Hannah sperrt die Tür auf und schleicht in das schlafende Haus, so lautlos, wie die knarzenden Dielen und ihre eigenen schweren Schritte es zulassen. Rastlos dreht sie eine Runde durchs dunkle Wohnzimmer, hat den merkwürdigen Drang, Ella zu wecken. Muss mit jemandem reden. Oder allein sein. Sie zittert, kann sich nicht darüber klarwerden, in welcher Stimmung sie ist. Holt schließlich eine Flasche Wein aus ihrem Zimmer. Sie wirft Brennholz in den Kamin und setzt sich mit einem Glas Rotwein vor die Flammen. Verdammt! Sie hat vergessen, Viktor nach Jonni zu fragen. Wo er jetzt wohl ist? Hannah denkt nach – es gab doch keine Ausnüchterungszelle in der Wohnhauspolizeiwache? Nein. Aber was macht man im Dorf dann mit Verbrechern? Was macht man mit einem jungen Mann, der den Vater seines verstorbenen (ermordeten!) Freundes mit einem Gewehr bedroht hat? Hat man ihn vielleicht den langen Weg bis nach Reykjavík gefahren? Oder ihn einfach nach Hause zu seinen Eltern geschickt? Hannah kippt ein halbes Glas Wein hinunter, ihr Blick verliert sich in den Flammen. Morgen muss sie versuchen, Jonni aufzuspüren. Herausfinden, welche Rolle er in diesem Spiel spielt. Nicht die entscheidende, da ist Hannah sich ziemlich sicher. Anders sieht es bei Ægir aus. Warum war er fast zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um seinen Sohn aus dem Wasser zu fischen? Und was ist mit Gísli? Birgt er etwa noch andere Geheimnisse? Und warum liegt eine zerbrochene Wodkaflasche mit frischen Blutspuren am Tatort, wenn sie nicht die Mordwaffe ist? Das Glas wird schnell leerer. Hannah schenkt nach. Das letzte Glas. Das absolut letzte. Halt, natürlich! Es ist doch einleuchtend: Nicht der Täter hat Thor mit der Flasche erschlagen – Thor hat sie zur Selbstverteidigung gegen den Täter benutzt! Hannah lächelt über ihren eigenen kleinen Triumph. Wenn Thor seinen Mörder mit der Waffe geschlagen hat, wird dieser eine Wunde davongetragen haben. Sie muss nur die Person mit der Wodkaflaschenwunde finden, dann hat sie den Mörder! Ob Viktor das wohl auch herausgefunden hat? Viktor. Das Lächeln verschwindet aus ihrem Gesicht. Hat Margrét ihm etwas erzählt? Okay. Nur die Ruhe. Was würde Margrét sagen? Ich hab übrigens ein bisschen mit dieser Autorin rumgeknutscht, die du so nervig findest. Und vermutlich wäre noch mehr passiert, wenn du nicht heimgekommen wärst und uns unterbrochen hättest. Hannah schüttelt den Kopf. Nein. Es ist unwahrscheinlich, dass Margrét etwas verrät. Es sei denn, sie würde die Situation nutzen, um einen Streit zu provozieren, der sie aus einer lieblosen Beziehung führen könnte, oder … oder umgekehrt! Die kleine Nicht-Affäre würde benutzt, um frischen Wind in eine abgeflaute Ehe zu bringen. Sie schenkt das Weinglas zum dritten Mal voll. Hannah ist sich nicht sicher, was schlimmer ist: eine Ehe zu zerstören oder sie zu retten. Wein im Mund, Wein im Magen, Wärme, die sich im Körper ausbreitet. Hannah fällt auf, dass sie rein gar nichts über Margrét weiß. Sie haben sich zweimal getroffen. Jetzt entspann dich mal. Entspann dich. Entspann … Aber sie muss mehr wissen. Denn Margrét löst in ihr ein Gefühl aus … Hannah hält in ihrem eigenen Gedankengang inne. Was genau lässt Margrét sie eigentlich fühlen? Etwas. Mehr als sie seit vielen Jahren gefühlt hat. Eine unbestimmte Freude breitet sich in ihrem Bauch aus. Hannah prostet sich schweigend selbst zu. Wie albern! Das Feuer im Kamin spuckt Funken, ein kleiner Vulkan. Hannah leert die Flasche, während sie beobachtet, wie die Flammen sich selbst verzehren und zu Glut werden.
Sie zogen ihn im Morgengrauen aus dem Wasser. Der örtliche Polizist, Axelson, und der Barbesitzer mit den fettigen Haaren. Einige Fischer aus dem Dorf hatten sich versammelt, schweigend betrachteten sie den salzwassertriefenden Körper, als er an Land gebracht wurde. Der Arzt war schon angekommen. Kaum lag der tote Junge auf dem Boden, hatte er sich bereits über ihn gebeugt. Aber es gab keinen Zweifel. Die Fischer hatten noch kein Opfer des Meeres gesehen, das unverkennbarer tot gewesen wäre. Einer von ihnen, der alte Axel, abgehärtet vom Anblick ertrunkener Fischer eines halben Jahrhunderts, blickte verzweifelt auf die gefrorene Erde, als er sah, dass Tore noch einen seiner Fußballschuhe trug.
Hannah hebt den Blick vom Bildschirm zum sternenübersäten Himmel. Dieses nächtliche Schreiben ist gar nicht so schlecht. Es könnte tatsächlich ein Krimi dabei herauskommen. Sie zählt ihre Seiten; zwanzig. Wie lang muss so ein Krimi eigentlich sein? Wahrscheinlich mindestens zweihundertfünfzig Seiten, wenn er ernst genommen werden soll. Das sollte sie doch schaffen können! Hannah wird ein wenig euphorisch, greift nach dem Handy, will eine Nachricht an Bastian tippen, hält jedoch inne. Was soll sie schreiben? Dass es wegen des Mordes supergut läuft, dass sie alles von der Wirklichkeit stiehlt, sich nicht einmal die Mühe macht, die Namen sonderlich stark zu verändern? Und dass sie sich übrigens auch noch in die Frau des örtlichen Polizisten verknallt hat? Was die weitere Zusammenarbeit mit Viktor, wenn sie den Mord aufklären und damit die notwendigen Informationen – oder Inspirationen – für das Buch bekommen will, ziemlich erschweren könnte. Okay, Zusammenarbeit – das trifft es wohl nicht ganz. Wie auch immer. Nein. Sie sollte ihren Optimismus besser erst dann teilen, wenn sie mehr Grund dazu hat. Hannah kehrt zurück an die Tastatur, sie ist überraschend wach und will das Momentum nutzen, um noch ein paar Seiten zu schreiben. Wer weiß, wann es ihr wieder so gehen wird.
Klopf, klopf! Hannah wacht auf. Langsam. Klopf, klopf! Hannah schlägt die Augen auf. Flucht, während sie aus dem Bett aufsteht. Wie lange hat sie geschlafen? Es können nicht mehr als ein paar Stunden gewesen sein. Der Rotweinkopfschmerz drückt wie ein Bleihut, genervt öffnet sie die Tür, draußen steht Ella mit einem Tablett in den Händen: Brötchen mit Käse, Kaffee, ein Glas Saft. Ella lächelt, als hätte sie vergessen, dass ihr Neffe ermordet wurde und dass der Mörder sich auf freiem Fuß befindet. Eine Form von Überlebensstrategie? Schlechtes Gewissen macht sich in Hannah breit, eigentlich sollte sie doch eher Ella bedienen, für die alte Dame in Trauer sorgen. Andererseits sieht es so aus, als würde Ella es genießen, jemanden zu haben, den sie umsorgen kann.
»Ég gæti ímyndað mér að þú værir svöng.«
Das Tablett wird Hannah entgegengehalten, die es annimmt.
»Danke. Ich habe bis spätnachts geschrieben. Hab nicht so viel geschlafen.«
Ella zeigt auf den Radiowecker neben dem Bett. Hannah dreht den Kopf. 14 Uhr 31. Verdammt! Sie sie ja der reinste Teenager! Unglaublich, dass sie fast einen ganzen Tag verschlafen hat. Hannah zuckt entschuldigend mit den Schultern, als läge es außerhalb ihrer pädagogischen Möglichkeiten, sich selbst unter Kontrolle zu haben. So ist es vielleicht auch. Sie nimmt das Tablett mit zum Schreibtisch, schiebt das Laptop zur Seite. Ella steht in der Tür, als wäre sie ein Vampir, den Hannah hereinbitten soll. Kein Wunder, nachdem Hannah sie beim letzten Mal so ungastlich hinausgeworfen hat. Hannah lädt Ella mit einer Geste ein, sich auf das unordentliche Bett zu setzen. Sie nimmt einen Schluck Kaffee, lehnt sich an den Schreibtisch.
»Wie geht es dir?«
Ella zuckt mit den Schultern. Das aufgeweckte Lächeln verschwindet. Sie zeigt auf ein paar lose Blätter Papier auf dem Schreibtisch, schaut fragend.
»Ja, natürlich.«
Hannah reicht ihr einen Stift und Ella schreibt:
Ich gehe jeztt zu Vigdis. Helfe, Beerdigung zu planen .
Hannah nickt.
»Wann findet sie statt, ist das schon klar?«
Ella schreibt wieder.
Nächsten Samstag. Polizei muss erst mit ihm fertig sein.
»Ich dachte, sie hätten die Obduktion schon vorgenommen?«
Ella schüttelt den Kopf.
Nicht fertig.
»Und was ist mit Jonni, weißt du, was sie mit ihm gemacht haben?«
In der Zelle.
Es gibt also eine Ausnüchterungszelle? Hannah grübelt. Sie kann nicht in Viktors und Margréts Haus sein, oder etwa doch? Wo sollte sie sonst sein? In einer kleinen Felsenhöhle am Meer? Ist Jonni vielleicht irgendwo im selben Gebäude eingesperrt gewesen, in dem Hannah und Margrét … Ein absurder Gedanke. Und ärgerlich! Wenn das der Fall ist, hätte Hannah ihn aufsuchen können. Ihn verhören. Sie bezweifelt, dass sie jetzt noch einmal die Chance dazu haben wird.
»Ist die Zelle auf der Polizeistation?«
Hannah ordnet ein paar Zettel zu einem Haufen, versucht, der Frage den Anschein von Beiläufigkeit zu verleihen. Blickt Ella an, die ihrerseits mit schiefgelegtem Kopf zu Hannah schaut. Zögert. Dann nickt. Aber irgendetwas hat diese Kopfhaltung an sich –Skepsis, Unsicherheit? Hannah notiert innerlich, dass sie ihr Interesse an dem Mordfall zügeln muss, jedenfalls Ella gegenüber. Sie will nicht, dass herauskommt, woher sie sich ihre Inspiration für den Krimi holt. Apropos Inspiration: Ella zeigt auf die Saga von Hrafnkel Freysgoði , die unberührt auf dem Nachttisch liegt. Sieht Hannah fragend an.
»Ich hab leider noch keine Zeit gehabt. Wegen allem, was passiert ist …«
Ella nickt.
»Aber es wäre eigentlich schön, auf andere Gedanken zu kommen. Ich glaube, ich lese heute ein bisschen darin. Vielleicht nehme ich es mit ins Bragginn.«
Ella nickt zufrieden. Hannah ist völlig schleierhaft, warum es ihr so wichtig ist, dass sie die bescheuerte Saga liest. Aber es verschafft ihr einen Vorwand, um im Ort herumzustreichen. Sie muss zurück zur Polizeiwache und mit Jonni reden.