Am nächsten Morgen pocht der Zeh, als säße ein kleiner Troll darin, der sich hinaushämmern will. Hannah vergisst einen Moment, dass ihr Handy kaputt ist, und seufzt, als sie erfolglos versucht es einzuschalten. Wie viel Uhr es wohl ist? Sie humpelt zum Fenster und zieht den Vorhang zur Seite. Das graue Wetter sieht aus, als wollte es den Tag auf Abstand halten.
Auf dem Weg zur Toilette zuckt Hannah zusammen: Die Tür zum Arbeitszimmer ist weit geöffnet, und mitten im Raum steht Ella und starrt sie finster an. Es ist das erste Mal, dass Hannah erlebt, dass ihre Gastgeberin wütend auf sie ist. Ellas eisiger Blick trifft sie wie ein Schlag. Hannah schrumpft zusammen. Räuspert sich. Lügt.
»Ich dachte, ich hätte heute Nacht jemanden dort drinnen gehört.«
Hannah späht verstohlen auf den Türrahmen.
»Ich hatte Angst, dass die zurückgekommen sind. Die, die geschossen haben. Und weil ich keinen Schlüssel hatte, hab ich die Tür aufgebrochen. Um sie zu verjagen.«
Ellas Blick ist wie ein Lügendetektor. Hannah kann sich selbst kaum zuhören. Oh Gott.
»Es tut mir leid, ich habe echt Mist gebaut. Ich hab total verzweifelt nach einem Drink gesucht und dachte, da drinnen wäre vielleicht was. Ein Schnaps oder so. Bescheuert, ich weiß.«
Ella sieht aus, als würde sie sich fragen, ob sie Hannah glauben soll. Ein Augenblick vergeht. Dann scheint sie zu dem Schluss zu kommen, dass die Erklärung erbärmlich genug ist, um wahr zu sein. Aber auf die Wahrheit folgt nicht immer Vergebung. Ella schaltet das Licht aus, zieht die Tür hinter sich zu und sperrt demonstrativ ab. Sie wirft Hannah einen vernichtenden Blick zu.
»Ich bezahle natürlich die Reparatur. Entschuldige.«
Ella antwortet nicht, doch während sie die Treppe hinuntergeht, sagt sie etwas auf Isländisch. Hannah meint, ein paar Schimpfwörter heraushören zu können. Sie bleibt einen Moment stehen. Peinlich, so suchtgesteuert zu sein, dass sie eine abgeschlossene Tür aufgebrochen hat, aber noch peinlicher, dass sie das Vertrauen ihrer Gastgeberin missbraucht hat. Verdammt. Als Hannah kurz darauf unter der Dusche steht und versucht, sich von ihren Sünden reinzuwaschen, kann sie es sich nicht verkneifen, darüber zu spekulieren, warum Ella nicht nachsichtig über ihren kleinen Fauxpas hinwegsieht. Ja, es ist natürlich ärgerlich und frustrierend, wenn einem eine Tür aufgebrochen wird, aber die Ella, die Hannah bisher kennengelernt hat, würde an einem guten Tag nur ein bisschen darüber lachen und sie dann reparieren lassen. Aber es scheint, als wäre es nicht der beschädigte Türrahmen, der Ella am meisten getroffen hat. Eher die Tatsache, dass Hannah in ihrem Arbeitszimmer gewesen ist. Versteckt sie vielleicht irgendetwas dort drinnen? Hannah dreht das kalte Wasser auf, spült ihre Grübeleien mit einem kleinen Aufschrei weg. Das Einzige, was sich in diesem Zimmer verbirgt, ist eine verstaubte Vergangenheit.
Hannah lässt das Frühstück ausfallen. Sie hat weder Lust, Ellas Wut und Enttäuschung zu spüren zu kriegen, noch, sich weiter erklären zu müssen. Mit einem feigen »Bis bald« huscht sie mit ihrem Computer unter dem Arm und dem Vorhaben im Kopf, einen Schreibtag in der Bar einzulegen, aus der Tür. Wie sehr sie auch den Drang verspürt, aus dem Haus zu kommen, sie darf nicht noch einen weiteren Tag verstreichen lassen, ohne an dem Krimi zu arbeiten. Sie hat die naive Hoffnung, ihre Effektivität steigern zu können, wenn sie an einem öffentlichen Ort schreibt, und vielleicht zusätzlich noch Neuigkeiten über den Mord an Thor aufzuschnappen.
Im Bragginn bestellt sie sich eine Tasse Kaffee, etwas geröstetes Brot und ein weichgekochtes Ei. Weil sie der erste Gast ist, beschließt sie, sich an einen der Tische zu setzen, und hofft, dass die Stammgäste erst später erscheinen. Der Vormittag ist nicht gerade ihre beste Zeit, um ins Schreiben zu kommen, also ordert sie einen kleinen Schuss Whisky zum Kaffee, um ihren Kreislauf und die Kreativität in Schwung zu bringen. Isoliert durch einen Geräusche unterdrückenden Kopfhörer bringt Hannah im Laufe einer Stunde ein paar Seiten zustande, und als die ersten Fischer im Ruhestand eintreffen, wechselt sie für eine Luftveränderung an die Bar. Sie bestellt noch einen Kaffee mit Schuss und versucht, Lederweste ins Plaudern zu bringen. Sie beginnt mit ein bisschen Smalltalk.
»Vormittags ist hier nicht so viel los, was?«
Lederweste zuckt mit den Schultern, blättert in einer Zeitung.
»So hab ich ein bisschen Zeit, die hier zu lesen.«
Hannah ist sich nicht sicher, ob das heißt, dass er jetzt am liebsten in Ruhe gelassen werden will. Aber ihre Neugierde siegt. Ihr kommt der Gedanke, dass man die Leute manchmal mit ein bisschen Tratsch ködern muss, um welchen zurückzubekommen.
»Ich weiß nicht, ob du es schon gehört hast, aber wir hatten ja neulich ein kleines Schockerlebnis. Oder eher ein großes. Jemand hat das Haus angegriffen.«
Lederweste hebt den Blick von der Zeitung. Okay, er hat also noch nichts von dem nächtlichen Angriff auf Ellas Haus gehört. Hannah richtet sich auf, sie hat einen Joker gespielt. Sie wirft ihm noch einen Happen hin.
»Irgendwer hat mitten in der Nacht ins Fenster geschossen. Super unheimlich.«
Sie versucht, erschüttert auszusehen, und es wirkt. Die Zeitung wird zusammengefaltet und beiseitegelegt. Hannah hat seine volle Aufmerksamkeit.
»Jemand zu Schaden gekommen?«
Die Barmannbesorgnis scheint echt zu sein. Hannah schüttelt den Kopf.
»Nur ein zerbrochenes Fenster und ein paar Löcher in der Wand. Es wirkte eher wie ein Versuch, uns zu erschrecken, als uns wirklich zu verletzen. Aber trotzdem ziemlich unheimlich.«
»Und ihr wisst nicht, wer es war?«
Der Barmann mustert Hannah besorgt. Sie schüttelt den Kopf und hebt resigniert die Arme.
»Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass Ella irgendwelche Feinde hat, die ihr Böses wollen.«
»Wieso denkst du, dass sie das Ziel war?«
Hannah rutscht etwas unbehaglich auf ihrem Hocker herum. Was meint er damit? Dass sie selbst das Ziel war?
»Du glaubst doch wohl nicht, dass jemand darauf aus war, mich zu treffen?«
Lederweste zuckt mit den Schultern. Wendet sich dann einem anderen Gast zu, der Frau mit dem Hund. Hannah nimmt einen großen Schluck von ihrem Kaffee-Whisky. Ist sie etwa wirklich schon so kurz davor, den Mörder zu entlarven? Hannah hat genug Ahnung von Krimis, um zu wissen, dass das Leben des Ermittlers immer in Gefahr gerät, wenn die Hütte brennt. Aber es ist trotzdem eher absurd, denn sie ist von einer Lösung des Falles ja noch meilenweit entfernt. Ægir ist bisher ihr einziger Verdächtiger. Und in diese Sackgasse ist sie einmal zu oft gelaufen. Sie leert die Tasse – was, wenn man tatsächlich ihr Angst einjagen wollte und nicht Ella? Weil sie eine scharfsinnigere Ermittlerin ist als Viktor? Hannah grinst ein bisschen, okay, eine so hohe Meinung über ihre eigenen detektivischen Fähigkeiten hat sie nun auch wieder nicht. Aber warum dann die Schüsse? Hat Viktor vielleicht etwas damit zu tun? Ein Schauer läuft ihr über den Rücken, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, sich mit Verschwörungstheorien zurückzuhalten. Sie muss neu denken.
Die Frau mit dem Hund macht nicht gerade einen entgegenkommenden oder dankbaren Eindruck, als Hannah zu ihr hinübergeht, zwei Kaffee in den Händen balancierend, mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht, das einladend wirken soll, sie jedoch vermutlich eher wie eine Idiotin aussehen lässt.
»Hi. Entschuldigung, wenn ich mich aufdränge, aber ich hab bemerkt, dass wir beide hier allein herumsitzen und Kaffee trinken, und da dachte ich … Ja, dass wir das vielleicht zusammen tun könnten.«
Die Frau blickt Hannah ausdruckslos an, die sich mit den beiden Kaffeetassen in der Hand jetzt genauso bescheuert fühlt, wie sie aussehen muss. Sie versucht es wieder mit dem Idiotinnenlächeln.
»Ich sehe, du hast schon reichlich Kaffee in der Tasse. Dumm von mir …«
Hannah gehen die Worte und die Würde aus. Sie will sich gerade abwenden, als die Hundefrau die eine Tasse entgegennimmt und auf den Barhocker neben sich zeigt. Hannah zögert einen Moment, setzt sich dann.
»Mir ist dein Hund aufgefallen. Er ist so süß.«
Hannah schaut den Hund an und hofft, dass ihre Lüge nicht allzu leicht zu erkennen ist. Er sabbert. Wenn sie ihn jetzt nur nicht streicheln muss. Was es wohl für einer ist? Er blickt mit Plüschtieraugen zu ihr auf, vielleicht ist es eine Art Hirtenhund? Die Frau gießt den Kaffee aus Hannahs Tasse in ihre eigene um und trinkt vorsichtig. Ihre Hände haben etwas Ruhiges an sich, das fast unheimlich ist – ein Selbstvertrauen, das Hannah nervös macht. Sie betrachtet ihre neue Barfreundin. Von Nahem wirkt sie gar nicht wie die Alkoholikerin, für die Hannah sie gehalten hat.
»Ich komme immer hierher, um meinen Kaffee zu trinken.«
Die Hundefrau redet, als hätte sie Hannahs Gedanken erraten.
»Ich auch.«
Hannah fühlt sich blöd. Was für ein schlechter Start einer neuen Bekanntschaft, mit jedem einzelnen Satz zu lügen.
»Ich bin nur zu Besuch, also kenne ich nicht so viele Menschen hier. Ich heiße Hannah.«
Die Hundefrau blickt sie an.
»Du wohnst bei Ella, oder?«
»Ja. Kennst du sie?«
Die Hundedame nickt. Natürlich.
»Ich nehme an, du hast von dem Mord gehört. Tragisch.«
Die Hundefrau wendet sich zu Hannah.
»Glauben sie, dass es Mord war?«
Oh nein! Es ist natürlich nicht allgemein bekannt, dass Thors Tod als Mordfall behandelt wird. Hannah beißt sich auf die Zunge. Sie will die Aussage zurücknehmen, aber das Wort Mord lässt sich nur schwer abschwächen.
»Todesfall, meine ich. Thors Tod. Ich hab natürlich keine Ahnung, ob es ein Verbrechen war. Aber ich denke, dass sie das immer sofort untersuchen.«
Das immer sofort untersuchen? Sie muss dieses Gespräch so schnell wie möglich beenden. Wie schafft sie es bloß, so tölpelhaft zu sein, dass sie eine Person anspricht, um ihr Informationen zu entlocken, und stattdessen selbst redet wie die letzte Plaudertasche? Na ja, es muss doch noch irgendetwas geben, was sie aus diesem missglückten Versuch herausholen kann. Die Hundedame stiert mit leerem Blick vor sich hin, als hätte der Hinweis auf einen möglichen Mord sie in eine andere Welt versetzt, was vermutlich ganz natürlich ist. Wer würde mit einem Mörder im Dorf keine Angst bekommen?
»Hast du Thor gekannt?«
Hannah versucht, ihre Gesprächspartnerin aus ihrer Nachdenklichkeit herauszuholen. Es gelingt. Die Hundedame schaut sie an, jetzt mit einem unbestimmbaren Ausdruck in den Augen. Furcht? Sie schüttelt den Kopf.
»Nicht richtig. Aber er wirkte wie ein netter junger Mann. Eine Schande, dass er so jung sterben musste.«
Hannah spürt plötzlich etwas Nasses an ihrem Schienbein, sie blickt hinunter und sieht, wie der Hund sein unappetitliches, sabberndes Maul an ihrem Hosenbein abwischt. Er schaut zu ihr auf, bettelnd, winselt ein wenig. Hannah zieht das Bein zu sich, die Besitzerin bemerkt, was das Tier macht, ruckt an der Leine.
»Rex, nein! Tut mir leid.«
»Ist okay.«
Hannah stellt das Idiotenlächeln wieder an, ist sich sicher, dass sie aussieht wie ein Sittenstrolch, der gleich ein Kind in seinen Einkaufswagen werfen will. Unglücklicherweise steigt die Hundedame jetzt von ihrem Stuhl und zerrt an dem Hund.
»Danke für den Kaffee. Und entschuldige das Gesabber.«
»Kein Problem.«
Hannah lächelt den Hund an, da kommt sie auf einen Gedanken.
»Übrigens, nur eine kleine Sache … Ich weiß, das ist eine etwas merkwürdige Frage, aber hast du hier im Ort vielleicht jemanden mit einer Wunde am Hinterkopf gesehen … Von einem Schlag mit einer Flasche?«
Die Hundefrau blickt Hannah an, als wäre sie offenkundig geistesgestört.
»Warum?«
»Es ist nur … Vergiss es.«
Hannah gibt auf. Doch da tritt die Hundefrau einen Schritt näher, flüstert.
»Glaubst du, jemand mit einer solchen Wunde könnte etwas zu tun haben mit …?«
Hannah nickt vorsichtig. Will nicht noch mehr über ihren Mordverdacht preisgeben, aber trotzdem an der Sache dranbleiben.
»Der obdachlose Typ. Er hat eine große Beule hinten am Kopf.«
Die Hundedame sieht sie mit ernstem Blick an.
»Gísli?«
Hannah ist überrascht, kann das wirklich sein? Die Hundedame zögert, nickt dann. Aber bevor Hannah noch weiterfragen kann, ist die Frau mitsamt ihrem Hund auch schon zur Tür hinaus. Hannah bleibt sitzen. Erst jetzt fällt ihr ein, dass sie die Frau gar nicht nach ihrem Namen gefragt hat.