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Zuerst ist er überrascht, als Nächstes natürlich skeptisch, und schließlich schleicht sich ein Lächeln auf sein gepflegtes, gesund wettergegerbtes Gesicht. Hannah muss sich anstrengen, dass ihr nichts Spöttisches über die Lippen kommt, was ihre Absichten durchkreuzen würde. Sie muss freundlich sein. Entgegenkommend. Ihm nicht ins Gesicht spucken, dann in die Eier treten und schnell weglaufen.

»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als mit dir zu brainstormen. Komm rein.«

Er öffnet die Tür ein wenig, und Hannah unterdrückt all ihre Impulse und tritt ein wie ein zivilisierter Mensch. Erinnert sich selbst daran, dass sie hier ist, weil sie etwas von ihm will. Ihn benutzen, ohne dass er es merkt. Sie hat nicht vor, auch nur ein Fitzelchen von sich selbst preiszugeben.

»Ich wollte gerade mit meinem Morgen-Yoga anfangen, hättest du was dagegen, wenn ich ein paar Übungen mache, während wir uns unterhalten?«

Es gibt nichts, wogegen Hannah mehr hätte, doch sie nickt nur.

»Natürlich. Ich bin ja diejenige, die dich stört.«

»Super. Dann mach ich kurz ein paar Sonnengrüße. Du solltest das auch mal ausprobieren – es ist wirklich gut für die Gelenkigkeit, nicht nur die körperliche, auch die geistige. Mind and body.«

Hannah betrachtet Jørn, der eine Art Jogginganzug trägt und jetzt wie ein Idiot mit über den Kopf gestreckten Armen dasteht. Sie muss zugeben, dass er dabei sehr friedvoll aussieht. Bei seinem Anblick kommt ihr ein klein wenig Mageninhalt hoch. Sie schluckt. Setzt sich auf ein Sofa, das ein bisschen schmuddelig ist. Wischt eine Brotkrume weg.

»Wer wohnt hier denn normalerweise?«

»Irgendeine Familie. Mein Agent hat das Ganze arrangiert, ich weiß also nicht viel über sie.«

»Und wo sind sie jetzt?«

Jørn beugt sich hinunter, den Hintern in die Luft gereckt. Herabschauender Hund.

»Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht.«

Hannah widersteht der brennenden Versuchung, zu kommentieren, dass die Familie wahrscheinlich auf dem Sofa von irgendwelchen Verwandten schläft, damit Jørn sich im Haus breitmachen kann. Ihr Blick fällt auf ein paar Spielzeuge – ob die Kinder sie wohl vermissen? Andererseits hat sie ja selbst Ellas Haus okkupiert.

»Wie lange willst du bleiben?«

Jørn hat die Position gewechselt. Nach oben schauender Hund.

»So lange ich Lust habe. Ich bin wie gesagt hier, um ein bisschen für mein nächstes Buch zu recherchieren.«

»Soll es hier spielen?«

»So weit bin ich noch nicht. Aber ich glaube, es wird in irgendeiner rauen Naturkulisse verortet sein. Irgendwas mit einem Mann und seinem Kampf gegen die beinharten Elemente, aber in Wirklichkeit ist es ein Kampf mit sich selbst. Eine Flucht vor dem Leben. Bis er durch einen Zufall die Leiche einer jungen, hübschen Frau findet, die vergewaltigt, getötet und in einen Bach geworfen wurde. Da begreift er, dass er die Frau retten muss, indem er den Mord aufklärt.«

»Wie kann er sie retten, wenn sie schon tot ist?«

Hannah mustert Jørn, der jetzt in eine Art Liegestütze hinuntergegangen ist, mit Abscheu. Er blickt auf nervtötende Weise nachdenklich vor sich hin.

»Es ist eher eine Art symbolische Rettung. Er rettet sie, indem er den Mörder findet.«

Hannah starrt ihn an, sie hat sich schon oft vorgestellt, ihm irgendetwas Scharfes in den Bauch zu rammen. Seine Eingeweide herauszuschneiden. Jetzt steht er da, die Arme wieder erhoben, die Augen geschlossen, der Körper komplett exponiert. Sie könnte es tatsächlich tun. Sie schüttelt den Gedanken ab. Zur Sache.

»Du hast wahrscheinlich gehört, was hier passiert ist? Der junge Mann, der vor ein paar Tagen ertrunken aufgefunden wurde?«

»Ja. Ein tragisches Unglück.«

Hannah zögert. Tut sie wirklich das Richtige? Doch jetzt kommt Jørn und setzt sich ihr gegenüber. Schenkt jedem ein Glas Wasser ein. Kein Weg mehr zurück.

»Es war kein Unglück. Alles deutet auf ein Verbrechen hin.«

Hannah ist sich nicht sicher, ob Jørn verstanden hat, was sie gesagt hat. Er blickt sie lange forschend an – glaubt er ihr nicht? Sie ist etwas enttäuscht darüber, dass er nicht einmal ein kleines bisschen schockiert wirkt.

»Verwendest du das in deinem Buch?«

Jørn kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Hannah schaut ihn verärgert an, schüttelt das Gefühl jedoch ab. Scheiß auf seine Du-bist-eine-Anfängerin-Attitüde. Sie muss ehrlich sein, wenn sie seine Hilfe will. Trotzdem lügt sie ehrenhalber ein klein wenig.

»Es geht ja nicht um eine Eins-zu-eins-Inspiration. Vieles erfinde ich selbst. Twists and turns.«

Jørn nickt, als wolle er sagen: ganz bestimmt .

»Und jetzt kommst du mit deinem Buch nicht weiter, weil die Ermittlungen zum Tod des armen jungen Mannes ins Stocken geraten sind?«

So. Keine Überheblichkeiten mehr. Hannah muss das Gespräch zurück auf das Wesentliche lenken. Sie trinkt einen Schluck Wasser, Jørn zieht an seinen Fingern, es ist unfassbar nervig.

»Man muss daran denken, jeden Tag alle Glieder des Körpers zu dehnen.«

Hannah erwidert nichts.

Knack, knack.

»Es gibt mehrere Verdächtige, aber irgendwie passt es nicht richtig. Irgendetwas fehlt. Eine wichtige Komponente.«

Hannah steht auf. Läuft auf und ab. Jørn folgt ihr mit den Blicken.

»Mordwaffe?«

»Stumpfer Gegenstand, wurde nicht gefunden.«

»Verdächtige?«

»Der Vater, ein homosexueller Liebhaber, ein Obdachloser, der zufällig da war, als der Tote gefunden wurde, und der eine Beule am Kopf hat, lange Geschichte.«

»Zeugen?«

»Der Obdachlose mit der Beule.«

»Motiv?«

Hannah hält inne. Scheiße, er ist gut. Warum hat sie darüber nicht nachgedacht? Jørn beantwortet seine Frage selbst.

»Beim Liebhaber Eifersucht, beim Vater Schande, beim Obdachlosen Homophobie. Alles starke Motive, wenn du mich fragst.«

Hannah setzt sich wieder hin.

»Aber du kennst sie nicht. Jonni ist freundlich und nicht eifersüchtig; der Vater hat sich vielleicht geschämt, aber seinen einzigen Sohn auch sehr geliebt, und der Obdachlose ist zu nett, um homophob zu sein.«

Jørn schüttelt den Kopf, erneut kann er sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Ich dachte, dein Zynismus und dein mangelndes Vertrauen in andere Menschen würden für dich in kriminalistischen Fragen von Vorteil sein. Aber in Wirklichkeit bist du ja weich wie Butter.«

»Wer behauptet, ich hätte mangelndes Vertrauen in andere Menschen?«

»Das hast du selbst gesagt. In einem Interview, in der Politiken , vor ein paar Jahren.«

Hannah kommt nicht umhin, sich merkwürdig geschmeichelt zu fühlen. Jørn hat ein Interview mit ihr gelesen. Gleichzeitig würde sie ihm am liebsten eine scheuern – weich wie Butter. Er spricht, wie er schreibt. Wie ein verdammtes Klischee. Sie verteidigt sich.

»Mein mangelndes Vertrauen liegt eher auf einer abstrakten Ebene. Ein Misstrauen gegenüber der Menschheit.«

Jørn schüttelt den Kopf. Macht ein abschätziges Geräusch mit den Lippen.

»Hannah, ich hätte nie gedacht, dass ich das sagen würde. Aber du bist viel, viel zu naiv, um Krimiautorin zu sein.«

Die Vorstellung, Jørn umzubringen, steht ihr nun wieder als reale Möglichkeit vor Augen, doch Hannah mobilisiert ihr gesamtes moralisches Bewusstsein und unterdrückt den Drang, ihm mit der metallenen Teekanne den Kopf zu zerschmettern. Moment! Was sind das für brutale Gedanken? Warum tauchen in ihrem Kopf Gewaltfantasien auf, sobald jemand sie nervt? Ein Gefühl von Scham und Angst breitet sich in ihrem Körper aus. Wenn sie so primitiv ist, so impulsiv in ihrer Art zu denken, ist sie dann prädisponiert, gewaltsame Überfälle zu begehen, zu töten? Und was unterscheidet sie von allen anderen potentiellen Mördern? Hannah bemerkt, dass ihre eine Hand ein wenig zittert, sie versucht es zu verbergen, doch Jørn bemerkt es.

»Entzugserscheinungen?«

Hannah schreit innerlich. Äußerlich lächelt sie aufgesetzt.

»Ich bin keine Alkoholikerin.«

»Und ich bin kein Multimillionär und habe auch kein fettes Sommerhaus in Hornbæk oder eine Beteiligung an einem schicken Rennpferd in Norddeutschland.«

Jørn lächelt Hannah an, die nicht anders kann, als sein Lächeln zu erwidern. Was zum Teufel ist das? Das war tatsächlich gar nicht schlecht gekontert. Kann sie ihn in Wahrheit ein kleines bisschen leiden? Nein! Konzentration. Sie wird ihn ausnutzen, sein vertrauensvolles Wesen melken, auf der Klaviatur seiner Selbstverliebtheit spielen und ihn dazu bringen, ihr bei der Aufklärung zu helfen, ohne dass er es merkt. Das ist der Grund, weshalb sie gekommen ist. Nicht, um Freundschaft zu schließen.

»Das mit dem Motiv. Du hast recht, dass alle drei Verdächtigen auf dem Papier starke Motive haben, aber wie gesagt, du kennst sie auch nicht. Ich glaube einfach nicht …«

»Dass sie imstande sind, es zu tun. Das hast du schon gesagt. Aber du bist natürlich auch der Menschenkenner.«

War diese letzte Bemerkung ein verstecktes Lob oder ein scherzhaftes Necken? Hannah ist sich nicht sicher, neigt jedoch zu Letzterem.

»Du kannst mich naiv nennen, aber ich betrachte meine Überlegung als Verteidigung gegen das Klischee. An anderen Stellen zu suchen als den offensichtlichen.«

»Der schlimmste Feind des Klischees ist Recherche.«

Oh Gott, was für eine Banalität! Hat er das gerade wirklich gesagt? Hannah blickt Jørn an, es fällt ihr schwer, ihre Abscheu zu verbergen.

»Aber der beste Freund des Klischees bist offensichtlich du.«

Jørn betrachtet Hannah, sie beißt sich auf die Zunge. Verdammt. Jetzt nicht in diese Richtung abdriften. Nicht. In. Diese. Richtung. Sie beugt sich in einer versöhnlichen Geste vor. Wenn sie etwas daraus gewinnen will, so dicht bei Jørn zu sitzen, dass sie seinen Yoga-Atem riechen kann, muss sie sich ein bisschen mehr anstrengen.

»Hör mal, ich bin nicht gekommen, um blöde Sprüche zu machen. Wir mögen unsere Meinungsverschiedenheiten über die Herangehensweise an das Schreiben und das Leben im Allgemeinen haben, aber wie gesagt würde ich wirklich gern wissen, was du denkst. Und vielleicht hast du recht, dass einer der drei Verdächtigen es tatsächlich getan hat. Aber wenn wir erstmal versuchen, ein Spiel zu spielen, bei dem wir sie zunächst ausschließen, welche Spur in dieser Verbrecherjagd würden wir dann verfolgen?«

Jørn dehnt knackend seinen Nacken (würg) und kratzt sich diskret im Schritt (doppel-würg). Offensichtlich will er das Spiel mitspielen.

»Okay, ein guter Krimi beinhaltet drei wichtige Elemente: erstens eine spektakuläre und gewaltsame Einleitung, am besten ein Mord. Zweitens falsche Fährten und falsche Verdächtige und drittens … Hier wird es spannend für dich …«

Jørn macht eine so lange Pause, dass Hannah überlegt, ob er jetzt wohl mit einer Erklärung über den Sinn des Lebens daherkommt.

»Drittens …«

»Ich höre.«

»Punkt drei ist: Überraschungen.«

»Überraschungen?«

Hannah sieht ihn skeptisch an. Ist das alles?

»Was würde dich am meisten überraschen? Wenn du versuchst, darüber nachzudenken, kann es sein, dass du der Lösung näherkommst, wer Thor umgebracht hat. Oder wer der Mörder in deinem Krimi ist.«

Hannah dankt ihm für die Hilfe und steht mit dem Gefühl auf, nichts aus Jørn herausbekommen zu haben, das sie nicht auch innerhalb von zwanzig Minuten hätte googeln können. Überraschungen und Recherche. Ist das der Weg zu einer Rennpferd-Beteiligung in Norddeutschland?

In der Haustür baut Jørn sich extra breit auf, mit Armen und Beinen markiert er, dass er der König ist. Der Krimi-Yoga-Männer-König. Er sieht Hannah aufmerksam an, die spürt, dass gleich ein letzter gutgemeinter Ratschlag kommen wird. Jørns Miene wird ernst.

»Wenn ich ganz ehrlich bin, zweifle ich stark daran, dass du diesen realen Fall zu etwas gebrauchen kannst. Es können Monate vergehen, bis er aufgeklärt ist, und wenn er es wird, dann zeigt sich sicher, dass es nur irgendein dummes Unglück war. In meinen Augen ist es eine Sackgasse, und du solltest deine Zeit lieber darauf verwenden, ein paar gute Krimis zu lesen und die ein oder andere Fernsehserie anzuschauen, um Anregungen zu bekommen, wie man einen richtigen Krimi schreibt. Und dann sprichst du mit einem Haufen pensionierter Polizisten und liest ein paar alte Akten aus dem wirklichen Leben, und schwuppdiwupp hast du eine supergut funktionierende Kriminalgeschichte. Ach ja, und denk daran, dass die Hauptfigur nicht sympathisch sein sollte. Niemand mag eine sympathische Hauptfigur in einem Krimi.«

Hannah mustert Jørn für einen langen Moment, sie hat das Gefühl, als sähe sie ihn plötzlich als das, was er ist: ein trauriger Kopist. Dadurch empfindet sie jedoch nicht mehr Sympathie für diesen Mann, eher noch tiefere Verachtung. Sie schüttelt den Kopf, bevor sie aus dem Haus tritt.

»Du irrst dich. Die Wirklichkeit ist viel spannender als die Fiktion.«

Ihr Weg sollte sie eigentlich heimwärts führen, doch stattdessen überquert Hannah ein Feld und eine unsichtbare Grenze, die markiert, wie weit sie gehen wird, um den Mord an Thor aufzuklären.