16

Okay, genau genommen ist es wohl Nacht, wenn es dunkel ist. Hannah zittert vor Kälte und streckt vorsichtig einen Fuß auf die nasse Wiese vor, sie bereut ihre Aktion, die Finsternis ist allumfassend, und es ist nicht nur unmöglich, die Umgebung nach (wie auch immer gearteten) Spuren zu untersuchen, sie hat zugegebenermaßen auch Angst. Ein kleines bisschen jedenfalls. Sie hat gedacht, hier gäbe es irgendeine Form von Licht, vielleicht von einer Laterne auf der Straße oder einen Widerschein vom Dorf her. Stattdessen muss sie sich zu ihrer großen Enttäuschung mit dem dünnen, wenig hilfreichen Lichtstrahl der Taschenlampenfunktion ihres Handys zufriedengeben. Hannah fühlt sich in jeder erdenklichen Hinsicht wie eine Idiotin. Gerade fasst sie den Beschluss, in Ellas sicheres Kaffeezimmer zurückzukehren, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürt. Ein Schrei entweicht ihren Lippen, sie versucht, sich mit einer ungeschickten Bewegung von der Hand zu befreien, bleibt in einer Pfütze hängen, verdreht sich den Fuß und fällt in den Matsch. Der Lichtstrahl des Handys gleitet zitternd an der Gestalt nach oben, wenn sie jetzt sterben soll, will sie wenigstens einen letzten Blick auf den Täter erhaschen. Der obdachlose, kusshungrige Mann lächelt sie an, als wären sie auf der Toilette des Bragginn aufeinandergetroffen.

»Es scheint zwar weich und gemütlich, aber Gras ist tatsächlich der schlechteste Ort für ein Nickerchen.«

Er streckt ihr seine Hand entgegen. Hannah zögert einen Moment, sieht dann ein: Wenn sie sich in diesem Dorf vor etwas fürchten muss, dann ist es wohl kaum ein zerlumpter Mensch, der sich scheinbar aufrichtig freut, sie zu sehen. Sie ergreift die Hand und steht auf.

»Danke.«

Sie wischt sich über ihre Kleidung, als würde das etwas an ihrem durchnässten Zustand ändern.

»Hier hat Thors Vater ihn aus dem Wasser gezogen.«

Der Lumpenmann zeigt in Richtung Meer. Hannah wendet ihre traurige Handytaschenlampe in dieselbe Richtung, sieht aber natürlich nichts anderes als Dunkelheit. Sie hört die Wellen, die ans Ufer klatschen und von großen Steinen in Empfang genommen werden.

»Ist er im Wasser oder an Land gestorben?«

Sie leuchtet zurück zu dem Lumpenmann, der mit den Schultern zuckt, nein, natürlich, woher sollte er das auch wissen. Aber etwas weiß er anscheinend.

»Woher weißt du, wo er gefunden wurde?«

»Ich hab gesehen, wie Ægir ihn aus dem Wasser gezogen hat. Ich hab ihm sogar geholfen.«

Hannah schaut ihn an, überrascht und verwirrt.

»Ist das wahr? Und … warum warst du überhaupt hier?«

Der Lumpenmann zögert. Hannah spürt, wie ein Geheimnis sich seinen Weg aus dem verwahrlosten Körper herauskämpft. Er blickt aufs Meer hinaus.

»Ich komme manchmal her, um zu … Du weißt schon … schlafen, nach ein paar Bier. Vor allem im Sommer, natürlich. Ich hab unten am Wasser einen kleinen Unterschlupf gebaut. Ich mag es, dort zu schlafen und mit dem Geräusch und dem Anblick der brausenden Wellen aufzuwachen. Es ist ein Gefühl, als würde mir die ganze Welt gehören.«

Er lächelt, beinahe entschuldigend. Hannah versteht ihn, obdachlos, aber trotzdem mit einem Haus am Strand. Vielleicht braucht man nicht mehr, auch nicht, wenn das Haus nur ein Haufen Bretter ist, der gegen Wind und Wetter schützt.

»Aber es ist November. Warum bist du gestern Abend gekommen?«

»Ich bin frühmorgens hergekommen. Es ist spät geworden im Bragginn, und na ja … ich konnte den Schlüssel zu meiner Wohnung gerade nicht finden.«

Er lächelt wieder, diesmal etwas beschämt. Er hat also ein Zuhause. Natürlich hat Húsafjörður ein einigermaßen solides soziales Netz.

»Und dann hast du gesehen, wie Ægir Thor aus dem Wasser geschleppt hat?«

Hannahs Herz pocht, sie spürt, dass dies ein kleiner Durchbruch ist. Ein Augenzeuge! Der trotz allem nicht ganz Obdachlose nickt, während er in die Dunkelheit starrt, vielleicht in Richtung der Stelle, an der sich die dramatischen Ereignisse der letzten Nacht abgespielt haben. Ob in seiner alkoholisierten Erinnerung wohl alles klar und deutlich ist? Vielleicht muss sein Wissen hervorgelockt werden. Hannah greift in die Innentasche ihrer Jacke, zieht ein Päckchen Zigaretten heraus. Sie streckt sie dem Lumpenmann hin. Eine Hand mit ungeschnittenen Nägeln schnappt sich die Zigarette, die aus der Packung ragt.

»Danke.«

»Keine Ursache. Wie heißt du eigentlich?«

»Gísli.«

Hannah zündet ihm die Zigarette an.

»Hannah.«

Sie ziehen simultan an ihren Zigaretten. Die Dunkelheit schluckt den Rauch.

»Hast du gesehen, wie er im Wasser nach ihm gesucht hat? Ægir, meine ich.«

»Nein. Ich hab nur gesehen, wie er gekämpft hat, um die Leiche an Land zu kriegen, und bin hingelaufen, um ihm zu helfen. Ich wusste nicht, was da vor sich ging, und mir ist erst klargeworden, dass er tot ist, als er auf dem Boden lag. Aber er war tot, das war ganz deutlich.«

»Und was ist dann passiert?«

Hannah strengt sich an, nicht zu eifrig zu wirken. In der Dunkelheit erahnt sie, wie Gísli mit den Schultern zuckt.

»Ich hab von Ægirs Telefon aus Viktor angerufen. Er war nicht in der Lage, selbst zu telefonieren.«

Gísli verstummt. Als würde er die Situation erst jetzt überdenken, sie analysieren.

»Er war wie gelähmt. Er stand wohl irgendwie unter Schock.«

Hannah nickt. Das ergibt Sinn. Das war der Ægir, den sie bei der Totenwache gesehen hat. Ein verlorener Vater in Trauertrance.

»Hat er etwas gesagt?«

»Nein. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, war er merkwürdig still. Kein Wort, kein Weinen, nichts.«

»Wie lange hat es gedauert, bis Viktor kam?«

»Bin nicht sicher … Es ist seltsam, aber es war, als wäre die Zeit verschoben oder verschwunden. Vielleicht waren es zehn Minuten, vielleicht fünfundvierzig. Ich weiß es nicht.«

»Bist du mit ihnen mitgegangen? Hat Viktor dich verhört?«

Er schweigt einen Moment.

»Nein. Ich hab geholfen, Thors Leiche in Ægirs Auto zu schaffen, und hab sie dann wegfahren sehen.«

Hannah nimmt den letzten Zug von der Zigarette, schnipst sie in die Dunkelheit, sieht, wie die Glut sich zusammenzieht und verschwindet. Sie schaudert, blickt nach oben. Der Himmel überrascht sie jeden Abend. Die Dunkelheit ruht auf einem Streifen von Orange. Ihr kommt ein Gedanke.

»Warum bist du zurückgekommen?«

Gísli zieht den letzten Rest Leben aus der Zigarette, zerdrückt die Glut zwischen Daumen und Zeigefinger. Atmet tief ein.

»Vorräte.«

»Vorräte?«

Gísli schwingt einen seiner Arme in die Höhe und läuft los. Hannah interpretiert das als Aufforderung, ihm zu folgen.

Der kleine Holzunterschlupf knarrt unter Gíslis Gewicht, halb im Liegen sucht er hinter etwas, das Hannahs Vermutung nach eine Matratze sein muss. Sie blickt aufs Meer hinaus, kann es von hier aus fast schmecken. Nach einer Weile streckt Gísli den Kopf heraus.

Hannah kneift die Augen zusammen, um ihn in der Dunkelheit zu erkennen.

»Sie ist weg!«

»Was ist weg?«

»Meine Flasche! Ich hatte eine ganze Flasche Wodka!«

Antiklimax. Darum ging es? Eine Flasche Wodka!

»Ein Typ, der unten am Gletscher wohnt, macht ihn. Er ist gar nicht schlecht. Ich hatte eine ganze Flasche.«

Lumpen-Gísli wühlt weiter in dem kleinen Unterschlupf herum, Hannah wendet sich genervt ab. Sie ist dabei, ein Verbrechen aufzuklären, und er liegt da und sucht nach selbstgebranntem Schnaps. Sie dreht sich um und geht, im Hintergrund hört sie Gísli brabbeln, sie hätte sich ruhig verabschieden können. Aber sie ist müde und durchnässt und könnte ehrlich gesagt einen kleinen Schluck von irgendwas gebrauchen. Im Notfall auch selbstgebrannten Wodka. In Gedanken dreht und wendet sie Gíslis Bericht. Warum hat Viktor ihn nicht erwähnt? Warum hat er ihn nicht verhört? Schlechte Polizeiarbeit, wahrscheinlich. Inkompetenz ist die Eigenschaft, die Hannah an anderen Menschen am meisten hasst. Inkompetenz und Unwissenheit. Oder ist das dasselbe?

Fast schon oben an der Straße muss sie einen kleineren Graben überqueren. Hannah sucht ihr Handy heraus, hat keine Lust auf weiteren Körperkontakt mit dem nassen Gras. Im bläulich-weißen Licht der Handytaschenlampe setzt sie langsam einen Fuß vor den anderen, doch plötzlich hält sie inne. Der Lichtstrahl hat etwas erfasst. Kann das wirklich sein? Hannah beugt sich hinunter. Eine seltsame, fast perverse Freude steigt in ihr auf. Sie kann nicht anders, als vor sich hin zu lächeln. Vorsichtig schlingt sie ihr Halstuch um eine leere, zerbrochene Wodkaflasche. An ihrem Boden sind unverkennbar Spuren von Blut.