah nimmt den Schal ab, die Praktikantin blickt sie an, ohne sie zu erkennen.

»Für diese Bücher gibt es ein spezielles Messeangebot, zwei zum Preis von einem. Wir werden sie irgendwie nicht richtig los, aber sie sind wirklich gut. Die Autorin hat zweimal den Literaturpreis des Nordischen Rates gewonnen.«

»Diese Autorin hat nie den Literaturpreis des Nordischen Rates gewonnen.«

»Doch, Hannah Krause-Bendix. Sie ist wirklich eine der besten Autorinnen Dänemarks, sie ist nur nicht so bekannt. Aber sie ist meine Lieblingsautorin.«

Hannah bekommt Lust, den Revolver zu ziehen, den sie glücklicherweise nicht in der Tasche hat. Sarkasmus und Demütigung sind ihre einzigen Waffen.

»Okay, sie ist Ihre Lieblingsautorin? Welchen von ihren Romanen würden Sie dann empfehlen?«

Die Praktikantin zögert erschreckend kurz mit ihrer Lüge.

» Ich komme in Stille ist wirklich episch.«

»Episch?«

»Ja, also, Sie wissen schon, es ist ein bisschen seltsam, aber das ist ihr Stil. Es hat richtig Tiefe.«

»Tiefe?«

»Ja, das ist schwer zu erklären, weil …«

»Weil Sie es nicht gelesen haben?«, unterbricht Hannah sie.

Die Praktikantin blinzelt einen Moment lang unsicher, schafft es aber nicht, ihre Gedanken zu einer Antwort zu sammeln. Hannah ist schneller.

»Sie sollten nicht auf einer Buchmesse stehen und Werke verkaufen, von denen Sie obendrein behaupten, Sie hätten sie gelesen, wenn Sie offensichtlich weniger von Literatur verstehen als ein analphabetischer …«

»Analphabetischer was?«

Hinter Hannah ist Bastian in seinen vollen zwei Metern Größe aufgetaucht. Er blickt Hannah fragend an, dann wandert sein Blick ebenso fragend zu der Praktikantin, die den Tränen nahe hinter dem Tresen zusammenschrumpft.

»Analphabetischer Idiot.«

Hannah ärgert sich, dass ihr keine raffiniertere Beleidigung eingefallen ist, und konstatiert gleichzeitig irritiert, dass die Praktikantin weder genug Angst noch Scham besitzt, um einen vollendeten Zusammenbruch zustande zu bringen. Stattdessen richtet sich das junge Mädchen auf, sicher in der Überzeugung, dass ihr Chef, der große, attraktive Bastian, die fremde Angreiferin im Polizeigriff aus dem Gebäude eskortieren wird. Hannah weiß, dass das eine Fehleinschätzung ist.

»Claudia ist neu hier, sie studiert Literaturwissenschaften.«

Vermutlich noch in Gedanken an den Polizeigriff drückt Claudia bei Bastians Worten die Brust etwas heraus. Sie wendet sich an ihn.

»Ich hab nur versucht, der Kundin hier was über Hannah Krause-Bendix zu erzählen, und dann hat sie mich total angeschnauzt.«

Eine Frau, die sich als Opfer stilisiert. Wie banal.

Praktikantin Claudia schielt zu Bastian hinüber: Wann kommt jetzt der Polizeigriff? Hannah beginnt allmählich, den Konflikt zu genießen. Wenn sie Glück hat, feuert Bastian diese Praktikantin. Ihretwegen darf die Folter ruhig in die Länge gezogen werden. Leute, die andere über etwas belehren, von dem sie nichts verstehen, sollen einen langsamen und qualvollen Tod sterben. Andererseits hat sie hier auch etwas zu erledigen, und diese Diskussion führt nicht gerade zu mehr signierten Büchern.

»Ich weiß nicht, ob Sie in Statusupdates oder Modeblogs belesener sind, aber von Romanen haben Sie jedenfalls keine Ahnung. Sonst würden Sie nämlich wissen, dass ich Hannah Krause-Bendix bin und dass ich diese Bücher geschrieben habe, die Sie hier feilbieten, als wären es saure Gurken im Sonderangebot.«

Claudia schnappt nach Luft.

»Hannah, sie ist neu.«

Bastian versucht, der Demütigung die Spitze zu nehmen.

»Ich kann ja nicht wissen, dass Sie das sind, wenn Sie ganz anders aussehen als auf dem Foto … Sie sind ja auch wirklich viel älter geworden.«

Claudia fummelt an Hannahs Büchern herum und versucht, sie schön zu drapieren. Als würde das irgendetwas helfen. Hannah schluckt eine schnippische Antwort herunter, zieht stattdessen ihre Jacke aus und wirft sie hinter den Tresen.

»Wollen Sie nicht einfach für ein Stündchen rausgehen und sich eine heiße Öko-Soja-Latte kaufen, während ich hier stehe und meine epischen Romane signiere?«

Claudia blickt Bastian an. Wie eine Schülerin, die gefragt hat, ob sie auf die Toilette gehen darf.

»Mach ruhig eine Pause.«

Claudia stiehlt sich davon. Verschwunden sind auch die aufrechte Haltung und die durchgedrückte Brust.

»Schön, dich in deiner besten personalverschreckenden Form zu erleben.« Bastian trommelt mit dem Zeigefinger auf dem Tisch herum.

»War es wirklich so schwierig, eine Messeaushilfe zu finden, die auch nur eines meiner Bücher gelesen hat?«

Bastian zögert. Hannah seufzt. Natürlich. Wenn es ihr nicht bald gelingt, ein größeres Publikum heranzuziehen, wird man ihre unverkäuflichen Bücher demnächst direkt zum Wertstoffhof fahren.

»Du musst wissen, dass ich das hier nur tue, weil ich so ein gutes Herz habe. Einzig und allein.«

»Kannst du die Leute nicht wenigstens anlächeln?«

»Teuflisch oder sexy?«

»Einfach nur freundlich. Ich weiß, dass du das kannst.«

Bastian lächelt und zuckt mit den sakkobekleideten Schultern – warum muss ein Lektor aussehen wie ein Geschäftsmann? Hannah kann sich noch an eine Zeit erinnern, in der weicher Cord und Wolle zu Bastians Uniform gehörten, aber das war vor dem wirtschaftlichen Aufschwung der Nullerjahre. Und bevor er Lektor wurde. Seit er im Verlag angefangen hat, hüllt er sich in Sakkos in unterschiedlichen Schnitten und Farben. Hannah ist sich ziemlich sicher, dass das ein bewusstes Zeichen des Übergangs vom literaturliebenden Studenten zum fest angestellten Literaten gewesen ist. Von der Beschäftigung mit Büchern um der Bücher willen zur Beschäftigung mit Büchern um des Geldes willen. Ein Wechsel, den Hannah selbst nie vollzogen hat. Aber in ihrem tiefsten Inneren freut sie sich darüber, dass Bastian den Schritt gegangen ist. Ihr Blick fällt auf den Tisch mit ihren eigenen Werken, und sie spürt eine Welle von Dankbarkeit für Bastians kommerzielle Transformation – ohne ihn wären ihre Bücher auf der Messe überhaupt nicht zu finden. Auch wenn sie den in Wolle gekleideten Cord-Mann, den sie bei einer Inger-Christensen-Lesung von Das Schmetterlingstal Ende der Neunzigerjahre zum ersten Mal getroffen hat, dennoch vermisst.

»Ist da Strom drauf?«

Hannah schaut auf. Ein Mikrofon pfeift. Das hatte also gerade die dünne Frauenstimme verstärkt. Die Stimme gehört zu einem Körper, der, falls überhaupt möglich, noch dünner ist: dem von Natasja Sommer. Auf einer Bühne. Auf der Bühne stehen außerdem zwei Stühle, und auf einem Tisch davor zwei Gläser Wasser. Die Kulturjournalistin ohne Ausbildung klopft leicht auf das Mikrofon, dum, dum, Pfeifton. Ja, da ist Strom drauf. Hinter ihr wird ein Plakat aufgehängt. Hannahs Herz setzt einen Schlag aus: Das Plakat zeigt Jørn Jensen, den grauenvollsten Krimiautor der Welt, Hannahs Hassobjekt Nummer eins. Wie es aussieht, wird Natasja Sommer ihn interviewen. Jetzt gleich. Auf der Bühne. Hannah atmet tief durch. Sie hat gewusst, dass diese Buchmesse eine Fehlentscheidung war.