Gísli ist natürlich nicht in seinem Unterschlupf. Hannah hat noch einen weiteren Kaffee-Whisky getrunken, bevor sie hergekommen ist, denn was, wenn Gísli der Mörder ist? Mit diesem Gedanken kann Hannah sich nur schwer anfreunden. Möglicherweise ist ihre Angst deshalb so gering – denn Gísli hat sie irgendwie nicht auf ihrem Radar für Menschen, die zu einem Mord fähig wären. Aber vielleicht wäre jeder dazu imstande, einen Mord zu begehen, wenn bestimmte Umstände es erfordern? Und Hannah kann nicht ausschließen, dass das bei Gísli an jenem Abend der Fall war: Er trifft Thor, sie geraten miteinander in Streit, vielleicht in eine Schlägerei. Irgendwie kommt es dazu, dass Thor Gísli mit der Wodkaflasche schlägt, und im Gegenzug schlägt Gísli Thor mit etwas Stumpfem in den Nacken. Thor stürzt ins Meer, Gísli bekommt Panik, drückt dessen Kopf unter Wasser, bis der leblose Körper nicht mehr zappelt. Von Schuldgefühlen geplagt, geht er daraufhin ins Bragginn und betrinkt sich bis zur Besinnungslosigkeit. Kehrt an den Tatort zurück, sieht dann aber, dass Ægir gerade den Toten aus dem Wasser zieht. Alles passt, fast etwas zu gut. Hannah hat irgendwo gelesen, dass viele Mörder auch selbst die Polizei rufen, nachdem sie ihr Opfer niedergemetzelt haben. Wenn es stimmt, dass Gísli eine Wunde von einer Wodkaflasche hat, dann ist er höchstwahrscheinlich der Täter. Bei diesem Gedanken breitet sich eine große Traurigkeit in ihr aus.
Sie betrachtet die Wellen, die gegen die Steine schlagen, während sie mit angezogenen Beinen in Gíslis kleinem Königreich hockt und wartet. Ein Gefühl steigt in ihr auf, oder eher eine Sehnsucht. Die Sehnsucht danach, dass Margrét neben ihr sitzt und mit ihr gemeinsam aufs Meer hinausblickt. Ihr wird seltsam warm bei dem Gedanken. Sie stellt sich eine gemeinsame Nacht im Unterschlupf vor, sie beide, ineinander verflochten, mit dem Wind …
»Ich liebe Besuch!«
Hannah schreckt zusammen, verlegen über ihre Fantasie, als wäre diese für andere sichtbar. Gísli streckt sein fröhliches Gesicht zu ihr herein. Es wirkt nicht wie das Gesicht eines Mörders, aber wie sieht so ein Mörder eigentlich aus? Vielleicht lächelt er wie Gísli, vielleicht hat er freundliche Lachfalten um die Augen und vielleicht kann man einen schelmischen und zugleich fürsorglichen Zug um den Mund erkennen, so wie bei dem Mann vor ihr. Hannah spürt, wie ihr Puls sich beschleunigt, während sie versucht, ruhig und gefasst auszusehen.
»Ich wollte nur kurz schauen, wie es dir nach neulich Abend geht.«
»Danke. Das ist süß von dir.«
Gísli setzt sich neben sie, er scheint aufrichtig gerührt zu sein, dass sie sich Gedanken über ihn macht. Er wühlt in einer Tüte herum. Zieht zwei Bierdosen heraus, reicht Hannah eine davon. Sie schüttelt den Kopf, so weit geht ihre Abhängigkeit vom Alkohol dann doch nicht, dass sie Sprit von einem Lumpenmann schmarotzen würde.
»Es nagt an mir.«
Gísli öffnet mit der linken Hand die Bierdose, blickt aufs Meer hinaus. Hannah betrachtet ihn aufmerksam, das Blut rast noch immer in Expressgeschwindigkeit durch ihre Adern. Sie versucht, ruhig zu atmen. Will er ein Geständnis ablegen?
»Bilder von Ægir, wie er Thor aus dem Wasser zieht. Sie kommen immer wieder zu mir zurück, und dann fühle ich mich unwohl. Und traurig.«
Okay, ein Geständnis wird hier wohl nicht mehr kommen. Hannah mustert Gísli. Könnte er irgendwo eine Wodkaflaschenwunde haben? Das ist schwer zu sagen, denn er hat seine Mütze tief über beide Ohren heruntergezogen. Hannah hält die Hände über ihre eigenen Ohren.
»Mir frieren gleich die Ohren ab.«
Gísli schaut sie an.
»Du solltest eine Mütze anziehen. Island im November ohne Kopfbedeckung ist … dumm.«
»Ich weiß, ich hab sie zu Hause vergessen.«
»Soll ich dir meine leihen?«
»Ich will sie dir nicht wegnehmen.«
Doch bevor Hannah noch mehr sagen kann, hat Gísli seine Mütze schon abgenommen und sie auf Hannahs verfrorenen Kopf gesetzt. Sie stinkt, Hannah versucht, nicht daran zu denken und auch nicht an die ganzen Bakterien, die gerade von Gíslis Kopfhaut auf ihre übertragen werden. Sie kann sich nicht überwinden, ihn anzusehen, es war fast zu einfach, ihm seine Kopfbedeckung abzuluchsen, seine Freundlichkeit lässt sich viel zu leicht ausnutzen.
»Besser?«
Hannah nickt, lächelt.
»Danke.«
Sie wendet sich zu ihm um, nimmt seinen Kopf in den Blick. Das Haar ist verfilzt, auf eine Art, bei der nur noch eine Schere Abhilfe schaffen kann. Es klebt an seiner Kopfhaut, doch Hannah kann auf den ersten Blick keine Wunde oder Beule erkennen. Sie muss eine Ausrede finden, auch die andere Seite seines Kopfes zu betrachten. Sie steht auf, streckt die Arme dem Wind entgegen, der wild übers Land fegt.
»Oh! Diese frische Luft ist einfach wundervoll!«
»Du frierst nicht mehr?«
Hannah schlingt die Arme um sich, etwas zu naiv beglückt, etwas zu selig. Als hätte sie gerade erst entdeckt, dass es Wind und Wetter gibt.
»Wir Stadtmenschen haben ein seltsames Verhältnis zur Natur. Wir lieben und hassen sie gleichzeitig. Es ist wie bei einem schwierigen Date: Einerseits wollen wir es unbedingt, aber wir wissen nicht, was wir dafür anziehen sollen.«
Gísli lächelt. Nimmt einen Schluck von seinem Bier.
Hannah kehrt zum Unterstand zurück, setzt sich lässig auf Gíslis andere Seite. Sie sieht ihn an, tastet seinen Kopf mit ihren Blicken nach Mordspuren ab. Kann nichts entdecken. Sie atmet tief ein, muss sich vor ihrem nächsten Schritt kurz sammeln, dem Schritt, den sie eigentlich gern vermeiden würde. Dann streicht sie über sein Haar.
»Du hast tolles Haar.«
»Wirklich?«
»Wirklich. Man kann sehen, dass es dick und schön ist, aber es könnte gut einen …«
»Einen Frisör gebrauchen?«
Hannah nickt. Schließt die Augen und untersucht Gíslis Kopfhaut, versucht, es wie eine freundschaftliche Geste wirken zu lassen, lässt ihre Hand über seinen Scheitel fahren, nichts, nur verfilztes Haar, keine Beulen – aber da! Am Hinterkopf ist etwas; eine kleine Erhebung und eine Stelle, die sich anfühlt wie eine Wunde. Sie fühlt noch einmal nach, vorsichtig, damit es nicht wehtut. Im selben Moment greift Gísli nach ihrem Handgelenk.
»Tut mir leid, aber du hast da wohl was missverstanden.«
Sein lächelndes Gesicht ist durch eine andere Miene ersetzt worden, die Hannah nicht deuten kann.
»Entschuldige, ich wollte nicht …«
Gísli nimmt ihre Hand aus seinem Haar, hält sie jedoch immer noch fest.
»Ich bin nicht … Ich bin vielleicht jahrelang nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen, aber du bist nicht, also … nicht mein Typ.«
Hannah versucht, ein Lächeln zu unterdrücken. Gísli glaubt, sie wollte ihn anmachen! Und: Er weist sie ab. Okay. Hannah steht auf, teils erleichtert, teils aufgeregt, weil sie tatsächlich den Beweis gefunden hat, nach dem sie gesucht hatte. Sie nimmt die Mütze ab, reicht sie Gísli.
»Danke. Und entschuldige.«
Ohne einen weiteren Abschied entfernt sie sich rasch vom Unterschlupf, von Gísli, vom Meer, dem Wind und all den gemischten Gefühlen, die die Situation hervorgerufen hat. Sie muss ihren gerade bestätigten Verdacht an Viktor weitergeben, und das so schnell wie möglich.
Das Auto steht nicht auf dem Hofplatz, also ist Viktor vermutlich nicht zu Hause. Hannah zögert einen Augenblick. Nicht, dass Margrét jetzt glaubt, sie sei ihretwegen gekommen. Doch sie irrt sich: Viktor öffnet die Tür, nicht Margrét. Hannah wird zugleich von Erleichterung wie Enttäuschung übermannt, was einen eigenartigen Ausdruck auf ihrem Gesicht hervorgerufen haben muss, denn Viktor schaut sie besorgt an.
»Alles in Ordnung? War wieder jemand am Haus und hat geschossen …?«
Viktor greift bereits nach seiner Jacke. Hannah hält ihn zurück.
»Nein nein, alles gut … Ich komme nicht wegen des Angriffs. Aber ich glaube, ich weiß, wer Thor umgebracht hat.«
Viktor wirkt überrascht, er mustert Hannah, sie spürt ein gewisses Misstrauen, vielleicht weil der vormittägliche Whisky noch immer leicht in ihrem Atem hängt? Doch dann bittet er sie in sein Büro. Wortlos bietet Viktor ihr Kaffee an, sie nickt zustimmend und räuspert sich, bevor sie mit ihrer Erklärung beginnt.
»Ich weiß, es ist ein bisschen schwer zu glauben, aber diese Flasche, die ich gefunden habe …«
Hannah sieht, dass Viktor bereits zu einem Einwand ansetzt, er ist es wohl leid, von dieser Flasche zu hören, aber bevor er sie unterbrechen kann, fährt sie mit ihrem Bericht fort.
»Mir ist schon klar, sie war nicht die Mordwaffe. Aber ich glaube … Ich glaube, dass Thor den Mörder damit geschlagen hat, zur Selbstverteidigung. Das Blut war ja frisch. Und ich hab die Sache ein bisschen untersucht.«
Viktors Augenbrauen schnellen nach oben, das hört ein gestresster Polizist mit einem Mordfall am Hals nicht gern. Eine weitere zivile Einmischung.
»Ich dachte, wenn ich denjenigen finde, der eine Beule am Hinterkopf hat, dann habe ich den Mörder. Und jetzt habe ich jemand mit genau so einer Verletzung entdeckt.«
Sie legt eine dramatische Pause ein.
»Gísli.«
Viktor verschränkt die Arme. Kneift die Augen zusammen, auf seiner Stirn bildet sich eine Falte.
»Und wie hast du es geschafft, Gíslis Kopf nach genau so einer Verletzung abzusuchen?«
»Ich hab ihn angefasst.«
»Du hast ihn angefasst?«
Die Stirnfalte verdoppelt sich. Als hätte Hannah gerade gesagt, sie hätte den Obdachlosen befummelt. Was sie ja auch getan hat.
»Ich weiß, das klingt ein bisschen eigenartig, aber, also … Es ist mir gelungen, seinen Kopf abzutasten. Und ich hab es gesehen und gefühlt: die Beule, die Wunde und das eingetrocknete Blut.«
Viktor wirkt, als wünschte er, sie wäre nie mit dieser Information zu ihm gekommen. Vermutlich, weil er dazu verpflichtet ist, einer solchen Anklage nachzugehen. Er seufzt und Hannah hat fast Mitleid mit ihm.
»Gísli hat eine traurige Vergangenheit, geriet immer wieder in Barschlägereien. Wenn er sehr betrunken ist und einen schlechten Tag hat, wird er manchmal ziemlich … Tja, nicht mehr ganz der nette Mensch, der er sonst ist, wenn er nur ein bisschen betrunken und ein bisschen deprimiert ist.«
»Ein bisschen deprimiert?«
Das klingt nicht wie der Gísli, den Hannah bisher kennengelernt hat. Aber umso wahrscheinlicher, dass er zu Gewalttaten mit Todesfolge fähig ist. Etwas in ihr windet sich bei dem Gedanken.
»Aber das müsste doch ziemlich leicht zu beweisen sein, oder? Ich meine, wenn das Blut an der Flasche mit Gíslis DNA übereinstimmt …«
Viktor wägt die Situation ab. Dann nickt er.
»Ich werde der Sache nachgehen. Aber das ist jetzt meine letzte Warnung: Du musst damit aufhören, meine Arbeit machen zu wollen, sonst bin ich gezwungen, dich an deiner zu hindern.«
»An meiner zu hindern?«
»Ich kann veranlassen, dass du weggeschickt wirst.«
Hannah blickt Viktor skeptisch an.
»Du kannst mich zurück nach Dänemark schicken?«
»Nein, das meine ich nicht. Ich kann dich wegen Einmischung in die Polizeiarbeit vor Gericht bringen.«
Hannah schaut ihn an, sprachlos. Sie kommt mit entscheidenden Informationen zu ihm, und er wirft ihr zum Dank eine solche Drohung an den Kopf. Ohne ein weiteres Wort führt Viktor sie zum Ausgang und schließt die Tür hinter ihr.