31

Vor Viktors und Margréts Haus angekommen, atmet Hannah tief ein. Was Margrét wohl von ihr will? Die Tür geht auf, bevor sie sich zum Anklopfen überwunden hat. Margrét blickt sie an, als hätte sie den ganzen Abend nichts anderes getan, als auf Hannah zu warten. Eine ungewohnt angespannte Energie geht von ihr aus, Hannah lächelt, doch ihr Gruß wird nicht erwidert. Ohne ein Wort zu sagen, macht Margrét ihr Platz, sodass Hannah ins Haus kommen kann. Hannah tritt ein, blickt sich etwas nervös um.

»Viktor?«

»Nicht da.«

Hannah betrachtet Margrét, die in einer Schublade herumkramt. Sogar in einer alten Jeans und einem zerschlissenen T-Shirt ist sie hübsch, doch es ist unmöglich, ihrem Gesicht etwas abzulesen. Hannah hat Lust, Margréts Hand zu nehmen, Margrét zu küssen, sie auf den Boden zu werfen, gleich hier in der Diele, ihr die Kleider vom Leib zu reißen, ihre Haut zu spüren …

»Komm.«

Margrét unterbricht ihre Gedanken. Aber es ist keine Einladung zu erotischen Handlungen, es ist ein entschlossener und kühler Befehl. Eine Order. Margrét geht mit festen, zielstrebigen Schritten durchs Haus. Hannah ist verwirrt, wohin wird sie geführt? Sie wagt nicht zu fragen, folgt ihr nur. Margrét öffnet eine verschlossene Tür, den Schlüssel hat sie an einem kleinen Bund. Hannah ist ihr direkt auf den Fersen. Margrét schaltet das Licht an, und Hannah erkennt nun Viktors Büro oder die Polizeiwache. Es wundert sie, dass es einen direkten Zugang vom Haus aus gibt, andererseits versteht sie, dass Viktor Besucher nicht auf diesem Weg hereinführt. Sie über den Hofplatz zu treiben, wirkt offizieller. Margrét durchquert mit drei Schritten das kleine Büro, sperrt dann eine andere Tür auf. Hannah bleibt stehen. Im Raum hinter der Tür sitzt Jonni auf seinem Bett, er blickt zu Hannah auf. Halb Mensch, halb Gespenst.

»Du hast zehn Minuten, bis Viktor zurückkommt.«

Margrét deutet mit einem Nicken zu Jonni hinein, und Hannah begreift jetzt, dass sie gerade das größte Geschenk für ihre Ermittlung bekommen hat. Ein inoffizielles Interview mit dem Hauptverdächtigen.

Margrét bleibt im Zimmer, macht eine aufmunternde Geste in Jonnis Richtung. Die Tür hat sie offen gelassen, ist sich scheinbar sicher, dass er nicht flüchten wird. Sie sagt etwas auf Isländisch. Jonni nickt vage. Sieht zu Boden.

»Du kannst ihn alles fragen, was du willst.«

Hannah zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich vor Jonni. Versucht, einen vertraulichen Rahmen zu schaffen.

»Du warst mit Thor an dem Abend zusammen, an dem er gestorben ist?«

Jonni nickt.

»Und ihr habt euch gestritten?«

Jonni schaut etwas unsicher zu Margrét hinüber, doch sie nickt auffordernd. Hannah bekommt Mitleid mit dem jungen Mann, der in seiner Trainingshose und seinem etwas zu großen schwarzen T-Shirt eigentlich eher wie ein Junge aussieht.

»Ja, wir haben uns gestritten. Aber ich hab ihn nicht umgebracht.«

»Das weiß ich.«

Streng genommen kann Hannah das ja gar nicht sicher wissen, aber ihr Bauchgefühl sagt ihr, dass Jonni unschuldig ist.

»Aber warum bist du dann mit einem Jagdgewehr bei seinen Eltern aufgetaucht?«

Jonni starrt zu Boden. Es wirkt, als wäre er den Tränen nahe. Er zögert. Hannah lässt ihm Zeit.

»Wir … Thor und ich waren ein Paar.«

Jonni hebt den Kopf. Hannah begegnet seinem Blick. Plötzlich sieht die Welt vollkommen anders aus. Puzzleteile fallen an ihren Platz. Lederweste in der Bar, der meinte, dass Thor anders war als die anderen jungen Männer. Margréts Zögern bezüglich der Frage, wie gut sie Thor kannte. Jonnis Hass auf Ægir, der nicht wirkt wie ein Mann, der begeistert darüber wäre, dass sein einziger Sohn homosexuell ist. Hannah würde sich am liebsten selbst dafür ohrfeigen, dass sie so schwer von Begriff gewesen ist; darauf hätte sie doch schon längst kommen müssen! Trotz ihrer eigenen, wie sie es nennen würde, fließenden Sexualität, ist sie oft blind dafür, dass ihre Mitmenschen etwas anderes als heterosexuell sein könnten. Vielleicht, weil die Welt so eingerichtet ist, als wären alle Menschen es. Sie versucht die Irritation über ihren persönlichen blinden Fleck beiseitezuschieben, und kehrt zu dem Gedanken an Ægir zurück – war er etwa an jenem Abend der Anlass für den Streit zwischen den beiden Jungs gewesen? Hannah braucht nicht einmal zu fragen.

»Ægir wollte, dass Thor mit mir Schluss macht. Er hatte es gerade rausgefunden – an dem Abend.«

»Und hat er es getan – hat er mit dir Schluss gemacht …?«

Jonni zuckt nervös zusammen. Schüttelt dann den Kopf.

»Aber er war total außer sich. Sagte, dass er nicht weiß, was er tun soll. Sein Vater hatte ihn rausgeschmissen, und das hat ihn völlig in Panik versetzt. Thor war total eng mit seinen Eltern.«

Hannah nickt.

»Einzelkind. Ein Wunder.«

Jonni kämpft mit den Tränen. Margrét blickt auf ihre Armbanduhr. Hannahs Gehirn schlägt Funken, sie hat tausend Fragen, aber keine Zeit, sie alle zu stellen. Sie muss die wichtigsten auswählen. Über die Mordnacht.

»Was ist dann passiert? Nach eurem Streit?«

Jonni zuckt mit den Schultern.

»Wir … Ich hab gesagt, dass ich finde, wir sollten zusammen nach Reykjavík gehen. Studieren, eine Ausbildung machen, whatever … Einfach zusammen sein, weit weg von diesem Drecksloch. Aber das wollte Thor nicht … er wollte bleiben. Den Fischereibetrieb seines Vaters übernehmen, so bescheuert … Er, Fischer? Er kann noch nicht mal schwimmen!«

Jonni wischt eine Träne von seiner Wange. Sieht aus wie jemand, der alles verloren hat. Hannah würde am liebsten einen Arm um ihn legen, sagen, dass alles gut werden wird. Doch auch ihr fällt es schwer, für ihn einen Ausweg aus der Situation zu sehen.

»Er war bei dir zu Hause, aber ist dann gegangen?«

Jonni nickt.

»Er war sauer, ich war sauer. Ich wollte ihm hinterherlaufen … Aber ich hab auch gehofft, dass er von einem Auto überfahren wird. Wie verrückt ist das?«

Jonni hebt den Kopf. Hält Hannahs Blick fest.

»Ich hab ihn in dieser Nacht geliebt und ich hab ihn gehasst. Was auch immer passiert ist, es ist meine Schuld. Ich hab ihn dazu gebracht, dass er sich so verhalten hat.«

Margrét unterbricht ihn.

»Es ist nicht deine Schuld.«

Jonni schaut sie an. Er sagt etwas auf Isländisch. Sie antwortet ihm. Hannah blickt auf die Uhr und versucht verzweifelt, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.

»Hast du irgendeine Idee, wer ihn ermordet haben könnte? Sein Vater?«

Jonni schüttelt den Kopf.

»Das glaub ich nicht … Ich meine, jeder weiß, dass Ægir wirklich wütend werden kann. Aber er hat Thor geliebt …«

Margrét macht einen Schritt auf Hannah zu.

»Du musst jetzt gehen.«

Hannah zögert, ist noch nicht fertig mit Jonnis Befragung. Aber Margrét insistiert.

»Viktor kann jeden Moment zurück sein. Und er darf dich nicht hier finden – schon wieder.«

Hannah spürt einen kleinen Stich, die Art, in der Margrét das sagt, erinnert sie an jenen Abend. Als wäre er ein Fehler gewesen. Sie nickt.

»Danke, Jonni. Ich hoffe, du kommst bald hier raus.«

Zu Hannahs großer Enttäuschung bittet Margrét sie nicht wieder ins Haus, sondern lässt sie zu Viktors Bürotür hinaus. Hannah bleibt in der Tür stehen. Will etwas sagen, weiß aber nicht, was.

»Danke, dass du das für mich tust.«

»Ich hab es nicht für dich getan, sondern für ihn. Je mehr Leute die Wahrheit kennen, desto besser … Vielleicht kannst du irgendetwas Gutes daraus machen. Aber jetzt musst du gehen.«

Hannah sieht Margrét an, versucht, ihre Enttäuschung zu verbergen. Margrét hat ihre Affäre überhaupt nicht erwähnt, ist unmöglich zu durchschauen – bereut sie das Ganze, hat sie es schon verdrängt, will sie es nie wieder tun? Hannah spürt ein brennendes Verlangen, sie zu küssen, wie sie da in der Tür steht, halb drinnen, halb draußen. Doch sie will nicht riskieren, den Zugang, den sie gerade zu Jonni erhalten hat, zu zerstören. Will nicht weiter auf bloße Vermutungen angewiesen sein. Deshalb reißt sie sich zusammen, tritt mit aller Selbstbeherrschung, die sie aufbringen kann, auf den Hofplatz. Doch sie ist noch nicht ganz aus der Tür, da hält Margrét sie auf, zieht sie an sich und küsst sie. Intensiv. Als würde keine von ihnen jemals wieder einen anderen Menschen küssen. Hannah implodiert beinahe. Doch dann lässt Margrét sie los.

»Vielleicht solltest du dir ein neues Telefon zulegen.«

Hannah blickt sie fragend an.

»Du hast versucht, mich anzurufen …?«

»Besorg dir einfach ein neues Telefon. Ich kann nächstes Mal nicht wieder eine Nachricht bei Ella hinterlassen.«

Hannah nickt. Es fällt ihr schwer, nicht zu lächeln. Sie holt ihr Notizbuch aus der Tasche. Schreibt blitzschnell ihre neue Nummer auf. Reißt die Seite heraus und reicht sie Margrét.

»Ich hab schon eins gekauft.«

Hannah wirft Margrét einen letzten Blick zu, dreht sich um und geht. Doch dann fällt ihr noch etwas ein.

»Was hat Jonni vorhin auf Isländisch zu dir gesagt?«

Margrét zögert.

»Er hat mir erzählt, was er zu Thor gesagt hat. Kurz bevor er an dem Abend ging.«

»Was war es?«

»Ich hasse dich.«

Hannah schluckt. Verdammt. Die letzten Worte zu seinem Geliebten, bevor Thor ermordet wird.

Sie geht nach Hause, mit pochendem Herzen, einem Kuss auf den Lippen und dem Gefühl, dass alles viel, viel komplizierter ist, als sie dachte.