8

Der wohlbekannte Geruch nach stickigem Wirtshaus dringt bereits nach draußen, bevor sie die Tür zum Bragginn öffnen. Hannah folgt ihrem neuen Bekannten in die schummerige Kneipe und blickt sich etwas enttäuscht um – braun in braun, außer einem Bartresen gibt es zwei Tische mit abgewetzten Wachstüchern, Vasen mit falschen Blumen und Aschenbecher. Um die Tische stehen weiße Plastikstühle. An dem einen sitzen ein paar einheimische, wettergegerbte Männer, die vielleicht einmal Fischer waren, aber jetzt eher wirken wie Menschen, die nichts mehr vom Leben erwarten. An einem Spielautomaten steht eine dickere Variante desselben Früher-Fischer-jetzt-lebensmüde-Typs. Eine Frau um die fünfzig mit einem Hund zu Füßen lehnt am Tresen. Sie unterhält sich lebhaft mit dem Barmann, dem Tonfall nach geht ihr das Thema sehr nah. Der Barmann lauscht müde, als hätte er dieselbe Geschichte schon unzählige Male gehört, und das hat er sicher auch. Nur eine Person im Lokal sieht nicht aus wie ein Teil des typischen Kneipenpuzzles: An der Bar sitzt ein dunkelhaariger Mann, offenbar in Hannahs Alter. Er ist das, was man wohl als gutaussehend bezeichnen würde, oder wirkt zumindest zu gepflegt und lebenstüchtig, um an einem Mittwochvormittag an einem Ort wie diesem herumzuhängen. Er liest in einem Buch, und Hannah bemerkt, dass vor ihm eine Cola steht. Der Dorftrottel grüßt den Barmann, tauscht Hannahs Schein und noch ein paar mehr gegen ein Bier. Er hat Hannah bereits völlig vergessen und leistet den Lebensmüden am Wachstuchtisch Gesellschaft. Hannah kämpft sich auf einen der Barstühle neben dem lesenden Colatrinker. Er blickt von seinem Buch auf, wendet sich auf Englisch an sie.

»Touristin?«

Hannah nickt.

»Dänisch?«

»Ja. Ist das so offensichtlich?«

»Nur richtig geraten. Ehrlich gesagt denke ich, Sie könnten gut als Isländerin durchgehen.«

»Warum?«

»Schwer zu sagen … vielleicht ist es Ihr Haar. Oder die Härte in Ihrem Blick.«

Hannah sieht ihn an, sicher mit einer Extraportion der behaupteten Härte im Blick – sie hasst es, von Männern, die sie gerade erst kennengelernt hat, analysiert zu werden. Du bist der Typ für dieses oder jenes . Als ob sie einen sofort vollständig durchschauen könnten. Aber irgendetwas an dem colatrinkenden Leser wirkt anders, un-nervig. Er winkt dem Barmann, der sehr froh zu sein scheint, der geschwätzigen Hundebesitzerin zu entkommen. Hannah schielt zu der Cola ihres neuen Gesprächspartners hinüber, unterdrückt ihren vormittäglichen Weindurst.

»Mineralwasser, bitte.«

Hannah bekommt ihr Wasser, sie bezahlt und schenkt es in ein Glas ein. Der Mann blickt sie neugierig an.

»Von allen Orten auf der Welt, warum würde man ausgerechnet hier Urlaub machen? Es kommen kaum Touristen in dieser Jahreszeit.«

Hannah zögert, hat keine Lust, über ihr Projekt zu sprechen, sie kann nicht noch mehr Einheimische gebrauchen, die sich mit guten Ideen anbieten. Oder braucht sie vielleicht gerade das? Es ist zumindest wohl kein Grund, um zu lügen.

»Ich bin hier, um ein Buch zu schreiben.«

»Tatsächlich? Sie sind also Schriftstellerin?«

Hannah spürt eine echte Begeisterung, richtet sich ein klein wenig auf. Sie nickt.

»Was für eine Art von Buch?«

Der Colatrinker klappt seinen eigenen Band zusammen, widmet Hannah seine volle Aufmerksamkeit. Sie nimmt einen Schluck von dem sprudelnden Wasser, fühlt sich nicht bereit, als Krimiautorin aufzutreten. Aber andererseits kann sie sich auch nicht dazu durchringen, ihren momentanen Wandel als Autorin zu erklären. Sie entscheidet sich für die kürzestmögliche Version.

»Ich schreibe eigentlich Kurzprosa, versuche mich aber an kriminellen Themen.«

Der Mann sieht sie prüfend an.

»Sie versuchen sich an kriminellen Themen? Dann muss ich Sie ja womöglich verhaften.«

Hannah wirft ihm einen fragenden Blick zu.

»Ich bin der örtliche Polizist. Viktor.«

Viktor streckt ihr die Hand des Gesetzes entgegen, Hannah nimmt sie.

»Hannah.«

Sie deutet mit einem Nicken auf seine Jeans und sein Baumwollhemd.

»Bist du undercover unterwegs?«

Viktor lächelt, während er einen Schluck Cola trinkt.

»Es ist schwer, in einem Dorf, in dem dich alle kennen, undercover unterwegs zu sein. Ich hab nur noch keine Schicht.«

Viktor schaut auf seine Armbanduhr. Keine automatische Handlung, er wirkt wie jemand, der ganz einfach die Zeit vergessen hat.

»Wenn du ein Verbrechen begehen und damit davonkommen willst, dann mach es in den nächsten zweiunddreißig Minuten.«

»Bist du der einzige Polizist hier im Dorf?«

Viktor nickt. Hannah kann nicht ganz erkennen, ob es ein von Verantwortung belastetes oder ein stolzes Nicken ist; vielleicht ein bisschen von beidem.

»Gehst du den Verbrechen, die außerhalb deiner Arbeitszeit begangen wurden, nicht nach?«

Hannah wittert eine Chance für Inspiration. Viktor lächelt freundlich.

»Ich versuche natürlich, alles im Blick zu behalten, was passiert, aber um ehrlich zu sein, ist das nicht besonders viel. Gestern haben ein paar Jugendliche einen Kasten Bier aus einer Garage gestohlen, und ab und zu erwische ich ein Auto mit kaputtem Vorderscheinwerfer. Das ist es im Großen und Ganzen auch schon.«

Okay. Die lokale Umgebung kann also keinen Stoff für Krimis liefern. Hannah verknotet die Finger und wirft einen sehnsüchtigen Blick auf das Regal mit den harten Spirituosen. Als sie spürt, dass Viktor sie beobachtet, wendet sie sich ihm zu und zeigt auf das Buch.

»Was liest du?«

Viktor dreht das Cover zu Hannah. Sie liest, versucht sich an der isländischen Aussprache.

» Ljóð 1980–​1995. Einar Már Guðmundsson

»Er hat 1995 den Literaturpreis des Nordischen Rates erhalten.«

»Ich kenne ihn. Frankensteins Coup hat mich sehr inspiriert, als ich zu schreiben anfing.«

Viktor dreht das Buch in den Händen, sieht sie erstaunt an.

»Wirklich? Das kenne ich nicht. Vielleicht heißt es auf Isländisch ganz anders?«

»Bestimmt. Ich hab das Gefühl, alles heißt auf Isländisch ganz anders.«

Viktor lächelt, nimmt einen Schluck von seiner Cola.

»Auf jeden Fall musst du selbst eine fantastische Schriftstellerin sein, wenn du dich von diesem Mann inspirieren lässt. Ich würde gern mal eines deiner Bücher lesen.«

Hannah ist sich nicht sicher, ob das ein Versuch ist, ihr ein Kompliment zu machen, oder eher ein Lob für Einar Már. Im Kopf bewertet sie es fifty-fifty. Sie versucht sich zu erinnern, wann ein Mann ihr zuletzt zumindest mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit geschmeichelt hat. Es gelingt ihr nicht.

»Ich weiß nicht, ob es dir gefallen würde. Es ist Kurzprosa, manche würden es vielleicht Dichtung nennen.«

»Spannend.«

Hannah sieht ihn forschend an.

»Sag mal, was ist das für ein Polizist, der Dichtkunst liest?«

»Was ist das für eine Dichterin, die Verbrechen plant?«

Viktor hält ihren Blick fest. Und sie seinen.

»Ich glaube, ein Polizist, der vor seiner Schicht Lyrik liest, sehnt sich nach etwas anderem.«

Viktor wendet den Blick nicht ab.

»Und, wonach meinst du, sehnt er sich?«

Hannah zuckt mit den Schultern.

»Weiß ich nicht. Dass irgendwas Neues passiert.«

Viktor lächelt, schüttelt den Kopf. Er wirft einen raschen Blick auf die Uhr, packt das Buch ein.

»Wonach ich mich in Wirklichkeit sehne, ist mehr Ruhe und Frieden.«

Hannahs Hoffnung darauf, dass Victor der Schlüssel zu einem guten Krimiplot sein könnte, wird wieder geweckt.

»Dann ist dein Job vielleicht doch nicht so ruhig und friedlich …?«

Viktor lächelt.

»Was ich brauche, ist ein bisschen Ruhe von zwei kleinen Kindern zu Hause. Meine Frau passt auf sie und noch zwei andere auf – ich muss manchmal rauskommen, sonst kriege ich Lust, alle vier Kinder zu verhaften. Und Kinder im Gefängnis, das ist ja dann doch nicht ganz in Ordnung.«

Viktor springt vom Stuhl, elegant. Er reicht ihr die Hand. Förmlich.

»Es war wirklich nett, dich kennenzulernen. Wenn du über einen Mord oder irgendwas stolperst, dann weißt du, wen du anrufen musst.«

Victor lächelt. Es fällt Hannah schwer, sich ihn bei der Aufklärung eines schwereren Verbrechens vorzustellen als dem Diebstahl eines Fischerboots. Sie nickt.

»Und ich habe es ernst gemeint: Ich will wirklich gern deine Bücher lesen.«

»Schön, dich kennenzulernen.«

Hannah beobachtet, wie Viktor durch die Tür verschwindet. Sie vergewissert sich, dass er ganz weg ist, bevor sie sich an den Barmann wendet und die erlösenden Worte ausspricht:

»Ein Whisky-Cola.«

Der Himmel hat sich noch stärker zugezogen, die Dunkelheit liegt hinter den Bergen auf der Lauer und Hannah ist angetrunken, als sie wieder draußen im Wind steht, der durch die Straßen des Dorfes fegt. Sie geht heimwärts, weniger inspiriert, einen Krimi zu schreiben, als bei ihrem Aufbruch. Sie hat versucht, den Bier trinkenden Kneipenbesuchern, die sich tatsächlich als lebensmüde ehemalige Fischer herausstellten, Geschichten zu entlocken, aber leider reichten ihre Englischkenntnisse nicht für eine Unterhaltung auf einem höheren Niveau als »cheers«. Hannah blickt zu den Bergen hinüber, spürt einen trotzigen Optimismus. Es soll ja auch gar nicht von außen kommen, es soll aus ihr selbst kommen! Und sie hat es in sich, das weiß sie. Nach Hause, eine Flasche Wein aufmachen, sich vor den Computer setzen. Irgendetwas schreiben. Sie läuft schneller, stapft die dunkle Landstraße entlang.

In Gedanken schon zu Hause, sieht sie auf halbem Weg dorthin eine Gruppe Fußball spielender Jungs, oder vielleicht sind es eher junge Männer. Um die siebzehn, achtzehn Jahre. Mit roten Wangen und für den eiskalten Novemberwind viel zu dünn angezogen, rennen sie auf einer Fläche herum, die kaum mehr als ein Acker zu sein scheint. Das Spielfeld ist nur durch zwei gegenüberliegende Tore und eine scheinwerferartige Lampe gekennzeichnet, die es ihnen ermöglicht, in der beginnenden Dämmerung den Ball zu erkennen. Hannah erinnert sich nicht, den Fußballplatz auf dem Hinweg bemerkt zu haben. Umgeben von Ebenen, Bergen und dem unendlichen dunkelgrauen Himmel wirken die Jungen viel kleiner, als sie sind. Sie bleibt stehen und beobachtet fasziniert, wie sie im Stadion der Natur spielen – konzentriert, intensiv, brüllend. Völlig vertieft in das Spiel. Doch dann wird der Ball in einem schiefen Winkel weit am Tor vorbeigeschossen, er landet ganz in Hannahs Nähe, einer der Jungen rennt ihm hinterher. Die anderen schauen, einer ruft etwas auf Isländisch. Der Wind verschluckt die Worte, aber Hannah spürt, dass es um sie geht – vermutlich sind sie nicht an Zuschauer gewöhnt. Zwei von ihnen lachen. Der Junge, der dem Ball nachgelaufen ist, nähert sich. Hannah macht ein paar schnelle Schritte in Richtung Ball, sie erreicht ihn vor ihm, schickt ihn mit einem kleinen Tritt in seine Richtung. Er bleibt stehen. Blickt sie an, lächelnd.

»Takk.«

Sie stehen einen Augenblick da und betrachten einander, als wollten sie beide noch mehr sagen, wüssten aber nicht, was. Dann lächelt der Junge wieder, nimmt den Ball und kickt ihn zurück zu seinen Freunden und dem Spiel. Hannah wird klar, dass sie die Augen mit diesem durchdringenden, insistierenden Blick erkannt hat. Es ist Ellas Neffe, Thor. Sie wendet sich ab, lässt das Fußballspiel mit dem Gefühl hinter sich zurück, dass in Húsafjörður vielleicht doch etwas geschehen kann. Im selben Augenblick beginnt es sturzbachartig zu regnen. Hannah versucht, sich zwischen den Tropfen durchzuschleichen, gibt jedoch bald auf. Das letzte Stück dunkle Landstraße legt sie triefnass zurück. Als sie das Haus erreicht, steht Ella in der Tür, mit einem Handtuch in der Hand und Kaffee in der Kanne.