30

Die Zähne hören nicht auf zu klappern. Es ist, als wolle ihr Körper den Schrecken nicht loslassen. Hannahs Haut ist brennend heiß, Schweißtropfen laufen ihren Körper herunter. Sie sitzt in ein Handtuch gewickelt in einer Sauna auf dem Reiterhof. Die Tür geht auf. Pferdeschwanz streckt ihr seine Hand entgegen, eine Flasche Whisky ist darin. Hannah war noch nie so froh, einen Mann mit einem etwas zu kleinen Lendenschurz und einem etwas zu langen Pferdeschwanz zu sehen. Sie kann nicht anders, als zu nicken. Er kommt herein, schließt die Tür hinter sich. Setzt sich neben sie, beißt den Korken von der Flasche, reicht sie ihr. Hannah nimmt sie entgegen, trinkt einen ordentlichen Schluck. Spürt, wie die Flüssigkeit ihr Inneres verbrennt. Der Guide nimmt auch einen Schluck. Steckt den Korken wieder in die Flasche.

»Geht es dir besser?«

Hannah nickt, mit Alkohol im Blut fühlt sich alles etwas besser an.

»Das ist bisher wirklich noch nie passiert. Du bekommst natürlich dein Geld zurück.«

Hannah schüttelt den Kopf, das Geld ist ihr egal. Von der Demütigung kann man sich sowieso nicht freikaufen. Sie kneift die Augen zusammen, versucht, den Anblick von Jørn am anderen Ufer zu vergessen. Alles in ihr brennt. Das Zittern ihres Körpers ebbt ab. Ihr kommt ein Gedanke, sie wendet sich an Pferdeschwanz.

»Wusste er, dass ich herkommen würde?«

»Der andere dänische Schriftsteller?«

»Er ist kein Schriftsteller, er ist ein Franchise-Schreiberling.«

Hannah tut es ein bisschen leid, dass sie so brüsk geantwortet hat. Pferdeschwanz kann ja nichts dafür.

Die Hitze des Ofens zeichnet kleine Schweißtropfen auf die Haut des isländischen Guides, er starrt vor sich hin, überdenkt seine Antwort. Dann nickt er. Wendet den Blick zu Hannah.

»Ist er dein Liebhaber oder so was? Er schien sich sehr zu freuen, dich zu sehen.«

Hannah schnaubt. Liebhaber? Sie nimmt einen weiteren Schluck Whisky. Er schmeckt bitterer als zuvor.

»Dein Feind?«

Pferdeschwanz schnappt Hannah die Flasche aus der Hand, während er fragt. Hannah schließt die Augen, lässt den Whisky unter der Haut brennen.

»Ich hasse alles an ihm. Ich hasse die Art, wie er lächelt, ich hasse den Klang seiner Stimme, und ich hasse alles, wofür er steht. Ich hasse es, dass er sich selbst ›Schriftsteller‹ nennt, ich hasse seine Bücher, und ich hasse es, dass die Leute sie lesen und ihn mögen. Ich hasse seinen Erfolg.«

Hannah öffnet die Augen, es ist fast dunkel in der Sauna. Sie fühlt sich erleichtert wegen ihrer ungewohnten Ehrlichkeit. Pferdeschwanz steht auf, gießt Wasser auf den Ofen, nimmt den kleinen Lendenschurz ab, schwingt das Handtuch, eine Hitzewelle frisst sich in ihre Körper. Er setzt sich wieder, lehnt sich zurück. Sie atmen die heiße Luft ein.

»Früher war ich auch neidisch auf den Erfolg anderer Leute. Ich hab viel Zeit damit verbracht, mich darüber zu ärgern, dass weniger talentierte Menschen Chancen erhielten, von denen ich nur träumen konnte.«

Hannah schaut ihn an.

»Für was?«

»Schauspielerei.«

Hannah nickt.

»Was hat dich dazu gebracht, sie nicht mehr zu hassen?«

Pferdeschwanz zögert. Er blickt ins Feuer.

»Nichts, ich tue es immer noch.«

»Aber du hast mit der Schauspielerei aufgehört.«

Er nickt.

Der Heimweg scheint eine Ewigkeit zu dauern. Der Jeep holpert über den Kiesweg, es wird langsam dunkel, auch wenn es sich anfühlt, als hätte der Tag gerade erst begonnen. Hannah schaltet das Fernlicht ein. Sie war schon immer ein Nachtmensch, aber die vielen Variationen der Dunkelheit der Tage hier gehen ihr allmählich auf die Nerven. Hoffentlich bekommt sie keine ausgewachsene Winterdepression, bevor dieses Buch fertig ist. Hannah hat nicht sonderlich viel Inspiration von den Pferden mitgenommen. Sie stellt irritiert fest, dass Jørns Sabotage nicht nur ihre Motivation beeinträchtigt, sondern auch ihre Recherche. Aber in einem fühlt sie sich bestätigt – das Motiv Rache muss in ihrem Krimi vorkommen. Rache in allen Formen, die man sich vorstellen kann. Aber vielleicht muss sie auch langsam entscheiden, wer der Mörder ist, denn es sollten ja noch ein paar weitere Verdächtige auftreten, bevor es richtig spannend wird. Sie fährt etwas schneller, will nach Hause und einen Mörder erfinden.

Gründliche Vernehmungen aller Anwohner hatten kein neues Licht auf den Fall geworfen, es war, als wäre ein kollektives Vergessen ausgebrochen, was die Nacht von Tores Mord betraf. Und auch über die grausame Ermordung seines Vaters und seiner Mutter schwieg sich die Dorfgemeinschaft aus. Der Kommissar selbst war in dem Ort geboren worden und aufgewachsen, er kannte alle, und indem er ihr Verhalten beobachtete, sollte er eigentlich herausfinden können, wer der Mörder war. Hatte sich jemand verändert, sich neue Gewohnheiten zugelegt, war von den alten abgewichen? Er kratzte sich den Bart, vielleicht konnte man von einigen von ihnen DNA -Proben nehmen? Nur um zu sehen, ob dann endlich jemand zu reden anfinge. Aber das würde auch eine Menge sinnlose Gerüchte und Verleumdungen hervorbringen, da musste er vorsichtig sein.

Hannah blickt auf, kommt plötzlich auf den Gedanken, dass sie nicht weiß, ob die Wirklichkeit Modell für ihren Krimi steht oder ob ihr Krimi vielleicht einfach der Wirklichkeit vorgreift. Es ist jedenfalls keine schlechte Idee, zu schauen, ob jemand im Dorf sich auf einmal merkwürdig verhält. Jemand, der sich auf Abstand hält oder vielleicht sogar das Dorf verlassen hat? Diese Spur will Hannah morgen verfolgen, doch zuerst muss sie etwas tun, das sie schon den ganzen Abend vor sich hergeschoben hat. Sie nimmt das neue Telefon, das sie auf dem Heimweg erworben hat. Der örtliche Kaufmann hat es ihr verkauft und ihr geholfen, es mit einer Prepaid-Karte zum Laufen zu bringen. Sie erreicht Bastian nicht und nach drei vergeblichen Anrufen hintereinander gibt Hannah auf. Fuck him! Sie betrachtet das Telefon, als wäre es ein verräterischer Mitverschwörer, und wird sich ihrer Sache immer sicherer: Bastian hat wahrscheinlich die Gelegenheit genutzt, um sie loszuwerden. Der Kritikererfolg ihres letzten Buchs liegt lange zurück, und er steckt viel Zeit und Energie in jemanden, der im Grunde genommen nur eine Belastung ist. Natürlich hat er ihre verrückte Idee, einen Krimi zu schreiben, aufgegriffen, für gut befunden und ihr dringend nahegelegt, sie umzusetzen. Nur nicht mit dem Ziel, dass sie tatsächlich einen Krimi vollenden soll, sondern damit sie selbst ihre eigene Schriftstellerkarriere beenden kann. Er wird frei, kann sich auf andere, vielversprechendere Autoren konzentrieren. Aber würde er das wirklich tun, er, der sie schon seit so vielen Jahren kennt, er, den sie ihren Freund nennt? Vielleicht hält Freundschaft nicht ewig, vielleicht kann man von einem Menschen wie Hannah genug kriegen. Hannah schluckt einen Kloß im Hals hinunter. Wenn sie der Typ wäre, der weint, würden ihr die Tränen jetzt nur so über die Wangen laufen. Sie versucht, sich auf den Gedanken einzulassen, prüft ihn aus einem anderen Blickwinkel, will ihn mit ihrem rationalen Geist abweisen, aber es hilft nichts. Er sitzt fest. Langsam gewinnt die Wut die Oberhand über das Selbstmitleid. Es soll verdammt noch mal nicht wahr sein! Damit soll er nicht durchkommen, er kann sie nicht einfach verschrotten und dann auf Jørn J. setzen. Sie wird diesen Krimi machen, und wenn es das letzte Buch wird, das sie schreibt.

Hannah zittert noch immer, als sie ihre Jacke nimmt und Ella verkündet, dass sie einen Abendspaziergang machen will. Ella, die vor dem Kamin sitzt und etwas auf einen Block schreibt, blickt auf. Winkt Hannah zu sich. Hannah zögert, sie hat gerade keine Zeit für so was. Doch sie gehorcht.

»Was denn, gibt es irgendein Problem?«

Ella notiert etwas auf ihrem Block. Hannah tritt von einem Bein aufs andere. Liest. Spürt ein Ziehen in der Magengrube. Liest dann noch einmal.

»Hat Margrét angerufen? Mich?«

Ella nickt.

»Weswegen?«

Ella schüttelt den Kopf, wendet sich wieder dem Block zu. Hannah betrachtet sie unentschlossen. Dann blickt sie ihr über die Schulter.

»Was schreibst du?«

Ella kritzelt etwas, hält es Hannah vor die Augen, damit sie es lesen kann. Rede für Thors Beerdigung. Der Abend ist klirrend kalt, als Hannah die Tür hinter sich zuwirft und in die Dunkelheit hinausgeht.