Hungrig. Hannah schaut auf die Uhr, 14 Uhr 48, sie hat heute noch nichts gegessen, und bei allem, was geschehen ist, fühlt es sich an, als sei die letzte Mahlzeit mehrere Tage her. Außerdem ist sie unsicher, wie sie mit ihren Nachforschungen weiterkommen soll. Sie hat das Gefühl, dass sie den Ort untersuchen müsste, an dem Thors Leiche gefunden wurde, aber sie hat keine Ahnung, wo er ist. Und es wird bereits dunkel. Sie hat jedoch eine klare Vorstellung, wo sie sowohl etwas zu essen als auch mehr Informationen bekommen könnte: Bragginn.
Sie klettert auf den Barhocker, beinah als wäre sie hier zu Hause. Eine Handvoll resignierte Ex-Fischer hat eine Ecke der Bar besetzt, aber Hannah ist sich nicht sicher, ob es dieselben sind wie beim letzten Mal. Wie peinlich, dass sie in ihnen offenbar keine Individuen sieht, sondern eine undifferenzierte Masse menschlicher Tristesse. Sie hält Ausschau nach ihrem Dorftrottelbewunderer, der sie am Tag zuvor hierhereskortiert hat, doch entdeckt weder ihn noch die Frau mit dem Hund. Den Barmann erkennt sie jedoch sofort wieder. Er sieht aus wie ein waschechter Heavy-Metal-Fan oder ein Serienmörder, vielleicht hat er auch ein bisschen von beidem. Vermutlich ist er um die vierzig, eventuell aber auch zehn Jahre jünger – Alkohol und ungesunder Lebenswandel können ja eigenartigerweise sowohl Jahre hinzufügen als auch abziehen. Vermutlich liegt er irgendwo dazwischen. Das schulterlange schwarze Haar ist zurückgekämmt und glänzt wie die Rückseite eines Aufklebers, aber von Wachs, nicht aus Mangel an Wasser und Seife. Über einem Iron-Maiden-T-Shirt spannt sich eine Lederweste um den gewölbten Bierbauch.
»Mineralwasser oder Whisky-Cola?«
Der Heavy-Metal-Mann erkennt sie also und erinnert sich sogar, dass sie sowohl soften als auch harten Getränken zuspricht; je nachdem, ob die Polizei anwesend ist oder nicht. Hannah sehnt sich nach einem Drink, aber ohne Frühstück fühlt es sich besonders sündig an. Sie greift nach der Speisekarte, die nicht so aussieht, als sei sie seit Ende der 1980er Jahre aktualisiert worden, weder was die Karte selbst noch was die Gerichte darauf betrifft. Hannah stellt sich ein Menü zusammen, das ein Gleichgewicht zwischen Alkohol und Nüchternheit, zwischen Wohlbekanntem und lokal Exotischem herstellt.
»Ich hätte gern einen Kaffee mit Whisky und geröstetes Brot mit geräuchertem Ziegenkäse.«
Der Barmann nickt, der Kaffee-Whisky wird rasch und professionell auf den Tresen gestellt, danach verschwindet er hinter einer Schwingtür, um sich ein paar Minuten später wieder am selben Ort zu materialisieren, mit einem Teller Brot und Käse in der Hand. Der Metal-Mann ist sowohl Barkeeper als auch Koch. Hannah wirft einen Blick auf das Essen, es sieht überraschend appetitlich aus und ist sogar mit etwas rotem Pfeffer angerichtet. Sie macht sich hungrig über den Teller her.
»Das ist schon eine ziemliche Tragödie mit diesem jungen Kerl, Thor, oder?«
Sie versucht, nicht zu engagiert zu klingen, und schluckt das letzte Stück Ziegenkäse hinunter.
Der Barmann nickt.
»Schrecklich. So ein netter Typ.«
»Kannten Sie ihn?«
Lederweste zuckt mit den Schultern.
»Ich weiß, wer er war. Aber er war keiner von denen, die hier herumhängen, falls Sie das meinen.«
»Hat er keinen Alkohol getrunken?«
»Ich glaube, alle Jugendlichen hier im Dorf trinken ab und zu ein bisschen was, so viel anderes gibt es ja nicht zu tun. Er ist nur nie an den Wochenenden mit den anderen Jugendlichen hergekommen.«
»Aber es scheint, als wäre er recht beliebt gewesen. Ich hab ihn gestern Abend Fußball spielen sehen.«
»Ja, das war er wohl … Wie gesagt kannte ich ihn nicht richtig. Manche sagen nur, er sei anders gewesen.«
»Wie anders?«
Die Weste hebt und senkt sich erneut in einem unbeteiligten Schulterzucken. Hannah merkt, dass sie so nicht weiterkommt.
»Wissen Sie, wo er gefunden wurde?«
Hannah lässt ihre Frage bemüht beiläufig klingen.
»Unten am Wasser. Etwas südlich vom Hafen.«
»Südlich?«
Hannah versucht sich in groben Zügen an die Teile des Dorfes zu erinnern, die sie schon gesehen hat.
»Ist das in der Nähe der Fischerboote?«
Das pomadige Haar wird geschüttelt.
»Nein, eigentlich ist es in der Nähe von gar nichts. Ein sehr geheimnisvoller Ort, wenn Sie mich fragen.«
Hannah will nicht zu interessiert wirken. Sie nimmt die letzte Brotrinde und kaut darauf herum.
»Was meinen Sie damit?«
Der Barmann hebt die Arme und lässt sie wieder sinken, als wolle er jede Verantwortung abgeben.
»Einfach seltsam. Ich meine, was hat er da gemacht? Da ist nichts anderes als eine nasse Wiese.«
»Er könnte doch auch dorthin getrieben sein. Vielleicht vom Hafen aus?«
»Das glaub ich nicht. Dann wäre er den ganzen Weg aus der Schiffsschleuse herausgetrieben, eine kurvenreiche Strecke, und innerhalb der Hafenmauern herrscht so gut wie keine Strömung. Allerdings gibt es viel Schiffsverkehr, und es ist unwahrscheinlich, dass ihn keiner gesehen hätte.«
Hannah nickt.
»Ich hab gehört, sein Vater hat ihn gefunden. Wissen Sie, ob er losgegangen ist, um nach ihm zu suchen?«
»Das muss so gewesen sein. Warum sollte er sich sonst da draußen im Brachland aufhalten?«
Hannah nickt, gute Frage. Der Barmann wendet sich einem neu eingetroffenen Gast zu, der Dame mit dem Hund. Sie unterhalten sich, Hannah schnappt ein paar Begriffe auf – auch in diesem Gespräch geht es um Thor. Der Todesfall ist im ganzen Dorf das Thema Nummer eins. Hannah nimmt einen großen Schluck von ihrem Kaffee-Whisky, spürt, wie Wärme und Alkohol in ihren Körper strömen, sie fühlt sich leicht, leicht, leicht. Würde sich am liebsten dem Gefühl hingeben, würde am liebsten noch zehn Tassen mehr von diesem Zaubertrank trinken, würde am liebsten nicht mehr denken müssen. Es gibt viel zu viele unbeantwortete Fragen, die Puzzleteile lassen sich unmöglich zusammenfügen. Und es ist ja auch nicht ihr Job. Ihr Job besteht darin, einen Krimi zu schreiben, und jetzt läuft sie hier herum und verschwendet ihre Zeit mit der Jagd auf einen möglichen Mörder. Der vielleicht nur als Hoffnung in ihrem Kopf existiert? Es passt ja alles zusammen. Thor hat gestern Abend Fußball gespielt. Hinterher hängt er mit seinen Freunden herum, trinkt ein paar Bier. Auf dem Heimweg fällt er besoffen ins Wasser, sein Vater ist besorgt, weil er nicht nach Hause kommt, geht raus, um ihn zu suchen. Jonni erfährt vom Tod seines besten Freundes, verschwindet, wie er es so oft tut. Wird sicher noch heute zurückkommen. Und die Wunde hinter dem Ohr, die muss entstanden sein, als Thor ins Wasser fiel. Hannah seufzt, trinkt aus. Sie sollte nach Hause gehen und schreiben, über die Wirklichkeit fantasieren – nicht versuchen, sie zu durchschauen, und dann über die von Zufällen geprägte Gewöhnlichkeit des Lebens enttäuscht sein. Nein, es ist besser, diesen Mord mit Worten auf dem Papier zu erschaffen, bevor sie noch herausfindet, dass es ihn nicht gibt. Sie sucht ihr Portemonnaie heraus, zählt das Geld ab und legt es auf den Tresen. Sie rutscht vom Barhocker herunter, hält jedoch mitten in der Bewegung inne. Was sollte das heißen, dass Thor anders war? Wie anders? Im selben Moment fliegt hinter ihr die Tür auf, ein jüngerer Fischer stürzt mit wehender Jacke herein, die Augen weit aufgerissen.
»Jonni er inni hjá Þór. Hann er með haglabyssu!«
Alle stehen wie erstarrt, der Frau mit dem Hund fällt der Drink zu Boden. Hannah dreht sich verwirrt zum Barkeeper um.
»Was ist los?«
»Jonni ist in Thors Haus, und er hat eine Schrotflinte!«