21

Hannah merkt es bereits, als sie die Türklinke herunterdrückt: Jemand wartet auf sie. Einen kurzen Moment überlegt sie, ob sie umkehren soll, hat keine Lust auf Konfrontationen jeglicher Art – schon gar nicht mit Viktor, den sie hinter dem Kaffeeduft vermutet, der ihr aus der Haustür entgegenströmt. Sie hält den Atem an und lauscht. Ellas Stimme erfüllt das Haus, lässt nicht zu, dass der Gast sich verrät, aber das ist auch nicht nötig: Viktors Jacke hängt am Haken. Hannah schließt die Augen, okay, dieses Gespräch war unvermeidlich. Ob es jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt stattfindet, ist auch egal. Sie kündigt ihre Ankunft mit lautem Schließen der Tür an, kratzt all ihre Selbstsicherheit zusammen und tritt ins Wohnzimmer. Ihr stockt der Atem, als der Gast sich umwendet. Auf dem Stuhl Ella gegenüber sitzt nicht Viktor, sondern Margrét. Hannah versucht, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen und einigermaßen gefasst zu wirken, doch sie muss sich gegen die Tischkante lehnen, um nicht tot umzufallen. Ella weist mit einer Geste auf Margrét, die wohl bedeuten soll, dass es sich bei ihr um Hannahs Gast handelt. Was sie Ella wohl erzählt hat? Hoffentlich nicht zu viel, am besten gar nichts. Hannah bemüht sich, gefasst zu klingen.

»Hallo. Schön, dich wiederzusehen.«

Oh Mann, hallo, Idiot! Aber was zum Henker sagt man sonst, wenn man sich so beschissen daneben fühlt? Margrét mustert sie ausdruckslos.

»Vielleicht könnten wir darüber reden, was passiert ist?«

Hannah schluckt, Trockenheit breitet sich in ihrem Mund aus. Okay. Sie muss Ella also in das ein oder andere eingeweiht haben, wenn sie sich so leichthin ausdrückt. Etwas muss geschehen sein. Die Schichten blättern von Hannah ab, sie streicht sich über die Arme, als wolle sie sie festhalten. Das Gefühl von Peinlichkeit vermischt sich mit dem starken Wunsch, Margrét nackt zu sehen.

»Willst du mit in mein Zimmer kommen und reden?«

Hannah fühlt sich wie ein Schulmädchen, das es endlich geschafft hat, seine Freundin zu sich nach Hause zu locken, und jetzt nicht weiß, wie es die Fantasie von ihr in seinem Zimmer nun in die Wirklichkeit umsetzen soll. Nachdem sie die Tür geschlossen hat, geht sie zum Fenster, nimmt eine Kippe aus einer nachlässig auf den Schreibtisch geworfenen Packung, öffnet das Fenster, setzt sich auf den Schreibtisch, lässt die Hand mit der Kippe nach draußen hängen. Margrét bleibt neben dem Bett stehen.

»Ich hab Viktor davon überzeugt, dass es am besten ist, wenn ich mit dir rede, nachdem wir neulich so …« Um Margréts Mund zuckt es, als würde jedes Wort, das jetzt folgt, sie in Verlegenheit bringen. »… freundschaftlich geworden sind.«

Hannah nickt, oh Gott, wird sie rot? Sie blickt in die Nacht hinaus, sieht den Rauch davontanzen. Sie kann sich nicht überwinden, Margrét anzuschauen, als sie fragt:

»Wie viel weiß Viktor?«

»Alles. Wir haben ja beide gesehen, wie du versucht hast, mit Jonni zu reden.«

Okay, wir spielen also das alte Spiel, bei dem man so tut, als wäre nichts passiert. Hannah ist enttäuscht, hatte gedacht, Margrét würde den Moment zumindest anerkennen, denn wenn sie das nicht tut, wie kann er sich dann jemals wiederholen? Hannah muss wissen, welche Gedanken sich Margrét darüber gemacht hat. Wenn überhaupt welche.

»Und die andere Sache? Gestern Abend … Hast du ihm davon erzählt?«

Margrét blickt Hannah starr an, die meint, etwas Brennendes in ihren Augen zu erkennen. Dann schüttelt sie den Kopf. Hannah spürt, wie sich Erleichterung in ihr ausbreitet.

»Und Ella …?«

Wieder ein abwehrendes Kopfschütteln, Hannah verspürt Erleichterung bis in die Fingerspitzen. Gut, ein Geheimnis teilt man am besten nur zu zweit.

»War er sauer, dass ich gekommen bin, um mit Jonni zu sprechen?«

»Was genau willst du eigentlich von dem Jungen?«

Margrét blickt sie forschend an. Ist das wirklich so schwer zu erraten? Die Zigarette ist abgebrannt. Hannah drückt sie aus und schließt das Fenster.

»Die Wahrheit natürlich. Darüber, wo er an dem Abend war. Was passiert ist.«

»Aber du glaubst nicht, dass er Thor ermordet hat.«

Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung, die untermauert wird mit Hannahs kleinem hilflosem Zettel, den Margrét jetzt aus der Tasche zieht. Hannah muss ihn verloren haben, als sie auf frischer Tat ertappt wurde und weggerannt ist wie der Tölpel, der sie offenbar ist.

»Nein. Aber ich glaube, ich weiß, wer es getan hat.«

Hannah hält inne. Kann sie Margrét vertrauen? Sie schätzt, dass die Wahrscheinlichkeit dafür bei mindestens fünfzig Prozent liegt, vielleicht etwas höher, da Margrét nichts über ihr kleines Sofaabenteuer verraten hat.

»Ich glaube, Ægir hat es getan.«

Ein Lachen entschlüpft Margrét. Hannah ist sich nicht sicher, ob es der Unwahrscheinlichkeit ihrer Theorie gilt oder ob es ein höhnisches Das-wissen-wir-doch-alle-Gelächter ist.

»Ist der Gedanke so abwegig?«

Hannah betrachtet Margrét, die sich jetzt aufs Bett gesetzt hat. Am liebsten würde sie sie hineinschubsen.

»Du denkst, Ægir hat seinen eigenen Sohn getötet? Er hat ihn über alles geliebt.«

»Also meinst du, es ist unmöglich?«

Margrét zuckt mit den Schultern.

»Ich bin keine Ermittlerin.«

»Ich auch nicht.«

»Du benimmst dich aber wie eine.«

Aber offenbar keine besonders gute, denkt Hannah, wenn ich nur die schwache Theorie aufstellen kann, dass derjenige, der am schuldigsten aussieht, der Täter ist. Hannah sieht, dass Margrét die Stirn runzelt.

»Andererseits: Ægir hat natürlich ein Motiv.«

Hannah springt vom Schreibtisch.

»Was? Was meinst du damit, dass er ein Motiv hat?«

Margrét weicht auf dem Bett zurück.

»Ich plaudere nicht die Geheimnisse anderer Leute aus. Frag Jonni.«

Hannah ist verwirrt. Was zum Teufel bedeutet das? Und was bedeutet es, dass Margrét sich nun noch weiter auf dem Bett zurücklehnt? Hannah tritt einen Schritt näher, jetzt ist nur noch ein halber Meter zwischen ihnen. Sie hält Margréts Blick fest, ihr Herzschlag galoppiert. Als sie sich vorbeugt, um die Vulkanfrau zu küssen, setzt sie ihre ganze Welt auf eine Karte, und als der Kuss erwidert wird, stürzt sie in einen Abgrund, aus dem sie nie wieder hinauswill.