Hannah erwacht mit dem Geräusch von brutzelndem Bacon und dem Duft eines neuen Tages. Sie streckt sich widerwillig, spürt, wie ihr das Blut aus dem Kopf rauscht, als sie etwas zu schnell die Beine über die Bettkante schwingt und sie auf den Boden stellt – ihr erster isländischer Morgen. Einen Moment lang klammert sie sich an der Bettkante fest, bis sich der Nebel lichtet und sie ihr Gleichgewicht findet. Als sie wieder klar sehen kann, fällt ihr Blick auf die Weinflasche auf dem Schreibtisch – sie ist leer. Sie nimmt die Flasche, wickelt sie in ein Handtuch und steckt sie in den Koffer, ganz unten. Sie versteckt den Klumpen unter einem Haufen Kleider. Stutzt über ihre eigene Handlung – normalerweise räumt sie die Beweisstücke ihres Alkoholismus nicht weg. Sie hört Ella pfeifen.
»Guten Morgen.«
Die Treppe knarrt unter Hannahs Schritten, ihr frisch gewaschener Körper soll eine morgendliche Munterkeit ausstrahlen, die, wie sie befürchtet, schon verschwunden sein wird, bevor sie die Küche auch nur betreten hat. Beim Anblick von Ellas gastfreundlichem Lächeln und dem üppig gedeckten Frühstückstisch nimmt das schlechte Gewissen ihrem inneren Zyniker den Wind aus den Segeln. Hätte sie gestern Abend ihrer Gastgeberin gegenüber entgegenkommender sein sollen?
»Das riecht gut, was ist das?«
Die Frage wird von einem neugierigen Blick auf das Essen begleitet. Es ist auf so vielen Platten angerichtet, dass sie den ganzen Küchentisch bedecken. Wahrscheinlich genug, um das ganze Dorf satt zu kriegen, denkt Hannah und überlegt, ob vielleicht ein Willkommenskomitee im Anmarsch ist. Bei diesem Gedanken setzt sich langsam der Rotweinkopfschmerz durch. Ella wendet ein Ei mit dem Pfannenwender, mit der anderen Hand schiebt sie Hannah lächelnd ein Stück Papier zu. Die Speisekarte. Hannah betrachtet sie.
»Allt það besta.«
Falls Ella die Ablehnung am Abend zuvor gekränkt hat, ist das jetzt vergessen. Oder gut versteckt. Sie sprudelt geradezu vor guter Laune; vielleicht, weil schlechte Gesellschaft besser ist als gar keine.
»Erwartest du noch Gäste? Das ist ja genug Essen, um ein mittelgroßes Flüchtlingslager zu versorgen.«
Ella schüttelt den Kopf, kritzelt etwas auf den Speisekartenzettel.
Du bist der einzige Flüchtling hier.
Und die Einzige, die sich durch diese Berge von Fischbällchen, Skyr und Käsebrote kämpfen muss, denkt Hannah, während sie die Gerichte auf dem Zettel durchgeht und überlegt, ob es sehr unpassend wäre, zu sagen, dass sie morgens keinen Appetit hat. Vermutlich schon.
»Was kann ich machen?«
Ella lädt Hannah mit einer Geste ein, am Tisch Platz zu nehmen. Hannah gehorcht der stummen Anweisung. Frisch gebrühter Kaffee wird in einen Humpen gegossen, Eier werden mit Schwung auf dem Teller platziert, ein Korb mit Fladenbrot wird zu ihr geschoben. Hannah nimmt sich, hat Manieren genug, alles zu probieren – doch nach drei Bissen verschluckt sie sich an einem Fischbällchen. Der Brechreiz ist ähnlich heftig wie bei Jørns Debütroman; sie schluckt und versucht zu lächeln. Blickt sich nach Hilfe um, obwohl sie genau weiß, dass keine in Sicht ist. Das Licht dringt gleißend durch die Fenster.
»Bragðast þetta vel?«
Hannahs ausgeprägtes Sprachgefühl hilft ihr zu verstehen, dass Ellas Frage sich auf das Essen beziehen muss, sie nickt lächelnd. Es gelingt ihr, alles hinunterzuwürgen.
»Es schmeckt gut.«
Doch das Fischbällchen dehnt sich in ihrem Magen zu einem lebendigen Fisch aus, alles in ihr dreht sich. Hannah schluckt, versucht, das bebende Gefühl zu unterdrücken, doch vergeblich: Gerade als sie aufsteht, um zur Toilette zu stürzen, übergibt sie sich auf den Tisch. Es sieht aus, als hätte jemand eine ganze Flasche Rotwein mit Klümpchen darin ausgeschüttet. Ella schreckt instinktiv zurück, wirkt jedoch eher fasziniert als entsetzt. Als wäre es eigentlich eine reife Leistung, gleichzeitig den Skyr und das Fladenbrot zu treffen. Dann bricht sie in schallendes Gelächter aus. Hannah versucht zu lächeln, aber es gelingt ihr nicht. Mit bleichem Gesicht greift sie nach einer Serviette mit Weihnachtsmotiv.
»Entschuldigung, das tut mir wirklich leid.«
Sie ringt um Fassung. Es fühlt sich an, als hätte sie noch immer einen Schwarm halbzerkauter Fische in sich, der zum nächstgelegenen Ausgang schwimmt. Ihr dreht sich der Magen um, doch er ist leer. Sie muss sich mit beiden Händen an der Tischplatte festhalten. Oh, wie peinlich!
»Das tut mir jetzt wirklich leid.«
Seit wann wiederholt sie sich?
Ella reicht ihr ein Glas Wasser und winkt ab. Die Geste rettet Hannah nicht aus ihrer Verlegenheit. Ella beginnt ohne viel Aufhebens sauberzumachen, als wäre die Erbrechensorgie Teil des Plans gewesen und jetzt würde es Zeit für den nächsten Tagesordnungspunkt. Essen mit Rotweinkotze wird in den Abfalleimer geschabt. Hannah steht auf, greift nach ein paar Tellern, um zu helfen. Ella hält sie mit einer entschlossenen Handbewegung zurück. Sie schüttelt den Kopf. Öffnet dann blitzschnell einen Schrank, zieht eine Tüte Haferflocken heraus. Reicht sie Hannah, die sie dankbar annimmt.
»Hast du auch Milch?«
Hannah verlässt das Haus ohne ein bestimmtes Ziel, nur mit dem ungefähren Plan, sich das Dorf näher anzusehen – und einer schwachen Hoffnung auf Inspiration. Sie versucht, sich die peinliche Kotzaktion vom Leib zu laufen; folgt der Straße in dichter bebautes Gebiet, geht schnell voran. Der Wind schlägt ihr entgegen, sie richtet sich den Schal, schließt eine Lücke über der Brust. Die Wolken kriechen vom Meer her über das Land, es scheint Regen zu geben. Sie beschleunigt ihre Schritte. Jetzt, bei Tageslicht, kann sie im Norden deutlich die Berge erkennen, es sieht aus, als hielten sie einander an den Händen und bildeten so eine schützende Kette um das Dorf. Oder einen Zaun, den man nicht überwinden kann. Nach einem knappen Kilometer erreicht sie die Stelle, wo die Dorfmitte sein muss, ein geschlossener Lebensmittelladen und eine ebenfalls geschlossene Kleiderboutique bilden die Einkaufsstraße. Sie dreht sich einmal um sich selbst: Keine Spur menschlicher Aktivität zu sehen, nicht einmal zu hören. Ein Schwarm Möwen überwacht das Gebiet aus der Luft – ist sie in einer Geisterstadt gelandet?
»Kysstu mig!«
Ein zerlumpter Mann mit Vollbart zieht an ihrem Ärmel, Hannah zuckt erschrocken zusammen. Doch dann sieht sie den Mann an und identifiziert ihn instinktiv als den Dorftrottel, der notwendigerweise an einem Ort wie diesem zu finden sein muss. Sein Griff ist nicht fest, sie reißt sich los. Versucht sich auf Englisch.
»Tut mir leid, aber ich verstehe nicht.«
»Kysstu mig! Küss mich!«
Die Lippen unter dem Vollbart sind gespitzt, sein Blick erwartungsvoll. Beinah hätte Hannah wirklich Lust, ihn zu küssen, sie kann sich nicht erklären, warum, vielleicht, um ihn zu überraschen. Und sich selbst. Doch der Mann riecht wie eine Ladung verrotteter Heringe, auch Rebellentum hat seine Grenzen.
»Vielleicht ein andermal.«
»Hast du ein bisschen Geld?«
Ja, natürlich, gleich nach der Liebe kommt wohl das Geld. Hannah zieht einen Schein aus der Tasche, hält ihn über die schmutzig-braune vorgestreckte Hand. Sie lässt den Schein mit einer Frage fallen.
»Gibt es hier im Dorf ein Café?«
Der Vollbart grinst.
»Da fragst du genau den Richtigen. Ich weiß alles über dieses Dorf, ich sehe alles, was hier passiert. Aber ich sehe keine schicken Cafés, du vielleicht?«
Hannah lächelt, sie muss sich geschlagen geben – ein Dorftrottel mit einem Sarkasmus, der genauso lupenrein ist wie sein Englisch. Vielleicht ist er doch nicht ganz so trottelig.
»Okay, kein Café. Aber wo treffen sich die Leute dann?«
»Zu Hause. Am Meer. Oder im Bragginn.«
»Bragginn?«
»Die einzige Bar hier im Dorf.«
»Ist sie weit weg?«
»Ich kann dich hinbegleiten. Ich will schließlich den hier verbrauchen.«
Mit seiner schmutzigen Hand hält er den von Hannah eben gespendeten Schein hoch. Na okay, sie hätte auch nichts viel Besseres damit vorgehabt. Ihn in einer Bar auszugeben, ist wohl genauso gut wie alles andere, ein Alkoholiker verurteilt den anderen nicht. Ob sie wohl jemals so einsam werden wird, dass auch sie Fremde auf der Straße um Küsse anbettelt?