Hannah hat keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, als Ella vorsichtig an die Tür klopft. Sie muss eingeschlafen sein, als sie die Augen öffnet, findet sie sich jedenfalls in einem leeren Bett wieder, hat aber keine Erinnerung daran, dass Margrét gegangen ist. Ein Gefühl der Traurigkeit überkommt sie; das Gefühl, jemanden verloren zu haben, den sie hätte festhalten können, wenn sie nur aufmerksamer gewesen wäre. Ein paar dunkle Haare auf dem Kissen und ein Duft, der nicht ihr eigener ist – es überkommt sie ein Anflug von wehmütiger Sehnsucht. Bilder von nackter Haut auf nackter Haut blitzen in Hannahs Erinnerung auf, es sind keine Fragmente eines Traums, sondern die Manifestation einer ausgewachsenen Affäre mit einem Menschen, mit dem sie wieder Sex haben und am liebsten auch gleich eine gemeinsame Zukunft planen will. Sie schwingt die Beine über die Bettkante und weiß, dass sie nicht romantisch genug veranlagt ist, um an diese zweite Fantasie zu glauben. Anstatt dem Glück nachzujagen, sollte sie besser versuchen, mehr Nutzen aus der Melancholie zu ziehen.
Das Abendessen besteht aus Fisch und Kartoffeln und wird schweigend eingenommen. Hannah kaut langsam, während sie Ella betrachtet, die dieses eine Mal die Stille zwischen ihnen zu genießen scheint. Oder ist sie vielleicht nur unsicher, wie sie ein Gespräch über alles, was geschehen ist, beginnen soll? Tod, Mord und Drohungen sind wohl für jeden Menschen schwer zu verdauen, ob jung oder alt. Und dann die etwas schräge Situation hier am frühen Abend. Ob sie das mit Margrét und ihr wohl weiß? Hannah kann sich nicht vorstellen, dass Margrét etwas gesagt hat, als sie aus dem Haus geschlichen ist. Aber vielleicht haben alle Frauen ein Gespür für die Untreue, die sich unter ihrem eigenen Dach abspielt?
Hannah fällt ein, dass Ella zu Vigdis wollte, um Thors Beerdigung zu planen.
»Habt ihr die Beerdigung unter Dach und Fach?«
Ella nickt halb, halb schüttelt sie den Kopf.
»Wird sie in der Kirche stattfinden?«
Nicken.
»Und im Anschluss? Wird es danach noch etwas geben?«
Wieder Nicken. Hannah bemerkt, dass Ella zu essen aufhört. Absolute Stille breitet sich aus, wie eine unerklärliche Kraft, die ihren Raum einfordert. Sie sitzen da und spüren die Stille, nehmen sich die Zeit, in ihr zu sein. Draußen frischt der Wind auf, rüttelt an den Fenstern. Im Kamin knistert das Feuer – ohne ihre innere Unruhe könnte es ziemlich gemütlich und harmonisch sein, hier im Wohnzimmer zu sitzen.
»Ahhh! Ahhh!«
Ellas Schreie lassen Hannah aufschrecken und reißen sie aus ihrer Nachdenklichkeit. Die Schreie gehen über in ein heftiges Weinen, das Ella wie eine Naturgewalt zu überkommen scheint und sie vom Stuhl in eine hilflos kauernde Stellung auf den Boden hinunterzwingt, wo ihr die Tränen über Wangen und Hände strömen. Diesmal zögert Hannah nicht, sich ihrer Gastgeberin zu nähern und die Arme um sie zu legen. Rasch lässt sie sich neben Ella zu Boden gleiten, ein Angebot, ihren Schmerz und ihre Trauer mitzutragen. Sie sitzen lange so da. Ella weinend, Hannah ohne zu denken, einfach nur völlig still. Sie starrt in die Flammen, bis das letzte Schluchzen Ella verlassen hat. Der Schmerz scheint nun gänzlich aus ihr herausgeronnen zu sein. Als Hannah, selbst steif in den Gliedern, Ella auf die Beine hilft, ist es, als hätte sich ihr Verhältnis zueinander neu geordnet. Sie sprechen nicht darüber, was geschehen ist. Ella geht auf die Toilette, und als sie zurückkommt, setzt sie Kaffee auf. Hannah räumt den Tisch ab und spült das Geschirr, sie sind fast wie ein altes Ehepaar, und in diesem Gedanken liegt etwas besonders Anheimelndes.
In Decken gewickelt trinken sie auf dem Sofa Kaffee aus Bechern, zwischen ihnen ein Einverständnis, das keiner Worte bedarf. Nach einiger Zeit streckt Ella sich über den Sofatisch nach ihrem Adressbuch aus, findet eine leere Seite und schreibt:
Kommst du mitt zu Beerdigung?
Hannah nickt. Selbstverständlich. So wie sich die Dinge entwickelt haben, scheint es am wahrscheinlichsten, dass man bei diesem Anlass auf einen Durchbruch in dem Fall hoffen kann. Es sei denn, das Ganze wird schon davor aufgeklärt, doch daran zweifelt sie. Morgen früh will sie Ægir aufsuchen, falls ihr eine Idee kommt, wie sie das ohne größere Probleme bewerkstelligen könnte. Apropos Probleme – von jetzt an sollte sie versuchen, sich von Margrét fernzuhalten. Kein Vermischen der Dinge mehr, keine Abstecher mehr, die die Ermittlungen gefährden könnten. Während sie das beschließt, ärgert sie sich, dass sie keine Telefonnummer von Margrét hat. Sie blickt verstohlen zu Ellas kleinem Adressbuch hinüber, das so schön aufgeschlagen auf dem Tisch zwischen ihnen liegt.
Als sie in ihr Zimmer zurückkommt, ist es schon nach zwei Uhr nachts. Sie müssen um Mitternacht herum zu Abend gegessen haben, aber die langen dunklen Stunden haben Hannahs Tagesrhythmus aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Dunkelheit durchdringt ohnehin alle Lebensbereiche. Eigentlich fühlt sie sich zu müde, um zu schreiben, aber sie muss ein gewisses Tempo beibehalten, wenn sie sich den Glauben an den Erfolg des Krimiprojekts bewahren will. Schläfrig setzt Hannah sich an ihr Laptop, ein kleines Glas gefüllt mit Rotwein aus ihrer letzten Flasche neben sich. Sie trinkt zufrieden, macht dort weiter, wo sie aufgehört hat.
Alle wussten, wer der Mörder war, doch niemand wollte es ihr sagen. Sie hatte mit allen gesprochen, der Familie, den Freunden, den Nachbarn – doch es war, als würde der Mord sich um sich selbst schließen und verschwinden, niemand wollte den Machthaber herausfordern, niemand wollte etwas …
Ah! Die Saga. Hrafnkel und der Hirte. Hannah holt das Buch heraus. Wie hat der Vater des Hirten wohl den Tod seines Sohnes gerächt? Sie liest hungrig. Erfährt, dass es dem Vater des Hirten mit der Hilfe anderer starker Bauern gelingt, Hrafnkel vor Gericht zu zerren, das ihn dazu verurteilt, seinen Hof und all seine Macht abzugeben. Mit der Unterstützung derselben starken Bauern kann der Vater das Urteil sogar vollstrecken: Hrafnkel und seine Leute werden von ihrem Hof vertrieben, den der Vater nun selbst übernimmt. Er hat die Möglichkeit, Hrafnkel den Garaus zu machen und die Gegend ein für alle Mal von ihrem Tyrannen zu befreien, doch der Vater ist barmherzig und lässt Hrafnkel und seine Leute gehen. Sie schlagen natürlich zurück, als Hrafnkel wieder an Macht und Ansehen gewonnen hat und wiederkehrt, den Vater in die Knie zwingt und den Hof erneut in Besitz nimmt. Deprimierende Lektüre! Wie lautet die Moral? Dass man gegen Großfürsten nicht kämpfen kann, dass die Machthaber – wie brutal und beim Volk verhasst sie auch sein mögen – immer gewinnen? Dass man böse Tyrannen ganz ausschalten sollte, weil sie sonst zurückkehren und die Macht erneut an sich reißen? Hannah grübelt. Warum hat Ella ihr gerade diese Saga empfohlen? Und wie kann sie den Plot verarbeiten, ohne dass es zu offensichtlich wird? Gibt es einen bizarren Zusammenhang zwischen der Saga und Thors Tod? Plötzlich ertönt ein Schuss, nicht in der Ferne der Nacht, sondern im Wohnzimmer! Dann ein weiterer und noch einer! Das Geräusch von zersplitternden Scheiben, dann wieder ein Schuss. Hannah wirft sich entsetzt unter den Tisch – was zum Teufel passiert hier? Nach dem vierten Schuss hört sie, wie ein Auto beschleunigt und sich vom Hof entfernt. Schnell steht sie auf und sieht gerade noch zwei helle Rücklichter in der Dunkelheit verschwinden. Hannah öffnet mit zitternden Händen die Tür und stürzt die Treppe hinunter.
»Ella! Ella!«
Die Gardinen flattern durch die zerbrochene Fensterscheibe, das Feuer im Kamin ist außer Kontrolle geraten und hat sich auf den Wohnzimmerteppich ausgebreitet. Hannah rennt hin und wirft resolut eine Decke über den beginnenden Brand, während sie versucht, sich einen Überblick zu verschaffen. Wo zum Henker ist Ella? Im Wohnzimmer befindet sie sich nicht, also stürzt Hannah ins Schlafzimmer ihrer Gastgeberin. Ella liegt im Bett, doch Hannah kann nicht erkennen, ob sie tot oder lebendig ist.
»Ella?«
Hannah nähert sich zögernd mit schweren Beinen dem Bett, streckt vorsichtig einen Arm aus und bemüht sich, tapfer zu sein. Als ihr Schienbein an die Bettkante stößt, sieht sie, dass Ella völlig weiß im Gesicht ist. Hannah streckt ängstlich einen Arm zu ihr hinunter, wo fühlt man noch mal den Puls?
»Ahhh!«
Ella greift nach ihr, sie ist verdammte Scheiße noch mal am Leben! Hannah schreit vor Schreck und Erleichterung, der Schrei wirkt ansteckend, und die beiden Frauen schreien gemeinsam in die Nacht hinaus, bevor sie sich in die Arme fallen. Hannah hat sich noch nie zuvor so dankbar gefühlt. Jetzt ist sie diejenige, die zittert.
»Was zum Teufel war das?«
Hannah versucht sich zu sammeln, Ella schüttelt eifrig den Kopf, flucht auf Isländisch.
»Sie sind weg. Ich hab sie wegfahren sehen.«
Ella springt aus dem Bett, als hätte die Nahtoderfahrung sie um zehn Jahre verjüngt. Sie ist also nicht getroffen worden, gut! Hannah folgt ihr ins Wohnzimmer hinunter, wo sie das Licht einschalten und den Schaden begutachten. Außer dem eingeschlagenen Fenster ist der Glasschrank mit den Elefantenfiguren zersplittert, und im Sofa sind Unmengen kleiner Löcher.
»Schrotflinte?«
Ella nickt abwesend, nimmt ihren Lieblingselefanten aus der Schrankruine und dreht ihn in der Hand. Er ist unversehrt. Hannah schaudert, das fehlende Fensterglas lädt die winterkalte Novembernacht ins Haus ein.
»Hast du etwas, womit wir es abdecken können? Und kannst du selbst die Polizei anrufen?«
Ella blickt zu ihr auf, als wäre Dänisch plötzlich komplett unverständlich für sie. Hannah wiederholt.
»Die Polizei. Viktor?«
Hannah nimmt das Telefon und reicht es Ella, die versteht und den Elefanten zurück an seinen Platz stellt. Es gelingt ihr, die Nummer der Polizeistation zu wählen. Einen kurzen Moment überlegt Hannah, ob wohl Margrét aus ihren Träumen geweckt wird und abnimmt. Unpassend. Sie schiebt den Gedanken beiseite und geht hinaus zum Holzschuppen, den Ella ihr gezeigt hat, um etwas zu finden, womit man den isländischen Nachtwind aus dem Haus halten kann.
Eine kleine, mit Spinnweben verhangene Glühbirne wirft nur spärliches Licht in den Schuppen, Hannah spürt zum ersten Mal seit den Schüssen das Adrenalin, das sie ungewohnt handlungsstark macht. Es ist, als hätte ihr Reptiliengehirn auf Überleben umgeschaltet, während ihr Bewusstsein Winterschlaf hält, und die Kluft zwischen dem instinktiven Drang, etwas zu tun, und der mangelnden Fähigkeit, zu verstehen, verschafft ihr ein unwirkliches außerkörperliches Gefühl. So muss es sich anfühlen, im Krieg zu sein. Hannah schaudert. Der Wind dringt durch die breiten Spalten in der Schuppenwand, sie muss zurück. Endlich findet sie Bretter und Nägel, aber keinen Hammer.
Zurück im Haus hat Ella das Gespräch mit (vermutlich) Viktor beendet, wankt nun durchs Zimmer und sammelt Glasscherben in einen Eimer. Hannah bemerkt plötzlich, dass sie sich verhalten, als wäre die Gefahr völlig ausgestanden, sollten sie nicht vorsichtiger sein? Vielleicht liegt es daran, dass sie noch gar nicht richtig begriffen haben, was geschehen ist und was es bedeutet. Aber sie hat das Auto selbst verschwinden sehen, wer auch immer es war, er hat sich verhalten, als hätte er seine Mission erfolgreich beendet: die Bewohner des Hauses in Angst und Schrecken zu versetzen.
Hannah lässt den Blick über Ellas antike Werkzeugsammlung an der Wand schweifen. Sie erinnert sich, dort einen Hammer gesehen zu haben, aber da ist keiner, nur ein leerer Haken, an dem er vielleicht gehangen haben könnte. Stattdessen nimmt sie eine Spitzhacke von der Wand, spürt das Gewicht des alten Eisens und des handlich zugeschnittenen Holzes. Entdeckt irgendwelche Initialen, die hineingeschnitzt sind: T. J. Wenn nur alle Ziergegenstände so funktional wären. Mit dem stumpfen Ende der Hacke nagelt sie die Bretter so fest, dass sie das Fenster verdecken, aber sie ist immer noch damit beschäftigt, als Viktor ungefähr zehn Minuten später in seinem Polizeiauto vorfährt. Hannah beschließt, so zu tun, als hätte ihre letzte Begegnung nie stattgefunden, davon ausgehend, dass Schüsse auf ein Haus trotz allem schwerwiegender sind als unerlaubtes Herumkriechen im Garten.
»Stopp!«
Viktor stürzt herein, als wäre die Schießerei noch immer in vollem Gange und er müsse die Schuldigen aufhalten. Aber es ist Hannah, auf die er abwehrend gestikulierend zuläuft.
»Was?«
Hannah erstarrt in ihrer Bewegung, das letzte Brett in der einen, die Hacke in der anderen Hand.
»Du hättest es nicht abdecken dürfen! Jetzt ist es praktisch unmöglich herauszufinden, was passiert ist.«
»Ich kann dir erzählen, was passiert ist. Irgendwelche Psychopathen sind vorbeigefahren und haben auf das Haus geballert, als wären sie beim verschissenen Tontaubenschießen.«
Der giftige Tonfall ist in dieser Situation völlig unpassend, und Hannah weiß nicht, ob sie Viktors hoffnungslose Polizeilogik, ihre eigene Verlegenheit oder die Tatsache, dass er mit Margrét verheiratet ist, zu zivilem Ungehorsam anspornt. Viktor sieht aus, als würde er sie am liebsten ohrfeigen. Demonstrativ ruhig klettert Hannah vom Stuhl, als wäre sie stolz auf ihre Schreinerarbeit, und das ist sie eigentlich auch. Ein oder zwei Nägel mögen vielleicht nicht ganz richtig eingeschlagen sein und die Bretter nur halbwegs festhalten, aber die Abdeckung erfüllt ihren Zweck. Ella geht zu Viktor hinüber, spricht auf Isländisch mit ihm, sicher eine Bestandsaufnahme der Ereignisse, es nervt Hannah, dass sie nichts versteht und dass sie ihre Version des nächtlichen Dramas nicht zuerst darstellen kann. Eine Zeugenaussage und endlose Mengen an Fotos später zündet Hannah sich eine Zigarette an und beobachtet, wie Viktor vom Haus wegfährt, nachdem er sie unnötigerweise aufgefordert hat, heute Nacht die Tür zuzusperren. Er hat im Innenhof drei Patronenhülsen sichergestellt, die von einem Jagdgewehr stammen. So gut wie jeder im Dorf besitzt so eins. Ella hatte ihn davon überzeugen können, dass sie keinen Personenschutz benötigen. Sie will lieber selbst mit ihrer Schrotflinte Wache schieben, weil sie hofft, dass die Übeltäter zurückkommen. Dann schieße ich sie direkt in die Eier , hat sie auf ein Stück Papier geschrieben, als Hannah sie fragend ansah. Hannah hat jedoch keine Lust, darauf zu warten, von den Schüssen zurückkehrender Scharfschützen oder verirrten Schrotkugeln aus Ellas Gewehr getroffen zu werden. Sie stirbt fast vor Müdigkeit, und nachdem sie Ella, dem Wachhund, gute Nacht gesagt hat, kriecht sie zurück in ihr Bett.