Hannah hat das Bedürfnis, die Dinge aus einer neuen Perspektive zu betrachten, deshalb geht sie zu dem scheußlichsten Gebäude, das sie bisher im Ort gesehen hat: Olís, die örtliche Tankstelle. Abgesehen von einem sehr jungen Mädchen hinter dem Tresen ist der Laden leer. Hannah sucht die Regale mit den Augen nach etwas Alkoholischem ab, aber es gibt nur Limonade, Süßigkeiten und Hot Dogs. Da fällt ihr plötzlich ein, dass in Island nichts anderes als Leichtbier im Supermarkt verkauft wird. Wein und Schnaps findet man nur in staatlich betriebenen Geschäften. Mist, aber wenigstens ein Anlass, ein Gespräch zu beginnen. Sie schlendert zum Tresen.
»Weißt du, wo ich hier im Ort Alkohol kaufen kann?«
Hannah bemüht sich, das Mädchen hinter der Kasse anzulächeln. Sie kann kaum älter sein als sechzehn. Ist es überhaupt legal, eine Tankstelle zu bewachen, wenn man noch ein Kind ist? Das Mädchen blickt auf, von ihrem Telefon, vermutet Hannah und ist aus diesem Grund schon genervt von ihr. Sie hat keine Lust auf noch einen gelangweilten Teenager.
»Ja, da müssen Sie zum Vínbuð.«
»Ist das weit?«
»Hier ist überhaupt nichts weit.«
Das Mädchen hat den Blick bereits wieder gesenkt. Hannah will ihr gerade eine verbale Abreibung verpassen, doch da sieht sie, worauf die Aufmerksamkeit der Tankstellenwärterin gerichtet ist: ein Buch. Hannah empfindet instinktiv Sympathie für das Mädchen.
»Was liest du?«
Das Mädchen hält das Buch hoch, und Hannah hat spontan Lust, sie zu adoptieren: Sie liest Bonjour Tristesse von Françoise Sagan. Vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung für diese Welt.
» Ich zögere, diesem fremden Gefühl, dessen sanfter Schmerz mich bedrückt, seinen schönen und ernsten Namen zu geben: Traurigkeit .«
»Sie haben es gelesen?«
Das Mädchen betrachtet Hannah interessiert, die nickt. Ein ungewohntes Gefühl von Verbundenheit beschleicht sie; wenn sie den Moment nicht verstreichen lässt, könnte Vertrauen zwischen ihnen entstehen, das spürt sie.
»Als Teenager war es mein Lieblingsbuch … Es war tatsächlich sogar dieses Buch, das …«
Hannah ist überrascht, dass sie gerade dabei ist, etwas sehr Wahrhaftiges und Entblößendes zu sagen. Sie schämt sich bereits ein bisschen, doch das Mädchen sieht sie fragend an, und sie muss den Satz beenden.
»Es war tatsächlich dieses Buch, das mich auf die Idee gebracht hat, Schriftstellerin zu werden.«
Jetzt hat Hannah endgültig die Aufmerksamkeit des Mädchens gewonnen.
»Sie sind Schriftstellerin? Wie heißen Sie?«
»Hannah Krause-Bendix.«
Die Augen des Mädchens leuchten auf. Eine Art Wiedererkennen?
»What?! Sie sind das?«
Hannah spürt, wie ihre Wangen heiß werden, ihr Blick flackert unsicher, sie fühlt sich wie ein kleines Kind, das gelobt wird. Das Erkennen – oder besser gesagt: die Anerkennung – ihrer Person, ihrer Tätigkeit, lässt ihr Herz ein bisschen schneller schlagen, sie fühlt sich fast schwerelos. Genau das, was ihr, wie sie sich immer geschworen hatte, nichts bedeutet. Trotzdem steht sie hier in dieser scheußlichen Tankstelle in einer kleinen isländischen Ortschaft und spürt, wie die Eitelkeit sie wie klebrige Zuckerwatte umschließt, die sie sich am liebsten einfach auf der Zunge zergehen lassen würde.
»Ich hab nur eins von deinen Büchern gelesen, Meine Tage allein , aber ich hab es wirklich geliebt. Wie die Hauptperson ein ganzes Jahr lang mit niemandem redet … Das ist so emo.«
Okay, ein einziges Buch, das Tankwartmädchen ist vielleicht nicht der hingebungsvollste Fan der Welt, aber trotzdem. Hannah spürt, dass sie einen neuen Zugang zum Dorf gefunden hat. Dieser Zugang, der sich auf wundersame und nervige Weise immer wieder öffnet und schließt, und sie spürt, dass die Zeit reif ist, um die Früchte der zivilisierten Gespräche und des Fangirl-Treffens zu ernten.
»Wenn du willst, kann ich dir ein paar von meinen anderen Büchern schicken?«
»Ich verdiene nicht so superviel Geld hier, also …«
»Nein, nein! Sie wären natürlich ein Geschenk. Ich glaube nicht, dass ich schon jemals eine so junge Leserin getroffen habe. Es wäre mir eine große Freude.«
Erstaunlicherweise fällt es Hannah gar nicht schwer, aufrichtig freundlich zu sein, und sie ist selbst verblüfft darüber, dass sie die Bücher ohne Hintergedanken angeboten hat. Der kommt jetzt allerdings nachträglich angeschlichen.
»Darf ich dich um eine Packung blaue King’s bitten?«
Das Mädchen reicht ihr die Zigaretten über den Tresen. Hannah holt ihren Geldbeutel heraus. Versucht, es beiläufig klingen zu lassen, als sie zu dem sensibelsten aller Themen übergeht.
»Kanntest du Thor, den jungen Mann, der gestorben ist …?«
Das Mädchen schaut sie an, von der plötzlichen unerwarteten Wendung des Gesprächs überrumpelt, doch dann nickt sie.
»Er war etwas älter als ich, aber wir hatten viele gemeinsame Freunde.«
»Also kein enger Freund?«
Das Mädchen schüttelt den Kopf. Uff.
»Also hast du keine …«
»Keine was?«
Hannah denkt nach, muss ihre Formulierung mit Umsicht wählen.
»Du hast keine Gerüchte darüber gehört, was an dem Abend passiert ist? Ich meine, junge Leute reden, und manchmal … ich weiß nicht. Vielleicht hat jemand etwas erfahren, womit er nicht zur Polizei gehen will …«
Das Mädchen zuckt mit den Schultern.
»Eigentlich reden alle total viel. Aber ich ertrage es nicht so richtig zuzuhören.«
Hannah nickt. Als fände sie das vernünftig.
»Klar. Aber … Was reden sie …?«
Das Mädchen blickt auf. Durchschaut sie langsam, dass Hannah nur hier ist, um zu schnüffeln? Der Teenagerkopf neigt sich etwas zur Seite, Hannah fühlt sich merkwürdig entblößt.
»Wissen Sie, wofür ich Sie wirklich bewundere? Dass Sie keine Scheißkrimis schreiben wie alle anderen. Ich finde das supercool, dass Sie Bücher schreiben, die nur wir Weirdos lesen.«
Hannah lächelt. Was sagt man dazu? Jetzt kann sie ja verdammt noch mal nicht weiterfragen, und erst recht nicht von ihrem Krimiprojekt erzählen. Mist.
»Danke für die Zigaretten, Weirdo. Wir sehen uns.«
Hannah geht auf den Ausgang zu, doch als sie fast draußen ist, ruft das Mädchen ihr nach.
»Hey! Sie haben vergessen, meinen Namen und meine Adresse aufzuschreiben!«
Hannah sieht sie fragend an. Das Mädchen blickt unsicher zurück.
»Außer, Sie haben das nicht ernst gemeint mit den Büchern …?«
Hannah schlägt sich mit der Hand vor die Stirn. Kehrt zu dem Mädchen zurück, zieht ihr Notizbuch heraus.
»Natürlich, das hätte ich fast vergessen. Du kannst sie hier notieren.«
Hannah sieht dem Mädchen dabei zu, wie es in das Buch schreibt.
»Iðunn? Das ist ein schöner Name.«
Das Mädchen, das Iðunn heißt, gibt Hannah das Notizbuch zurück.
»Tut mir leid, dass ich nicht mehr in den ganzen Gerüchten über Thors Tod drin bin. Ich weiß, dass Sie sich auf die menschliche Psychologie spezialisiert haben und dass Sie sich vielleicht von so einem Ereignis inspirieren lassen könnten … Auf der charakterlichen Ebene.«
Hannah nickt.
»Auf charakterlicher Ebene, ja … Genau deshalb hab ich gefragt.«
»Wenn Sie Lust haben, kommen Sie doch bei einer Party vorbei, heute Abend. Oder … keine richtige Party, es ist eher … Alle Jugendlichen im Dorf kommen zusammen, in Gedenken an Thor. Auf unsere Art. Ich bin sicher, Sie könnten das eine oder andere herausfinden, wenn Sie vorbeischauen würden …«
Hannah blickt Iðunn an, würde ihr am liebsten um den Hals fallen; was für eine unerwartete Wendung für die Ermittlung!
»Ja, auf jeden Fall, das mache ich wirklich gern.«
Iðunn lächelt breit. Hannah begreift schnell, warum, als sie ihren Arm nimmt, um ihre letzte Bemerkung zu unterstreichen.
»Cool! Nur noch eine kleine Sache … Könnten Sie zum Vínbuð gehen und uns Alkohol besorgen …?«