Die Straße ist nass, es hat wieder geregnet. Hannah springt durch die Pfützen zurück ins Dorf, froh, der bizarren häuslichen Kapelle entkommen zu sein, in der sie Ella mit dem Versprechen einer Wiedervereinigung nach der Totenwache zurückgelassen hat. Sie hält inne, schaudert, kann das Gefühl des Unbehagens nur schwer abschütteln. Dann blickt sie in die Richtung, in der Ellas Haus liegt, zögert einen Moment. Geht dann ins Dorf hinunter.
Hannah kann nur zweimal anklopfen, da öffnet sich schon die Tür. Viktor sieht sie überrascht an.
»Bist du mir gefolgt?«
»In Dänemark hab ich den Ruf, so was wie eine Stalkerin zu sein.«
Viktor hebt die Augenbrauen.
»Ich will nicht unhöflich sein, aber ich bin ziemlich beschäftigt.«
Hannah versucht ihm über die Schulter zu blicken, die Polizeiwache ist offenbar kein öffentliches Gebäude, sondern sein Privathaus mit einem Schild an der Tür. Der Boden ist übersät mit Spielsachen, Viktor folgt ihrem Blick, macht sich breit, bemüht sich, das Chaos zu verdecken.
»Komm, mein Büro ist da drüben.«
»In deinem Schlafzimmer oder im Kinderzimmer?«
Kein Lächeln auf Viktors Lippen, nur ein Schulterzucken. Mit einer Geste gibt er zu verstehen, dass sie aus dem Haus sollen. Viktor schließt die Tür hinter sich, Hannah kann gerade noch die Silhouette einer Frau in der Küche erkennen. Viktors Frau? Draußen geleitet der Polizist in Zivil sie durch eine andere Tür in ein kleines Büro mit eigenem Eingang. Die Polizeiwache. Hannah mustert den Raum, der aussieht wie ein tristes Immobilienmaklerbüro aus einem schlechten amerikanischen Film: Ein Schreibtisch aus einer undefinierbaren billigen Holzsorte ist mitten im Zimmer aufgestellt, darauf ein verstaubter stationärer Computer, unordentliche Papierstapel und ein Mauspad mit einem Foto von zwei Kindern. Vermutlich Viktors. Hinter dem Tisch ein wackeliger Bürostuhl aus Kunstleder auf vier kleinen Rädern vor einem Regal, aus dem rote Ordner herausstehen. An der Wand hängt eine Karte der Umgebung und eine fast leere Anschlagtafel. Alles in allem ein schön unterdurchschnittlicher, arschlangweiliger Ort.
»So ein gemütliches kleines Büro.«
Hannah steckt die Hände in die Manteltaschen, versucht, lässig zu wirken, während sie lügt.
»Was kann ich für dich tun?«
Gleich zur Sache, okay, okay. Viktor steht mit verschränkten Armen da.
»Ich hab nur an etwas gedacht, was Thor betrifft. Hat er den Schlag auf den Hinterkopf bekommen bevor oder nachdem er gestorben ist?«
Viktor hebt die Augenbrauen. Aha! Er hat die Beule also nicht bemerkt. Die Augenbrauen finden an ihren Platz zurück.
»Wie gesagt kann ich dazu keinen Kommentar abgeben.«
»Könnte er die Verletzung bekommen haben, als er ins Wasser gefallen ist?«
Viktor verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, die Situation ist ihm unangenehm, Hannah kann ihm ansehen, dass er gern fragen würde, seine eigene Unwissenheit aber nicht eingestehen will. Sie hilft ihm aus dem Dilemma.
»Hinter seinem rechten Ohr ist eine blutige Wunde und eine Beule. Vielleicht ist er beim Reinfallen mit dem Kopf auf einen Stein geschlagen, vielleicht ist er gegen Holz gestoßen, ein Boot oder so was, als er leblos im Wasser getrieben ist.«
Hannah hält inne. Blickt Viktor eindringlich an, der sich auf die Lippe beißt. Ein gutaussehender Mann, aber auch ein guter Polizist? Mit jedem ruhigen Atemzug vergehen die Sekunden, bis Hannah erneut das Wort ergreift.
»Oder hat jemand Thor auf den Kopf geschlagen, von hinten, sodass er ins Wasser gefallen und ertrunken ist?«
Viktor wechselt noch einmal die Stellung, kommentiert ihre Theorie jedoch nicht. Hannah insistiert.
»Was glaubst du?«
Viktor verschränkt die Arme noch fester, als wäre er seine eigene Zwangsjacke.
»Ich glaube, du solltest aufhören, Privatdetektiv zu spielen, und mich meine Arbeit machen lassen.«
»Aber machst du deine Arbeit, wenn du zulässt, dass die Leiche eines möglicherweise ermordeten Menschen vor dem ganzen Dorf öffentlich aufgebahrt wird? Jeder – inklusive seines Mörders, wenn es denn einen gibt – könnte die Leiche manipulieren und Beweismaterial entfernen.«
Hannah hat sich allmählich ziemlich in Rage geredet und ist froh, dass sie sich immerhin ab und zu eine Folge von irgendwelchen langatmigen britischen Krimiserien angeschaut hat. Viktors Stirn wird feucht. Dies ist offenbar ein höchst ungewöhnlicher Fall, und falls es ein Protokoll gibt, dem es zu folgen gilt, dann hat er bereits dagegen verstoßen.
»Ich warte wie gesagt auf den Rechtsmediziner. Er müsste gleich da sein.«
»Warum trefft ihr euch nicht bei Thors Familie?«
Mit dieser Pointe greift sie seine Berufsehre an. Er tupft sich die Stirn ab.
»Ich will sie nicht stressen. Du musst jetzt gehen.«
Viktor löst die Zwangsjacke, weist mit der Hand Richtung Tür. Die Feuchtigkeit auf der Stirn ist zu kleinen Schweißtropfen geworden. Hannah bleibt stehen.
»Hör zu, es geht mir nicht darum, deine Arbeit zu kritisieren, ich will nur helfen. Wenn wir unsere Gedanken teilen, können wir uns vielleicht gegenseitig dabei helfen herauszufinden, was passiert ist?«
Viktor schnaubt, unsicher oder arrogant, und lächelt gekünstelt nachsichtig.
»Es tut mir leid, aber nur, weil du die Wunde an Thors Leiche entdeckt hast, brauche ich überhaupt nichts mit dir zu teilen. Im Gegenteil, ich würde dir raten, dich ganz aus der Sache rauszuhalten. Nein, raten ist das falsche Wort – ich gebe dir die Anweisung, dich aus der Sache rauszuhalten. Geh zurück an deinen Schreibtisch und lass mich meine Arbeit machen.«
Viktor öffnet die Tür, deutet mit einem Nicken nach draußen. Hannah lässt nicht locker.
»Du hast gesagt, Ægir hat ihn aus dem Wasser gezogen?«
Viktor seufzt müde.
»Kein weiterer Kommentar.«
»Aber ist das nicht ein seltsamer Zufall? Ich meine, dass ein Vater seinen eigenen Sohn ertrunken auffindet. Hat er nach ihm gesucht?«
Viktor erwidert nichts. Aber die Augenbrauen heben und senken sich erneut. Aha, Viktor hat Ægir also nicht gefragt, weshalb er eigentlich unterwegs war, als er seinen Sohn gefunden hat.
»Es sind erst sechs Stunden vergangen. Seine Eltern sind immer noch gelähmt vor Trauer. Du hast sie doch selbst gesehen.«
Sechs Stunden. Hannah ist noch eine kriminologische Novizin, aber für sie klingen sechs Stunden wie eine Ewigkeit, in der es einem möglichen Täter gelingen könnte, seine Spuren sogar mehrmals zu verwischen und zu beseitigen. Wenn denn überhaupt ein Verbrechen vorliegt. Sie startet einen weiteren Versuch.
»Aber du hast doch sicher mit ihnen gesprochen? Rekonstruiert, wie Thor seine letzten Stunden verbracht hat?«
Viktor seufzt erneut, macht dann aber Anstalten, etwas zu sagen. Vielleicht hat er das Gefühl, zeigen zu müssen, dass er für seinen Job nicht völlig untauglich ist. Hannah spornt ihn an.
»Du musst etwas Kriminelles vermutet haben. Du hast Thors Tod als ›Fall‹ bezeichnet. Und du warst nicht nur im Haus, um seinen Eltern Respekt und Mitgefühl zu zeigen, du warst da, um zu tun, was jeder gute Polizist in einer solchen Situation tun würde – um mit der Familie und den Freunden zu sprechen und dir ein Bild von den Umständen zu machen.«
»Niemand hat etwas Nützliches gesagt.«
Aha! Viktor will mit Schmeicheleien weichgeklopft werden. Hannah legt noch einen drauf:
»Du bist scharfsinnig. Du weißt etwas, was ich nicht herausgefunden habe.«
Ein Trick. Viktor zögert, schließt dann die Tür, wendet sich ihr zu. Mit neuer Vertraulichkeit im Blick.
»Thor kann nicht schwimmen. Das ganze Dorf weiß das. Er ist wasserscheu und wollte nie Fischer werden – das war eine herbe Enttäuschung für seinen Vater.«
»Sein Vater ist Fischer?«
Viktor nickt.
»Thor geht nie in die Nähe des Wassers. Ein großes Problem, wenn man vom und mit dem Meer lebt, so wie wir hier.«
»Aber gestern Abend hat er es getan …?«
Viktor nickt wieder.
»Er war betrunken, hatte einen Riesenstreit mit seinem Freund Jonni, er ist bei ihm gewesen und war auf dem Weg nach Hause. Jonni ist der Letzte, der ihn lebend gesehen hat.«
Hannah denkt nach.
»Und wie geht es diesem Jonni? Ich vermute, er muss am Boden zerstört sein?«
Viktor zögert, wägt offensichtlich Für und Wider ab, mehr zu erzählen. Dann sieht er Hannah mit seinen graublauen Nordlichtaugen durchdringend an.
»Jonni ist seit gestern Abend verschwunden.«
Im selben Augenblick klopft es an der Tür.
Eine Frau steckt den Kopf zur Tür herein, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie beachtet Hannah nicht, sondern wendet sich sofort an Viktor.
»Læknirinn er kominn.«
Viktor nickt. Mit einer Hand auf der Türklinke mustert die Frau Hannah flüchtig, als würde sie sie jetzt erst bemerken. Was sie wohl sieht – eine abgewrackte, versoffene Schriftstellerin, eine Liebeskonkurrentin, eine Fremde? Hannah betrachtet die Frau. Ihr scheint tatsächlich, als sähe die Frau etwas völlig anderes, Viertes. Aber was?
»Meine Frau, Margrét.«
Margrét streckt ihr die Hand zum Gruß hin, fast kämpferisch, Hannah nimmt sie, die Hand ist gleichzeitig weich und fest. Wie das Maul eines neugeborenen Kalbs.
»Hannah.«
Margrét drückt Hannahs Hand leicht, ein schwesterlicher Gruß oder eine Warnung? Hannah mustert Margrét, Viktor ist ein Glückspilz. Sie würde sich wohl kaum für das Cover eines Lifestyle-Magazins eignen, dafür ist sie zu ungeschliffen und kantig. Gott sei Dank. Hannah hasst das herrschende weibliche Ideal, bei dem dünne Frauen mit großen Brüsten und zu viel Make-up für ihr kohlehydratfreies Gebäck und ihr Modebewusstsein während und nach der Geburt gerühmt werden. Margrét ist anders. Das dunkle Haar fällt ihr als seildicker Zopf den Rücken hinunter, die hohen Wangenknochen unterstreichen ein Paar dunkelbrauner Augen, deren beharrlich forschender Blick sich in seiner Intensität mit Hannahs messen kann. Margrét ist groß, aber ein paar Zentimeter kleiner als Hannah, und ihr Körper wirkt kraftvoll, als wäre er aus flüssiger Lava geformt.
»Es tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen – und du auch.«
Viktor gibt ihr erneut durch ein Zeichen zu verstehen, dass der Besuch beendet ist, doch Hannah will sich die Chance nicht entgehen lassen, den Arzt zu treffen, der Thor obduzieren soll. Sie ist bereit, in puncto Einfallsreichtum Kompromisse zu machen.
»Darf ich kurz die Toilette benutzen? Ich muss ziemlich dringend.«
Mist! Hannah blickt sich in dem kleinen cremefarben gestrichenen Badezimmer um, an Haken mit Disneyfiguren hängen Kapuzenhandtücher in Kindergröße, ein roter Plastikhocker ist halb unters Waschbecken geschoben. Sie lehnt sich gegen die Fensterbank. Shit, so war das nicht geplant! Sie ist zur Toilette geleitet worden, ohne dass man sie zuerst dem Arzt vorgestellt hat. Viktor und der Arzt sind in ein Auto gesprungen und jetzt auf dem Weg zu Thors Haus. Hannah denkt nach. Sie muss zusehen, dass sie bei den Nachforschungen einen Schritt vorankommt, sich Wissen aneignen, das Viktor nicht hat. Ihn von sich abhängig machen. Sie spült, ohne die Toilette benutzt zu haben, dreht das Wasser auf und zu, öffnet die Tür. In der Küche findet sie Margrét am Tisch sitzend und eine Zigarette aus dem Fenster rauchend vor, um sie herum herrscht Chaos nach der Vormittagsfütterung der Kinder, auf dem Boden liegen überall die Schienen einer Holzeisenbahn verteilt.
»Ich weiß schon, ich sollte nicht rauchen. Die Kinder kriegen davon Lungenkrebs und all das. Aber es ist mein einziger Luxus.«
Margrét bläst einen Atemzug voll Rauch in die Luft, Hannah betrachtet sie, nicht gerade eine isländische Mary Poppins. Eher eine Figur aus einem französischen Nouvelle-Vague-Film, kein Godard, mehr von der Härte des Alltags beschwert, Truffaut vielleicht. Ja. Sie könnte gut eine Heldin in einem Film von Truffaut sein. Die Frau nebenan .
»Dürfte ich eine haben?«
Hannah zeigt auf das Paket. Margrét nickt, etwas überrascht, doch dann lächelt sie, als würde sie sich freuen, nicht allein sündigen zu müssen. Hannah zündet sich eine Zigarette an, sie beugt sich zum Fenster vor.
»Und warum bist du Vollzeit-Babysitterin geworden?«
»Warum nicht?«
Hannah wird von der prompten Antwort überrascht. Ja, okay. Warum nicht? So einfach. Warum nicht.
»Ich hätte entweder das machen können oder an der Bar arbeiten.«
»Ich hätte wahrscheinlich die Arbeit an der Bar vorgezogen.«
»Vielleicht bist du Alkoholikerin?«
Margrét blickt Hannah direkt an, keine ironische Humordistanz. Hannah verspürt den plötzlichen überraschenden Drang, ehrlich zu sein, der fremden Frau gegenüber – und sich selbst.
»Ja. Das bin ich wahrscheinlich.«
»Macht es dich glücklich?«
Hannah denkt nach.
»Kurzzeitig.«
Margrét nickt. Als würde sie das sehr gut verstehen und als wäre nichts daran merkwürdig oder beschämend. Dann blickt sie aus dem Fenster, so als hielte sie nach etwas Bestimmtem Ausschau. Offenbar ohne es zu entdecken.
»Das mit Thor ist eine Schande.«
Hannah inhaliert tief, schärft alle Sinne.
»Kanntest du ihn gut?«
Margrét zuckt auf eine Art die Schultern, die sowohl ja als auch nein bedeuten kann. Sie drückt ihre Zigarette aus, schließt das Fenster. Hannah hat das Gefühl, dass es etwas zu erzählen gibt, was sie nicht sagt.
Sie sieht zu, wie Margrét beginnt, Reste wegzupacken und Geschirr in die Spülmaschine zu stellen.
»Ich muss ein bisschen aufräumen, bevor die Kinder aus dem Mittagsschlaf aufwachen.«
Hannah drückt ebenfalls ihre Zigarette aus.
»Entschuldige, ich will nicht noch mehr von deiner Zeit stehlen. Ich wollte dich nur noch kurz etwas fragen – weißt du, wo Jonni wohnt?«
Die Vulkanfrau wendet sich zu ihr um.
»Du solltest deine Nase nicht zu tief in solche Sache stecken. In diesem Dorf gibt’s Geheimnisse, an denen man am besten nicht rührt.«
Hannah platzt fast vor Neugierde.
»Was meinst du damit?«
Margrét wäscht einen Teller ab, schrubbt an einem hartnäckigen Essensrest herum.
»Ich muss jetzt wirklich hier aufräumen.«
»Aber Jonnis Adresse, hast du die?«
Margrét hält mit dem Abwasch inne.
»Glaub mir: Wenn du deine Nase zu tief da reinsteckst, wird sie noch abgeschnitten.«
Hannah lässt nicht locker.
»Ich bin sicher, sie wächst wieder nach. Bitte sag mir: Wo wohnt Jonni?«