Hannah hat die ganze Nacht geschrieben, ein halbseitiger Ansatz zu einer Krimihandlung ist herausgekommen. Es sind viele Worte, aber noch kein Mord. Sie hat eine halbe Stunde geschlafen, Bastian dreimal erfolglos angerufen, eineinhalb Flaschen Wein getrunken, mehrmals beinahe aufgegeben und ist trotzdem immer wieder an die Tastatur zurückgekehrt. Sie hat viel zu lange in derselben Stellung dagesessen, hat der Sonne schweigend beim Aufgehen zugesehen und gemerkt, wie der Glaube an Erfolg mit jeder Minute aus ihrem Körper gewichen ist. Als sie sich am Vormittag die Treppe hinunterschleppt, trägt sie schwer an ihrem gepackten Koffer und der bitteren Erkenntnis, dass sie keinen Krimi schreiben kann. In Gedanken formuliert sie eine Kapitulationsrede; die Vorstellung von Jørns Gesichtsausdruck, wenn er sie hört, bringt ihre Handflächen zum Schwitzen. Aber sie hat keine andere Wahl; mit der Hybris kommt die Nemesis. Vielleicht kann sie ganz woanders hingehen, verschwinden, sich irgendwo ein neues Leben aufbauen, wo gescheiterte Projekte einen nicht in den Abgrund reißen können.
In der Küche findet sie Ella am Esstisch vor, in sich zusammengesunken, weinend. Verblüfft hält Hannah inne. Sie nähert sich Ella wie ein Boot, das lautlos an den Kai gleitet; vorsichtig setzt sie sich neben die aufgelöste Frau, unsicher, wie sie sich verhalten soll. Sie war noch nie der Hand-auf-die-Schulter-was-ist-denn-los-Typ.
»Ist was passiert?«
Ella schluchzt lauter. Hannah versucht es trotzdem mit der Hand auf der Schulter.
»Was ist passiert?«
Ellas Körper bebt, ihre faltigen Hände verbergen das weinende Gesicht. Hannah hätte nicht gedacht, dass ältere Menschen so aufgewühlt sein können – erreicht man in seinem Leben nicht irgendwann einen gewissen Punkt, an dem Zusammenbrüche der Vergangenheit angehören? Vielleicht nicht. Hannah hat den Eindruck, dass etwas Schlimmes geschehen sein muss, und beschließt, die Ankündigung ihrer Abreise aufzuschieben. Ella wirkt auch nicht so, als wäre sie imstande, jemanden zum Flughafen zu fahren. Zum dritten Mal fragt Hannah.
»Warum bist du so traurig?«
Diesmal blickt Ella auf.
»Thor er dáinn.«
Hannah blickt Ella fragend an, die ihr ein Stück Papier über den Tisch schiebt, eine Art offiziellen Brief, aber es scheint ihr egal zu sein, was darin steht, sie dreht ihn um und kritzelt etwas auf die leere Rückseite.
Thor ist tot.
Die Überraschung wirft Hannah zehn Zentimeter zurück in ihren Stuhl. Thor? Vor weniger als zwanzig Stunden hat sie in seine jungen, lebendigen Augen geschaut. Jetzt atmet er nicht mehr, sein Herz schlägt nicht, der Ball ist zum letzten Mal zwischen seine Füße gerollt. Das kann nicht wahr sein. Ella muss eine Nachricht bekommen haben, die sie missverstanden hat.
»Wer hat dir Bescheid gegeben?«
»Vigdis«, schluchzt Ella. Hannah kann ihr nicht folgen.
»Wer ist Vigdis?«
Ella antwortet nicht, stattdessen strömen erneut die Tränen, als hätte sie die schreckliche Nachricht gerade erhalten. Oder, fragt sich Hannah, wird ihr vielleicht gerade jetzt bewusst, was der tote Junge ihr bedeutet? Wenn er denn wirklich tot ist. Hannah zweifelt immer noch daran. Woran sollte er gestorben sein? Und kann man wirklich an einem Tag so lebendig und am nächsten so tot sein? Sie versucht, sich einen Reim darauf zu machen.
»Ella, es tut mir ganz unglaublich leid, das zu hören. Wie ist er gestorben, was weißt du?« Sie bemerkt, wie ihre Hand über Ellas Rücken streicht. Fürsorge oder der Versuch, sie zum Reden zu bringen? Ella schluckt, die Tränen versiegen und unter der Handfläche spürt Hannah, wie sie sich zusammenreißt. Ein Taschentuch, ein altmodisches aus Stoff, wird aus Ellas Ärmel hervorgezaubert, sie putzt sich die Nase. Nimmt wieder den Stift.
Mein Schwester Vigdis hat selbst angerufen, sie hat gesagt, Thor ist nachts gestorben. Ein Unglück.
Tränen laufen über ihre Wangen.
»Ég skil þetta ekki! Ég skil þetta bara ekki!«
Hannah ist immer noch verwirrt.
»Vigdis ist also deine Schwester und Thors Mutter?«
Ella nickt.
»Und du bist dir sicher, dass du nichts missverstanden hast? Dass er vielleicht nur einen Unfall hatte und im Krankenhaus liegt oder so?«
Ella sieht sie an. Lange. Ernst. Dann schreibt sie:
Der Tod ist nichts, was man missversteht. Außerdem weiß ich, dass es wahr ist, auch wenn ich ihn nicht gesehen habe. Ich kann es spüren.
»Spüren?«
Ella schreibt.
Starker sechster Sinn.
Hannah atmet tief ein. Sie war gerade dabei anzuerkennen, dass Thor gestorben ist, und nun ist sein Tod vielleicht nur etwas, das Ella fühlt? War der Anruf ein Traum, der den Morgen über weitergelebt hat? Hannah hat noch nie viel auf sechste, siebte oder achte Sinne gegeben, jetzt müssen Fakten folgen. Sie steht auf, geht zu Ellas Festnetztelefon.
»Was hat Vigdis für eine Nummer?«
Ella schaut zu ihr auf, die Tränen sind versiegt, aber sie haben ihr Gesicht sumpfig wie ein Flussbett nach der Flut hinterlassen. Sie schüttelt den Kopf, kommt überraschend schnell auf die Beine, steht eine Sekunde später mit dem Telefon in der Hand da, Hannah kann ihre behänden Bewegungen kaum fassen. Ella, jetzt beinahe wütend, kritzelt blitzschnell etwas hinten in ein Adressbuch.
Du glaubst mir nicht, aber es ist wahr. Thor IST tot. Ein Unglück am Hafen. Die Welt ist BÖSE .
Etwas an Ellas Handschrift überzeugt Hannah. Vielleicht die Versalien. Hannah schluckt. Wenn man Mitgefühl ausdrücken will, ist es schwer, an Floskeln vorbeizukommen.
»Es tut mir sehr, sehr leid. Kann ich irgendetwas tun?«
Ella schüttelt den Kopf, wechselt noch in der Bewegung zu einem Nicken. Wieder verwendet sie das Adressbuch als Medium, diesmal schreibt sie fast in den Namen und die Nummer einer Person namens Bjargey hinein.
Andenkenfeier heute Nachmittag. Willst du mit?
Ella blickt sie fragend an, als fände sie ein kleines bisschen Trost in Hannahs Anwesenheit. Hannah nickt.
»Natürlich. Wenn du meinst, dass das nicht anmaßend ist – eine Fremde bei so einer Veranstaltung?«
Ella blickt sie an. Schreibt dann.
Du wohnst in meinem Haus, du bist nicht fremd.
Etwas in Hannahs Innerem rührt sich. Sie weiß nicht, was.
»Soll ich uns nicht eine Tasse Kaffee machen?«
Ohne die Antwort abzuwarten, geht Hannah in Richtung Kaffeemaschine, draußen im Gang kann sie ihren gepackten Koffer erahnen. Die Heimreise ist für eine Weile aufgeschoben.