14

Hannah hat noch nie gesehen, dass sich jemand so schnell bewegt wie jetzt der Barmann. Sie selbst ist noch die Nüchternste in der Bar und damit geistesgegenwärtig genug, um mit in das Auto von Lederweste zu schlüpfen, das gleich vor dem Haus geparkt ist. Der Sicherheitsgurt hängt offen über ihrer rechten Schulter, aber sie klammert sich mit beiden Hände am Deckengriff fest, der Barmann rast durchs Dorf, als wären sie in einem Action-Film. Sie erreichen das Haus innerhalb weniger Minuten, Lederweste springt aus dem Auto, Hannah kämpft mit der Wagentür, verdammte Scheiße, sie geht nicht auf! Sie kriecht ungelenk über den Fahrersitz, holt ihren Chauffeur an der Tür ein. Dann klingelt er, du meine Güte. Hannah blickt ihn sprachlos an.

»Es ist ein bisschen unhöflich, einfach reinzustürmen.«

»Das ist ein Notfall!«

Hannah klopft das Herz bis zum Hals, sie tritt von einem Bein aufs andere, ihr ganzer Körper ist angespannt. Sie legt eine Hand auf die Türklinke, blickt ihren Begleiter an, der ihr bekräftigend zunickt, sie öffnet. Einen Moment lang hält sie den Atem an und hört einen jungen Mann rufen, einen älteren Mann antworten, Frauen, die weinen. Mit schnellen Schritten läuft das ungleiche Rettungspaar ins Wohnzimmer, wo ein schmächtiger, barfüßiger junger Mann in Jeans und T-Shirt ein Jagdgewehr auf die Stirn von Thors Vater richtet. Viktor und der Rechtsmediziner haben die Arme nach dem Jungen ausgestreckt, wollen ihn offenbar beschwichtigen. Thors Mutter sitzt da, das Gesicht in den Händen vergraben. Ella hat sich wie ein schützender Schild vor ihr aufgebaut, um die Situation im Auge zu behalten. Die übrigen Gäste wimmern leise.

»Jonni, slepptu byssunni!«

Hannah blickt ihren Begleiter überrascht an, sie wusste nicht, dass er eine solche Autorität in seine Stimme legen kann. Aber vermutlich ist er den Umgang mit Betrunkenen und vielleicht sogar Leuten in Schlägereien gewohnt und hat eine gewisse Erfahrung in der Entschärfung potentiell gefährlicher Situationen. Alle im Raum wenden sich Lederweste und Hannah zu, der Barmann sieht aus, als würde ihm die Aufmerksamkeit gefallen. Auch wenn das Jagdgewehr nun auf ihn gerichtet ist. Der junge Kerl, der wohl Jonni sein muss, hat einen beängstigend entschlossenen Blick.

»Slepptu byssunni. Þetta endar ekki vel.«

»Það er honum að kenna að Þór er dáinn.«

Hannah blickt vom Barmann, dem eine pomadige Strähne in die Stirn gefallen ist, zu Jonni und versucht, den Wortwechsel zu entschlüsseln oder zumindest seine Bedeutung zu erfassen. Die Intensität im Ausdruck des jungen Mannes ist unverändert, wieder richtet er die Waffe auf Ægir. Um zu zeigen oder zu drohen? Hannah ist angespannt wie ein Schwein direkt vor der Schlachtung, ihr wird ein klein wenig schwindelig, sie bemerkt, dass sie die Luft anhält. Langsam atmet sie aus und ein. Lautlos. Fängt Viktors Blick auf, der ratlos wirkt, es ist wohl seine erste Geiselnahme. Wenn man es überhaupt so nennen kann. Sie meint, Erleichterung in Viktors Miene zu lesen, als der Barmann jetzt mit großer Selbstsicherheit einen Schritt auf Jonni zugeht und ihm die Hand hinstreckt. Wie einem Besoffenen, dem er nach Hause ins Bett helfen will. Er sagt nichts, es ist, als wären Worte jetzt nicht das Richtige. Er legt eine große, weiche Männerhand auf Jonnis Arm, der ganze Raum scheint den Atem anzuhalten, Vigdis späht vorsichtig zwischen ihren Fingern hindurch. Jonni senkt den Arm ein wenig, jetzt zeigt der Gewehrlauf auf den Bauch des Steinmannes. Unter den Umstehenden macht sich schon beinah Erleichterung breit, doch da hält Jonni mitten in der Bewegung inne, blickt Ægir tief in die Augen.

»Það varst þú sem drapst hann.«

Dann drückt er auf den Abzug, und die Waffe löst in einem lauten, krachenden, winzigen, fast unhörbaren Klicken aus. Es sind keine Patronen drin. Vigdis schreit. Jonni wirft endlich das Gewehr auf den Boden, sackt wie ein zum Tode Verurteilter zusammen, der gerade im letzten Moment vom Galgen befreit wurde. Lederweste beugt sich hinunter, legt einen Arm um Jonni, der dasitzt und ausdruckslos zu Thors Leiche hinüberstarrt; sieht er sie oder sieht er sie nicht? Viktor legt dem jungen Mann Handschellen an, die Gäste lösen sich langsam aus ihrer Erstarrung. Auch Hannah, die seitwärts zu Ella tritt, den Blick immer noch auf das Geschehen gerichtet, dem sie noch nicht den Rücken zuzukehren wagt.

»Bist du okay?«

Hannah sieht aus dem Augenwinkel, dass Viktor Jonni aus dem Zimmer führt, der Barmann trabt hinterher, als wäre es seine Aufgabe, die Festnahme zu überwachen. Hannah wendet sich nun ganz zu Ella um, die Vigdis umklammert wie eine Mutter ein Kind im Bombenhagel. Vigdis windet sich behutsam aus der fürsorglichen Umarmung, geht zu ihrem steinernen Mann hinüber und schlingt die Arme um ihn. Drückt ihn so, dass er fast zerbröckelt. Ella beobachtet die beiden. In ihrem Blick liegt etwas, das weder Fürsorge noch Erleichterung ist, eher eine düstere Nachdenklichkeit. Vermisst sie vielleicht auch einen Partner, den sie mit ihrer Liebe beschützen kann?

»Bist du okay?«

Hannah wiederholt ihre Frage. Ella schüttelt sich, als wolle sie die Welt neu ordnen. Dann nickt sie.