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Einen halben Tag, einiges nervöses Warten, einen Besuch beim Vínbuð und ein langes Nickerchen später. Kaum hat Hannah den Raum betreten, würde sie am liebsten sofort wieder gehen. Iðunn hatte recht: Vermutlich ist die gesamte Jugend von Húsafjörður in dem kleinen Keller, wahrscheinlich die Wohnung von irgendjemandem, versammelt. Sie schaut sich um. Ein ausgeklapptes Schlafsofa, das wirkt, als wäre es noch nie gemacht worden, eine Gaming-Ecke mit zwei Computerbildschirmen auf einem viel zu kleinen verstaubten Tisch, aber mit einem riesigen Bürostuhl, der eher aussieht wie der Sitz eines Raumschiffs. An den Wänden zerknitterte Plakate von Bands, von denen Hannah noch nie gehört hat, und auf dem Boden ein Durcheinander aus undefinierbarem Kram. In der Ecke eine lärmende Runde um einen Kickertisch. Hannah fühlt sich nicht nur tausend Jahre zu alt, sondern merkt auch, wie in dem engen Raum ihre Klaustrophobie erwacht, während vor ihrem inneren Auge Szenen von den todlangweiligen Privatpartys ihrer eigenen Teenagerjahre ablaufen wie aufflackernde Filmausschnitte. Offenbar merkt Iðunn ihr an, dass sie kurz davor ist, einen Rückzieher zu machen. Mit festem Griff nimmt Hannahs neue Freundin von der Tankstelle ihren Arm, als wäre sie ein Kind, das gerade vor ein Auto laufen will, und hindert sie auf diese Weise daran abzuhauen.

»Ich weiß, es ist ein bisschen komisch, weil du unsere Oma sein könntest, aber ganz ehrlich: Du bist die coolste Person hier im Raum.«

Soll Hannah sich jetzt geschmeichelt fühlen? Das Gegenteil ist der Fall, aber sie lässt sich trotzdem tiefer in die Höhle hineinziehen. Als sie das Epizentrum des Zimmers erreichen, einen kleinen Couchtisch, der aussieht, als wäre er mit einer Mischung aus Staub und Essensresten lackiert, knallt Hannah die Tüte darauf, die sie diskret mit hereingetragen hat. Lauter Beifall und Hurrarufe ertönen, als die jungen Leute entdecken, was sich darin befindet: lieblicher Weißwein und zwei Flaschen Wodka. Hannah sichert sich schnell ein Glas Wein, bevor die Getränke von eifrigen Teenagerhänden verteilt werden. Sie stürzt die Hälfte ihres Glases in einem Zug herunter und nimmt dann die Gesellschaft um sich herum in den Blick. Es sind wahrscheinlich ungefähr fünfundzwanzig Leute im Alter zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren, und Hannah beschleicht erneut das sonderbare Gefühl, in ihre eigene Jugend versetzt worden zu sein. Vielleicht hat es etwas mit der Art zu tun, wie sie sich geben, den etwas zu aufgeregten Gesprächen, gemischt mit einer zittrigen Unsicherheit, die durch lässige Haltung und weitschweifige Gesten kompensiert werden soll. Ein Verhalten, das die Zeit zu transzendieren scheint und spezifisch zum Teenageralter gehören muss. Vielleicht liegt es auch daran, dass anscheinend die Mode aus ihrer eigenen Jugend zurückgekehrt ist, was ihr Gefühl von Zusammengehörigkeit allerdings nicht verstärkt, sondern Hannah stattdessen daran erinnert, dass Iðunn tatsächlich recht hat: Sie könnte die Oma oder zumindest die Mutter von jedem hier sein. Aus einem einzigen, aber sehr großen Lautsprecher dröhnt nun irgendwelche Indie-Rockmusik, die Hannah keiner Zeit zuordnen kann. Sie klingt alt, könnte aber im Grunde auch ganz neu sein. Männer mit E-Gitarren kommen wohl nie aus der Mode. Wie erwartet, wird sie nicht gerade von hingebungsvollen Fans umringt, aber sie ist trotzdem verwundert, dass niemand ihre Anwesenheit auch nur im Geringsten aufsehenerregend zu finden scheint. Die Leute haben kaum bemerkt, dass sie diejenige war, die großzügigerweise den Sprit mit auf die Party gebracht hat. Aus dem Augenwinkel sieht sie, dass Iðunn bereits in ein Gespräch mit ein paar anderen Mädchen vertieft ist, und Hannah steht etwas verloren da. Aber egal, dann hat sie zumindest Zeit, sich die Personen auszusuchen, die ihrer Einschätzung nach die lohnendsten Gesprächspartner abgeben. Entgegen ihrem Instinkt wählt sie nicht einen der linkischen Wächter der dunklen Ecken, sondern sucht sich stattdessen einen Kerl aus, der mitten in der Menge steht und wie ein Stand-up-Comedian in einem sehr kleinen Club die Leute in seiner Umgebung unterhält. Er ist breitschultrig oder vielleicht auch nur gut durchtrainiert, Hannah kann es nicht genau erkennen, aber er könnte durchaus einer der Jungs sein, die an dem Tag, als sie Thor begegnet ist, auf dem Fußballfeld waren. Er hat kräftiges dunkelblondes Haar, das an den Seiten kurzgeschnitten ist, und seine Gesichtszüge sind harmonisch, ohne ausgesprochen hübsch zu sein. Doch alles in allem wirkt er wie jemand, mit dem man bereitwillig den neuesten Klatsch teilt und von dem man gern ein Lob erntet. Hannah wartet, bis er aufs Klo geht, dann schlägt sie zu. Tut so, als stünde sie in der Toilettenschlange, und fängt ihn auf seinem Weg zurück zur Party ab.

»Cooles T-Shirt.«

Hannah versucht, einen Ton in angemessenem Abstand zu den beiden Rollen zu treffen, nach denen sie sich hier fühlt: Muttertyp und Pädophile. Der Kerl mustert sie, versucht offenbar, sie in seine Welt einzuordnen. Doch ohne Erfolg.

»Wer bist du gleich noch mal …?«

Hannah ist auf Skepsis vorbereitet, streckt ihm lächelnd die Hand hin und hofft wirklich, dass er sich nach dem Toilettenbesuch die Hände gewaschen hat.

»Hi, ich heiße Hannah, ich bin eine Freundin von Thor.«

Der Kerl reicht Hannah eine schlaffe, feuchte Hand und blickt sie skeptisch an. Sie schwächt ihre Lüge ein wenig ab.

»Oder Freundin von Ella, genauer gesagt, der Schwester von Thors Mutter …«

Wieder ein sehr berechtigter skeptischer Blick. Hannah versucht es ein letztes Mal, die kleinste Lüge.

»Ich bin eine Freundin der Familie. Eine entfernte Verwandte aus Dänemark.«

Cool-Frisur nickt, aber nicht, als würde das Ganze für ihn jetzt hundertprozentig Sinn ergeben.

»Und sie wollten gern, dass ich … Also, die ganze Familie ist natürlich sehr traurig, und sie haben mich gebeten, ein paar Beiträge über Thor zu sammeln. Für die Grabrede.«

Hannah würde sich am liebsten selbst einen kräftigen Schlag auf den Kopf geben, aber irgendeine Ausrede braucht sie.

»Und warum glaubst du, ich hätte was zu sagen …?«

»Du kanntest ihn, oder?«

»Das ist ein anderes Thema.«

Der Kerl lehnt sich jetzt gegen den Türrahmen. Flirtet er mit ihr? Jedenfalls hat sie seine Aufmerksamkeit gewonnen, so weit, so gut. Hannah geht noch einen Schritt auf ihn zu. Dem Typen scheint das zu gefallen.

»Du brauchst nicht tausend lobende Worte über ihn runterleiern, wenn du keine Lust hast. Aber wenn es irgendwas gibt, das deiner Meinung nach erwähnt werden sollte …«

»Was krieg ich dafür?«

»Was?«

Der Typ beugt sich zu Hannah vor, starrt direkt auf ihre Brüste, unverkennbar betrunken. Das macht es Hannah schwer, die Dumme zu spielen.

»Vergiss es. Ich finde jemanden, der ihn besser kannte.«

Hannah wendet sich ab, um zurück zur Party zu gehen, wird aber von einem durchtrainierten jungen Arm zurückgehalten.

»Warte! Was, wenn ich dir sage, dass ich Thor an dem Abend, an dem er gestorben ist, gesehen habe …?«

Hannah spannt alle Muskeln an. Mustert ihr Gegenüber. Hat sie ihn unterschätzt? Treibt er ein schlaueres Wissen-gegen-sexuelle-Leistungen-Spiel, als sie dachte? Sie geht davon aus, dass er blufft, zieht ihren Arm weg.

»Viel Glück mit einem Mädchen in deinem Alter.«

Hannah lässt ihn stehen, doch hinter ihr ertönt ein verzweifelter Laut, der letzte Versuch des Teenagers, um Aufmerksamkeit zu ringen. Hannah erstarrt, hat sie richtig gehört? Sie dreht sich um. Der Kerl nickt, der lüsterne Blick ist verschwunden. Für einen Moment wirkt er nüchtern und aufrichtig.

»Ich meine es ernst. Ich hab Thor an dem Abend heimgehen sehen. Und dann hat ein Auto angehalten und ihn mitgenommen.«

Hannah starrt ihn an.

»Wie heißt du noch mal?«

Hannah kann gar nicht schnell genug von der Teenagerparty wegkommen, und das aus gutem Grund: Während ihrer kleinen Unterhaltung in der Toilettenschlange ist der Alkohol im Blut der Jugendlichen angelangt. Der Raum hat sich inzwischen in eine Hüpfburg voller nackter Oberkörper verwandelt, alles springt und wogt zu Neunzigerjahre-Grunge durcheinander, der Text wird lauthals mitgegrölt. Sie versucht, sich durch die schwankende Masse aus Armen, Beinen und schweißigem Alkoholdunst zu kämpfen, ist schon kurz davor zu geloben, selbst nie wieder etwas zu trinken. Sie wird eine Weile hin und her geschubst und landet schließlich zwischen einem Kerl und einem Mädchen, die in einem offenbar selbsterfundenen Tanz aufeinander zu springen. Hannah bekommt Atemnot, würde am liebsten um sich schlagen. Wie viele Teenager können sich denn auf zwanzig Quadratmeter quetschen? Sie signalisiert, dass sie rauswill, doch jetzt ist sie von allen Seiten eingekesselt. Ihr rettender Engel ist ihr aufgepumpter Toilettenfreund, der auch zurück auf die Party gefunden hat, sie plötzlich an der Hand packt und aus einer Situation herausreißt, die sich zu einem unfreiwilligen Dreier zu entwickeln droht. Er schreit ihr über Kurt Cobains Stimme hinweg ins Ohr.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du der Tanztyp bist!«

Er lächelt sie an, macht ein paar linkische Tanz-Moves. Hannah setzt eine Miene auf, als hätte sie ihn nicht gehört und hebt mit einer entschuldigenden Geste die Arme. Sie ist so weit durch das Dancefloor-Fegefeuer gedrungen, dass der Ausgang nun vor ihr liegt. Doch als sie gerade nach der Türklinke zur Freiheit und der Möglichkeit der Verfolgung einer neuen Spur greifen will, versperrt Iðunn ihr den Weg.

»Du kannst doch jetzt nicht gehen!«

Hannah überfällt der Anflug eines schlechten Gewissens, weil sie nicht daran gedacht hat, sich von ihrer neuen Freundin zu verabschieden. Sie versucht, einen fiebrigen Eindruck zu vermitteln.

»Es geht mir nicht so gut, ich brauche ein bisschen frische Luft.«

»Perfekt. Wir sind gleich bereit für die große Zeremonie.«

Hannah starrt sie verständnislos an.

»Zeremonie?«

»Für Thor. Nimm einfach das hier.«

Bevor sie noch etwas sagen kann, hat Iðunn ihr zwei Flaschen Spiritus aufgeladen, und jetzt bemerkt Hannah, dass Iðunn sich einen Packen hellgrüner Pappstücke unter den Arm geklemmt hat. Hinter ihr steht ein zweites Mädchen mit ein paar Stiften in der einen und Streichhölzern in der anderen Hand.

»Brennen wir jetzt irgendwas nieder?«

Iðunn lächelt.

»Ganz genau.«