Das Buch steckt in der Tasche, die beginnende Nachmittagsdunkelheit schiebt sich von den Bergen herunter, entzieht der Erde alle Farben und drängt sich in Hannahs Lungen. Es ist, als hätte sich im Laufe der letzten Tage alles Grün verflüchtigt, als wären mit Thors Tod sowohl das Dorf als auch die Natur entfärbt worden. Doch den Wind kann der Tod nicht kleinkriegen. Hannah schlingt die Arme um sich, zieht die Kapuze etwas tiefer, aber die eiskalten Böen dringen trotzdem durch ihren Mantel. Sie fühlt sich ausgelaugt und desorientiert in dieser ewigen Dunkelheit, die die Tage auffrisst, bevor sie überhaupt begonnen haben. Frierend beschleunigt sie ihre Schritte.
Als sie das Bragginn erreicht, wirft sie einen raschen Blick durch die Fensterscheiben; die üblichen Fischer, die Frau mit dem Hund, Lederweste mit seinen fettigen Haaren hinter der Bar. Niemand von ihnen bemerkt sie, als sie rasch vorübergeht und weiter ins Dorf hinunterläuft.
Diesmal klopft sie nicht an. Schon aus der Entfernung weiß sie, dass Margrét zu Hause ist, sie hört Kinderstimmen. Müssten die jetzt nicht von ihren Eltern abgeholt werden? Aber vielleicht sind es auch die eigenen. Hannah fällt plötzlich auf, dass sie Viktors und Margréts Kinder bisher gar nicht gesehen hat. Auf eine Art hat sie noch nicht begriffen, dass sie wirklich Kinder haben . Das mindert ihr Interesse an Margrét nicht, sie hat schon immer gern um Gefühle konkurriert. Auch wenn sie nur selten gewinnt und noch nie gegen Kinder angetreten ist. Verdammt, ist sie jetzt völlig im Zynismus versunken? Mit Kindern um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter konkurrieren zu wollen! Hannah zieht die Kapuze dicht über die Ohren, zuckt unwillkürlich mit den Schultern – dann werden sich die Kinder wohl anschnallen müssen.
Das Gras ist nass, und die Dunkelheit erweist sich als unerwarteter Helfer, als Hannah sich bäuchlings von hinten an das Haus heranrobbt. Sie ist sofort durchnässt, doch diesmal schreckt die Feuchtigkeit sie nicht ab. Meine Güte, wie dumm kann man sein, ein Fenster in die Ausnüchterungszelle zu machen! Ein kleines zwar, aber groß genug, dass Hannah anklopfen und einen kleinen Plausch mit Jonni halten kann. Selbst Verbrecher können wohl von einer schönen Aussicht profitieren. Sie kriecht zielstrebig auf den kleinen Anbau zu, in dem ihrer Berechnung nach in der Verlängerung von Viktors Büro die Ausnüchterungszelle liegen muss. Warum hat sie die Tür nicht bemerkt, als sie das erste Mal hier war? In Gedanken geht sie den Raum durch, kann sich aber an keine Tür erinnern. Aber es muss dort eine gewesen sein. Sie ist sich ganz sicher, das kleine Fenster nicht gesehen zu haben, also muss es einen weiteren Raum hinter dem Polizeibüro geben. Hannah ist jetzt am Haus angelangt, in ihrer liegenden Haltung wirft sie einen Blick über die Schulter: Hinter ihr geht die Wiese in ein Feld über, wie ein Infinity-Pool ins Meer. Dahinter die Umrisse der Berge, alles in grauschwarzen Tönen. Es knarzt, raschelt! Hannah zuckt zusammen, blickt nach oben. Das Fenster über ihr öffnet sich. Margréts Hände und ihr Kinn werden sichtbar, dann eine Zigarette im Mundwinkel, die angezündet wird. Hannah drückt sich gegen die Mauer, Rauch kräuselt sich in die Luft – shit! Sie darf nicht so entdeckt werden. Oder hat Margrét sie vielleicht schon wie eine Idiotin über den Rasen kriechen sehen? Ist das hier ein Spiel, ein Weg, Hannah zu sagen, dass Margrét weiß, dass sie da ist? Asche rieselt auf Hannahs Schulter. Hannah betrachtet sie. Was soll sie tun? Warten? Weiterkriechen, aufspringen und sich zeigen? Nein, das ist einfach zu dumm. Egal, was sie sagt, sie würde als psychopathische Stalkerin dastehen. Es ist am besten, hierzubleiben und zu hoffen, dass das Fenster gleich wieder geschlossen wird und sie dann ihr Vorhaben fortsetzen kann. Hannah wartet. Atmet langsam durch die Nase. Eine Ewigkeit scheint zu vergehen. Endlich fällt ein glühender Zigarettenstummel neben ihr herab, sie muss sich ruckartig zur Seite werfen, um ihn nicht ins Haar zu bekommen. Das Fenster schließt sich, Hannah atmet auf, hofft, dass niemand sie gesehen hat. Sie kriecht weiter, an der Mauer entlang, hinter ihr verglimmt die Glut.
Sie greift nach dem Fensterbrett, zieht sich daran hoch und späht wie ein schlechter Einbrecher durch das kleine Fenster. Presst die Nase gegen die Scheibe, schirmt die Augen mit der Hand ab. Doch hinter dem Glas ist es dunkel, sie kann rein gar nichts erkennen. Vorsichtig klopft sie mit den Fingernägeln an die Scheibe. Hat das Gefühl, dass diese kleine Bewegung von den Bergen widerhallt. Nichts. Sie blickt sich um. Versucht ein vorsichtiges Pochen mit dem Fingerknöchel. Immer noch nichts. Hannah flucht lautlos und will gerade wieder zurückkriechen, als im Inneren des Zimmers plötzlich eine kleine Lampe angeht. Hannahs Herz beginnt wie rasend zu schlagen. Dort, auf einer kleinen Pritsche, sitzt ein dünner, blasser junger Mann mit auffallend dunklen Ringen unter den Augen. Jonni. Er schaut auf das kleine Fenster, aber es ist, als nähme er Hannah gar nicht wahr. Sieht er sie nicht? Sie klopft wieder. Winkt, versucht ihn zum Fenster zu holen. Doch er starrt nur ausdruckslos in ihre Richtung, als wäre nichts in der Welt es wert, von seinem Blick erfasst zu werden. Schon gar nicht eine dänische Autorin mittleren Alters, die da draußen Theater macht. Hannah überlegt kurz, ob sie sich fürchten sollte, aber so hasserfüllt und beängstigend der junge Mann mit einem Jagdgewehr in der Hand ausgesehen hat, so klein und unschuldig wirkt er jetzt. Und es stehen ja immer noch eine Wand und eine Scheibe zwischen ihnen.
»Jonni. Können wir miteinander reden?«
Hannah flüstert laut, überlegt, ob er sie hören kann. Vermutlich nicht. Okay, was hatte sie sich gedacht? Natürlich lässt sich das kleine Fenster nicht öffnen. Und sie kann ja kaum hier stehen und laut rufen. Hannah überlegt. Dann holt sie ihr Notizbuch aus der Jacke, reißt eine Seite heraus. Schreibt. Englisch, zur Sicherheit. Hält den Zettel gegen die Scheibe.
I want to help you. Find out what happened to your friend.
Okay, das ist vielleicht etwas weit hergeholt. Wie sollte Hannah ihm helfen können? Und wie kann sie sicher sein, dass nicht er Thors Mörder ist? Sie versucht, ihn von oben bis unten zu mustern. Sind irgendwelche frischen Wunden zu entdecken, die von einer Wodkaflasche verursacht worden sein könnten? Nicht unmittelbar. Aber er sitzt mit dem Rücken gegen die Wand. Er könnte natürlich gut eine Wunde am Hinterkopf oder auf der Rückseite des Körpers haben. Der junge Mann reagiert nicht auf den Zettel. Hannah nimmt ihn wieder an sich, schreibt erneut.
I know you didn’t do it.
Sie lässt den Zettel etwas länger an der Scheibe als zuvor. Diesmal scheint es, als hätte Jonni ihn bemerkt. Er blickt direkt zum Fenster hin, scheint zu zögern. Steht dann auf und kommt in ihre Richtung.
»Was machst du hier?«
Hannah fährt zusammen, wendet sich um. Hinter ihr steht Margrét. Neben Viktor. Verdammt!