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Hannah verlässt Viktor freudig erregt darüber, dass ihr die Rolle einer inoffiziellen Ermittlungspartnerin zugewiesen wurde, gemischt mit dem diffusen Gefühl, dass sie stärker auf der Hut sein muss. Als sie eine halbe Stunde später unter ihre kalte Bettdecke kriecht, dreht sich in ihrem Kopf alles auf eine Art, wie sie es sonst nur erlebt, wenn sie sehr betrunken ist. Wenn die Gedanken übereinander stolpern und das Gehirn keine Ordnung oder Verbindungen mehr schaffen kann, die weit genug reichen, um einen Zusammenhang herzustellen. Plötzlich piepst und leuchtet ihr Telefon, sie spürt ein Ziehen in der Magengrube – vielleicht eine Nachricht von Margrét? Sie nimmt das Handy vom Nachttisch, und ihre Enttäuschung könnte nicht größer sein: Es ist Jørn. Er will sich nur für das gute Gespräch bedanken und sie daran erinnern, dass sie jederzeit zu ihm kommen kann, wenn sie Hilfe braucht. Vielleicht hat sie auch Lust, gemeinsam Ausflüge in die Umgebung zu machen und für ihre jeweiligen Bücher zu recherchieren? Sein Geländewagen kommt überall hin. Jørns Nachricht endet mit einem bescheuerten Auto-Emoji. Hannah antwortet nicht, sondern stellt das Telefon auf lautlos, schließt die Augen und versucht, Jørn zu vergessen. Der Schlaf kommt schnell und ist tief, und zu ihrer eigenen Überraschung wacht sie am nächsten Morgen um Punkt sieben Uhr auf und fühlt sich so frisch und ausgeruht wie noch nie zuvor in ihrem Erwachsenenleben. Ella ist noch nicht aufgestanden, als Hannah Kaffee aufsetzt und ein bisschen Brot röstet. Banale Handlungen, aber sie geben ihr ein Gefühl von Lebenskraft. Von Kontrolle. Sie setzt sich an den Esstisch und nimmt einen herzhaften Bissen Marmeladenbrot, spült mit dem heißen Kaffee nach und beginnt, an ihrem Krimi weiterzuschreiben.

Der Alarm hatte nicht ausgelöst, als Esther aus dem Gefängnis ausgebrochen war, und daher vergingen einige Stunden, bis Axelson entdeckte, dass sie verschwunden war. Stunden, in denen sie Zeit gehabt hätte, sich selbst zu schaden oder noch schlimmer: neue Verbrechen an anderen zu begehen. Während er in seinem Wagen herumfuhr und nach ihr suchte, versuchte er, sich einen Reim auf alles zu machen. Sie hatte den Vater ihres Freundes getötet, aber hatte sie auch ihren Freund umgebracht? Das ergab keinen Sinn, sie hatten sich so sehr geliebt. Axelson kratzte sich seinen langen Bart, und da! Plötzlich kam ihm ein Gedanke: Es waren mehrere Mörder. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter; mit einem Mal war nicht nur eine gefährliche junge Frau auf freiem Fuß, sondern auch ein Komplize. Vielleicht wollte Esther sich mit dieser Person treffen? Vielleicht wollten sie gemeinsam weitere Morde planen? Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da fiel ihm auf, dass alles viel mehr Sinn ergab, wenn zwei Mörder im Spiel waren. Es erklärte Esthers Alibi, es erklärte die mysteriösen Nachrichten auf ihrem Telefon, und vor allem erklärte es, weshalb es ihr gelungen war, mit einem von außen aufgebrochenen Schloss aus der Zelle zu entkommen. Rumms! Ein lautes, krachendes Geräusch unterbrach Axelsons Überlegungen, dann wurde ihm schwarz vor Augen. Er nahm nicht einmal mehr das Auto wahr, das frontal in seinen Wagen hineingefahren war.

Hannah schiebt sich die Lesebrille in die Stirn, zufrieden mit sich selbst. Jetzt gibt es auch noch einen Autounfall, das ist sicher gut, für den Fall, dass das Buch einmal verfilmt wird. Und das wird es bestimmt, es ist ja ein Krimi. Piep . Hannah blickt auf ihr Telefon und dann noch ein weiteres Mal, will sichergehen, dass sie sich nicht getäuscht hat. Nein. Es ist eine Einladung von Margrét zu einem Treffen in dem Teil der isländischen Wildnis, der Hannah am meisten Respekt einflößt: am Fuß des Gletschers. Oder vielleicht gibt es auch einen Ort, der noch schlimmer wäre – wenn sie tatsächlich auf den Gletscher hinaufklettern sollten. Hannah denkt über ihre Antwort nach, aber eigentlich besteht gar kein Zweifel. Sie schafft es nicht mehr, »Ja« zu tippen, weil Ella in diesem Augenblick in die Küche kommt und sie mit einem forschenden Blick unterbricht.

»Kaffee?«

Ella nickt und setzt sich, Hannah schenkt ihr eine Tasse ein. Lächelt.

»Keine Sorge, ich bin nicht verrückt geworden, ich hab nur heute Nacht gut geschlafen. Vielleicht bin ich allmählich dabei, einigermaßen normal zu funktionieren.«

Ella nickt, aber es ist keine Spur eines Lächelns in ihrem Gesicht zu finden. Hannah fällt ein, dass am nächsten Tag die Beerdigung ist, das muss sie sehr belasten. Sie schämt sich, dass sie das vergessen und nur an ihren eigenen Schlaf gedacht hat. Die neue Lebenskraft-Hannah blickt ihre Gastgeberin mit aufrichtigem Mitgefühl an.

»Alles bereit für morgen?«

Ella nickt. Findet einen Papierfetzen. Schreibt.

Ich fahre heute zu Vigdis, helfe bei den letzten Dingen.

»Soll ich mitkommen?«

Ella schüttelt den Kopf.

»Ich meine es ernst, ich helfe gern. Wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann.«

Hannah lügt nicht, sie meint es wirklich so. Selbst wenn es bedeuten würde, dass sie nicht mit Margrét auf Gletschertour kann. Ella schreibt schnell und energisch.

Danke, aber will lieber selbst.

Hannah schiebt Ella den Korb mit geröstetem Brot hin, doch sie hebt die Hand, fast als würde sie es als Zumutung empfinden, etwas angeboten zu bekommen. Hannah betrachtet ihre Arme, sie sehen aus wie zwei dünne Äste mit bröckeliger Rinde. Ella wirkt stark gealtert. Eingefallenere Wangen, dünneres Haar, alles im Lauf der letzten Tage. Thors Tod hat sie wirklich sehr mitgenommen, und Hannah kommen plötzlich Geschichten über Menschen in den Sinn, die unmittelbar nach dem Tod ihres Geliebten erkranken und sterben. Doch das ist wohl eher bei Lebenspartnern oder Kindern der Fall, Hannah hat noch nie von jemandem gehört, der an der Trauer um seinen Neffen zugrunde gegangen wäre. Aber wenn Thors Tod nicht der eigentliche Grund dafür ist, dass Ella ihren Lebensmut verliert, was könnte sie dann so sehr treffen? Hannah schmiert ein Stück Brot für Ella, bevor sie nach oben verschwindet, um ein Bad zu nehmen. Als sie eine halbe Stunde später wieder herunterkommt, hat Ella das Essen nach wie vor nicht angerührt, und ihre Tasse ist noch immer voll mit Kaffee. Der sicher genauso kalt ist wie Ellas Blick ins Leere.