Ist es nicht irgendwie so, dass ein einziger Mord in heutigen Krimis nicht ausreicht? Sollten es nicht am besten vier oder fünf sein, damit man den Leser bei der Stange hält? Und dann gab es doch noch diesen Kniff, dass man zwischen verschiedenen Blickwinkeln wechseln und den Text wie einen schnell geschnittenen Film gestalten soll, sodass der Leser meint, die Handlung wäre spannender als sie eigentlich ist. Das sollte Hannah auf jeden Fall versuchen. Nach fünfzig Seiten ist es vermutlich an der Zeit, einen neuen Mord zu erfinden und die Perspektiven zu verflechten, damit der Leser sich nicht zu Tode langweilt. Hannah sitzt an ihrem Fensterschreibplatz und fühlt sich aufgeräumt. Sie hat es zwar nicht geschafft, Ægir irgendwelche Geständnisse zu entlocken, aber ihr Verdacht hat sich durch seine Reaktion nur bestätigt: Er verbirgt etwas. Und bis zur Beerdigung will sie herausfinden, was das ist.
Eine Person war von dem Unglück noch stärker getroffen worden als Tores Eltern: Esther. Seit drei Jahren hatte sie mit ihm in einer Beziehung gelebt, sie waren alles füreinander gewesen. Sandkastenfreunde, bei einem Schulausflug zum Gletscher hatten sie sich zum ersten Mal geküsst und sich schließlich auf einem alten Fischkutter gegenseitig die Jungfräulichkeit genommen, mit den Möwen als Zeugen. Esther saß da, eine kalte Tasse Kaffee vor sich. Fühlte sich leer, es war ihr egal, ob sie lebte oder tot war. Sie fand weder die Kraft weiterzumachen noch ihm in den Tod zu folgen. Alles, woran sie denken konnte, war Rache. Sie wusste, wer der Mörder war. In ihren Gedanken plante sie, wie sie durch das Schlafzimmerfenster einsteigen würde. Sie wusste, dass es immer offen stand, wenn er schlief. Sie würde sich hineinschleichen wie eine Katze, sich lautlos bis zum Bett bewegen. Aber kurz bevor sie ihm das Messer in die Brust rammte, würde sie sich zu erkennen geben. Sie wollte, dass er ihr in die Augen sah und wusste, was mit ihm geschah, wusste, dass sie seinen Mord an ihrem Geliebten nicht akzeptierte. Und sie würde damit durchkommen, da war sie sich sicher. Sie hatte sich bereits das perfekte Alibi ausgedacht.
Hannah blickt auf, zufrieden mit sich selbst. Diese Krimischreiberei macht ihr tatsächlich Spaß. Weil es keine richtige Literatur ist, gibt es keinen Druck. Hannah hat sich in ihrer künstlerischen Entfaltung noch nie zuvor so frei gefühlt, hat noch nie zuvor so viele Wörter in so kurzer Zeit geschrieben. Es sieht tatsächlich so aus, als würde sie gerade ihre eigene These beweisen, dass jeder Idiot innerhalb eines Monats einen Krimi schreiben kann. Dieser Gedanke macht sie noch ein Stück zufriedener. Sie bekommt Lust, Bastian anzurufen. Erst beim zweiten Versuch hebt er ab.
»Nur weil ich in Island bin, brauchst du nicht zu denken, dass du mich ganz los wärst.«
»Hannah! Wie schön, von dir zu hören. Ich war gerade mitten in einem Abendessen. Wie läuft es?«
»Abendessen mit wem? Es läuft supergut! Ich hab fünfundfünfzig Seiten geschrieben. Und jetzt fange ich an, mehr Perspektiven einzubauen, ich bin auf einem guten Weg, die neue skandinavische Krimikönigin zu werden.«
»Du fängst erst nach fünfundfünfzig Seiten an, die Perspektiven zu verflechten? Eigentlich solltest du alle Blickwinkel des Buches auf den ersten zwanzig Seiten eingeführt haben.«
»Wer sagt das, ist das eine Regel? Mit wem isst du zu Abend?«
»Na ja, was heißt Regel. Es ist halt einfach üblich.«
»Üblich? Was ist denn mit dir los? Ich rufe mit guten Nachrichten an, ich bin mit dem Krimi schon weit gekommen, und du fängst sofort an, mich nur zu kritisieren, und weigerst dich, mir zu erzählen, mit wem du zu Abend isst!?«
Schweigen im Hörer. Ein unbehagliches Gefühl steigt in Hannah auf.
»Hallo. Bist du noch da?«
Jetzt wird sie langsam wirklich nervös. Bastian verbirgt nie etwas vor ihr.
»Ist das Projekt Scheib-einen-Krimi-in-einem-Monat abgesagt worden, ohne dass ich Bescheid bekommen habe, oder was?«
Nervöses Lachen am anderen Ende der Leitung.
»Nein, nein, natürlich nicht. Verdammt.«
Hannah kann das Geräusch einer Tür hören, die sich öffnet, Straßenlärm, Bastian, der sich eine Zigarette anzündet. Er ist rausgegangen, weg von wem?
»Ich pack das hier nicht. Du sagst jetzt, mit wem du da rumhängst und zu Abend isst, sonst geh ich raus und stürze mich in eine Gletscherspalte.«
Bastian zögert, im Hintergrund Polizeisirenen. Das ist seltsam. Hannah ist erst seit wenigen Tagen in Island, und trotzdem hat sie schon die alltägliche Geräuschkulisse der Einsatzfahrzeuge in Kopenhagen vergessen. Dort hört man sie so häufig, dass ihre Arbeit von den Sirenen nicht beeinträchtigt wurde. Hier oben hat sie noch keine einzige Sirene gehört, auch wenn die Verbrechensdichte hier die Einwohnerdichte zu übersteigen scheint. Ist Bastian vielleicht mit einer Frau unterwegs?
»Bist du auf einem Date, ist es das?«
»Nein. Ich bin nur gerade was trinken mit …«
»Mit wem?«
Wieder Schweigen im Hörer. Tiefer Seufzer, vermutlich wirft er seine Zigarette weg.
»Jørn J.«
»Entschuldige, was hast du gesagt?«
In Hannahs Ohren summt es, aber es ist keine Störung in der Leitung.
»Ich weiß schon, das klingt etwas merkwürdig, aber er ist wirklich ein feiner Kerl.«
»Feiner Kerl?«
Hannahs Mund wird ganz trocken.
»Ja, also … Wir haben uns nach der Buchmesse unterhalten, und …«
»Was zum Teufel soll das heißen? Dass du auf der Buchmesse Jørn-fucking-Jensen aufgesammelt hast, ohne mir was zu sagen, und ihm die ganze Zeit lang in den Arsch gekrochen bist?«
»Hannah, entspann dich, verdammt noch mal! Es sind doch nur ein paar Bier und ein Abendessen.«
»Ein paar Bier und ein Abendessen!? Das IST ein Date! Ein Date im Männerclub, bei dem ihr plant, wie ihr die Frau loswerdet …«
»Hannah, jetzt bist du auf einem feministischen Holzweg.«
»Fick dich, Bastian.«
Hannah legt auf, schleudert das Telefon wütend aufs Bett. Was ist das für ein Komplott? Haben sie etwa schon die ganze Zeit hinter ihrem Rücken diese Sache geplant? Nein, keine Paranoia jetzt, es war ja ihre eigene Idee. Aber warum muss sich Bastian plötzlich mit ihrem Erzfeind treffen? Was verbindet sie, was …? Oh nein. Das kann nur eines bedeuten: Bastian hat den Glauben an ihr Projekt verloren! Er bereitet schon den Boden für eine Zusammenarbeit mit ihrem schlimmsten Konkurrenten vor. Das ergibt einen Sinn. Jørn passt genau ins Profil von Bastians anderen »Autoren«. Bastian hat nur an Hannah festgehalten, weil es ein gewisses Prestige mit sich bringt, eine seriöse, anerkannte Schriftstellerin zu verlegen. Aber jetzt, wo sie sich gerade ihr eigenes Karrieregrab schaufelt, versucht Bastian, den Feind hinter die Linien des Verlags zu locken. Verdammtes Kapitalistenschwein! Hannah unterdrückt einen Aufschrei, sieht, dass auf ihrem Telefon eine SMS aufleuchtet. Gereizt greift sie danach, sie kommt von Bastian.
Nimm es nicht so persönlich. Du kannst beruhigt sein, ich bin immer noch dein Lektor. Ich bin auf deiner Seite. Jørn ist wirklich okay, wenn man ihn erst einmal kennenlernt. Er hat sogar angeboten, dir ein paar Krimikniffe zu verraten …
»Ahhhh!«
Hannah schmettert das Telefon gegen die Wand, der Bildschirm bekommt Risse, als er wie ein abgefeuertes Projektil auf den Boden knallt. Das darf doch verdammt noch mal nicht wahr sein! »Krimikniffe«!? Hannah brüllt in ihr Kopfkissen, reißt daran, tritt gegen das Bett.
»Au, verdammt!«
Sie tritt noch einmal zu.
Als Ella einen Moment später in der Tür steht, hockt Hannah mit einem blutenden Zeh auf dem Boden und schluchzt, während Daunen aus dem zerrissenen Kissen über ihr durch die Luft schweben wie der letzte Staub nach der Apokalypse.
»Absurd. Das ist völlig absurd.«
Hannah sitzt auf dem Sofa, zugleich angespannt und resigniert, den Fuß auf einem Stuhl ausgestreckt. Ella ist dabei, ihn zu verbinden.
»Au!« Hannah windet sich.
Ella umfasst das geschwollene Fußgelenk mit sanfterem Griff.
Scheiße. Sie wird die nächsten Tage herumhumpeln müssen.
»Illoyalität ist das Schlimmste für mich.«
Ella blickt zu ihr auf, nickt. Wirkt, als würde sie ihr zustimmen. Sie legt den Fuß vorsichtig auf dem Stuhl ab. Hannah schenkt ihr ein dankbares Lächeln.
»Danke. Und entschuldige, dass ich mich so aufführe. Es kotzt mich nur so unglaublich an.«
Ella kommt mit einer dampfenden Tasse Kaffee, reicht sie Hannah, setzt sich ihr gegenüber. Schreibt auf die Rückseite eines Briefumschlags.
Was nun? Du gibst das Buch doch nicht auf?
»Nein, verdammt noch mal! Entschuldige, ich fluche so viel. Aber es ist wirklich so eine Scheiße.«
Hannah pustet in den Kaffee, starrt vor sich hin. Ella tut dasselbe. Plötzlich schämt sich Hannah.
»Es tut mir leid. Ich weiß, dass das im Vergleich zu deiner Situation kein echtes Problem ist.«
Ella schreibt.
Wir haben alle unsere Probleme. Meine machen deine für dich nicht kleiner.
Hannah nickt, ist sich aber nicht sicher, ob sie zustimmt. Jetzt, wo ihr Fuß verbunden ist und sie Kaffee in der Tasse hat, kommen ihr ihre verletzten Gefühle, verglichen mit dem Mord an Ellas Neffen und dem Anschlag auf deren Haus, bedeutungslos vor. Aber mit diesem Mist werden sie sie ganz sicher nicht kleinkriegen! Es wird Jørn J. nicht gelingen, sie zum Aufgeben zu bringen, wenn es das ist, worauf er aus ist, und sie wird verdammt noch mal auch nicht zulassen, dass er sich mit seinen lächerlichen Krimikniffen einmischt. Ihr Puls steigt wieder. Im Fuß pocht es. Zusammenreißen, kein Kontakt mehr zu Bastian, allein zurechtkommen und beweisen, dass sie diesen Krimi schreiben kann und dass sie ihn gut schreiben kann! Ohne seine und Jørns Hilfe. Das ist der Plan. Hannah ist enttäuscht von Bastian und wirklich verletzt. Dass er auf rein fachlicher – oder vielleicht eher geschäftlicher – Ebene mit Jørn flirtet, ist eine Sache, aber dass er ihr Vertrauen als Freund missbraucht hat, ist etwas ganz anderes. Hannah hat immer geglaubt, dass auch Freundschaften der unvernünftigen Eifersuchtslogik einer Paarbeziehung folgen: Wenn es jemanden gibt, den man aus bestimmten, berechtigten Gründen nicht mit seinem Partner oder Freund zusammen sehen will, dann hat man auch das verdammte Recht zu erwarten, dass das nicht geschieht. Ob Viktor wohl Margrét verboten hat, sie zu treffen? Hannah schielt zu ihrem zerstörten Telefon hinüber. Ella hat versucht, es mit einem Stück Tesafilm zu reparieren, aber es lässt sich trotz wiederholter Versuche nicht einschalten. Na ja, auch egal. Margrét hat nicht einmal ihre Nummer, und mit Bastian will sie nicht mehr sprechen, also braucht sie gar kein Telefon.