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Ein kraftvolles Gefühl pulsiert durch Hannahs Adern, während sie in Richtung Gletscher marschiert. Sie hat versucht, ihr Aussehen so ansprechend zu gestalten, wie es bei einer Wolle-über-Wolle-Kleidungstechnik möglich ist. Frisch gewaschenes Haar und etwas Mascara, mehr stand ihr nicht zur Verfügung. Bis zum Fuß der riesigen Eisscholle ist es noch ein Stück, und unterwegs hat Hannah Zeit, sich einige Hoffnungen über den Verlauf dieses Treffens mit Margrét zu machen. Es gibt sicher einen Grund dafür, dass sie sich gerade dort mit ihr treffen will und nicht irgendwo im Ort. Hannah lächelt. »Im Ort.« Eigentlich ist es nur eine Ansammlung von Schuppen auf einem Feld am Meer. Sie atmet tief ein, gleich ist sie da. Noch kann sie Margrét nicht sehen. Hannahs Gedanken kreisen um alle vorstellbaren Beweggründe, die Margrét vielleicht gehabt haben könnte, sie hierher einzuladen. Eigentlich fällt ihr nur ein Grund ein, und der verschafft ihr ein warmes Gefühl unter all ihren Wollpullovern. Doch als sie Margrét nach ein paar weiteren Schritten endlich entdeckt, sacken ihre Schultern in enttäuschter Desillusionierung herunter. Margrét ist nicht allein. Sie hat alle Kinder mitgebracht. Für den Bruchteil einer Sekunde erwägt Hannah umzukehren, aber es ist zu spät. Eins der kleinen Schneeanzugmonster hat bereits auf sie gezeigt. Hannah winkt und lächelt, geht zu ihnen. Die Kinder – vier insgesamt, ihrer Schätzung nach drei bis vier Jahre alt – springen auf Steinen herum, die genauso glatt aussehen wie der Gletscher, der hinter ihnen seine Zunge herausstreckt. Hannah blickt zu dem Eis hinauf, es sieht noch furchteinflößender und schwarzfleckiger aus, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie muss jedoch zugeben, dass es ein toller Spielplatz ist. Nicht großartig ausgestattet, doch die Kinder scheinen Spaß zu haben, wie sie da wie kleine Trolle herumlaufen und Steine sammeln. Wenn nur keines von ihnen hinfällt und sich ernsthaft verletzt. Hannah würde nicht damit klarkommen, bei einem gebrochenen Kinderfuß Erste Hilfe leisten zu müssen.

»Schön, dass du kommen konntest.«

Margrét, der es tatsächlich gelingt, in ihren warmen und praktischen Klamotten gut auszusehen, sitzt auf einem Stein und raucht eine Zigarette. Hannah geht zu ihr, bleibt jedoch aufrecht vor ihr stehen.

»Ist ja nicht so, dass ich eine Million anderer Dinge zu tun hätte. Außer ein Buch fertig zu schreiben.«

»Und einen Mord aufzuklären.«

»Und einen Mord aufzuklären.«

Hannah fragt sich, ob Margrét weiß, dass Viktor ihr inzwischen die Erlaubnis gegeben hat, an den Ermittlungen teilzunehmen. Vielleicht will Margrét deshalb mit ihr reden? Hannah streckt ihre Fühler aus.

»Ich weiß schon, das ist alles ein bisschen kompliziert, dass ich die ganze Zeit versuche, mich bei den Ermittlungen aufzudrängen. Mich Viktor aufzudrängen, wo wir … Na ja, ich weiß nicht, ob er etwas gesagt hat, aber wir haben jetzt abgesprochen, dass ich herumschnüffeln darf. Ihm zuarbeiten. Im Gegenzug teilt er sein Wissen mit mir. Inoffiziell natürlich.«

»Wir sind verheiratet. Glaubst du, wir reden nicht miteinander?«

Margrét sieht Hannah durchdringend an, es ist, als spiegele sich der Gletscher in ihren Augen. Liegt etwas Spöttisches in diesem Blick oder bildet sich Hannah das nur ein?

»Ich weiß es nicht … Wie viel redet ihr denn miteinander? Über die Arbeit, über … über das Ganze.«

Margrét lächelt.

»Ich hab nichts von uns erzählt, falls dir das Sorgen macht.«

Hannah spürt, wie sich Erleichterung in ihrem Körper ausbreitet. Nicht nur, weil ihre Affäre immer noch ein wohlgehütetes Geheimnis ist, sondern auch, weil Margrét jetzt zum ersten Mal ausspricht – bestätigt –, dass überhaupt etwas zwischen ihnen ist. Das fühlt sich bedeutsam an.

»Genau darüber wollte ich mit dir reden.«

Das Gefühl von Bedeutsamkeit sickert aus ihrem Körper. Natürlich ist es das. Sie hat Hannah hier heraus in die Wildnis geschleppt, um eine Affäre zu beenden, die noch gar nicht richtig begonnen hat; vor den Augen dieser unbedarften Kinder, damit das Ganze ungefährlich und unschuldig und alltäglich beendet wird und sich auflöst wie Schneeflocken auf warmem Asphalt. Hannah nickt. Will der Demütigung einer Zurückweisung gerne entgehen.

»Mehr brauchst du gar nicht zu sagen. Ich verstehe, dass die Situation viel zu kompliziert ist. Für mich war es auch nur Zerstreuung. Dumme Zerstreuung. Ich hoffe, ich habe nichts zerstört.«

Margrét nickt.

»Für mich ist Zerstreuung nicht unbedingt etwas Schlechtes. Und es ist nicht das erste Mal, dass ich … sie suche, wenn du verstehst, was ich meine. Sie bietet sich hier nur nicht so oft.«

Hannah schaut sie an. Ihr fällt etwas ein, was sie sie schon länger fragen wollte.

»Hat Thor sich dir eigentlich anvertraut, wegen seiner Beziehung zu Jonni? Ich meine, weil du so zweideutig klangst, als ich gefragt habe, wie gut du ihn kanntest …?«

Margrét nickt. Blickt Hannah dann etwas genervt an.

»Mann, jetzt setz dich doch mal hin! Du frierst dir schon nicht den Hintern ab, ich hab eine Decke.«

Hannah wird klar, dass sie wie eine Salzsäule dasteht. Margrét macht Platz auf dem Stein, Hannah setzt sich neben sie.

»Habt ihr denn eine Art Abmachung, oder wie …? Du und Viktor?«

Margrét schnaubt.

»Eine Abmachung, dass ich ihn nicht begehre, aber dass er süß und lieb und ein toller Partner ist und dass das Leben – so im Allgemeinen – gar nicht so schlecht ist, wenn man sich nur hier und da die Freiheiten nimmt, die es erträglich machen? Ist es das, was du mit Abmachung meinst?«

Hannah hat noch nie etwas so Reaktionäres gehört, und sie muss sich sehr zusammenreißen, um nicht in einen langen Monolog darüber zu verfallen, wie wichtig es ist, im Einklang mit der eigenen Natur zu leben. Wie kann Margrét sich mit einem halben Leben zufriedengeben? Hannah betrachtet sie.

»Warum …? Du könntest nach Reykjavík ziehen, mit jemandem zusammen sein, den du nicht hintergehen musst. Du könntest alles haben, was du hier hast, aber ohne eine Lüge zu leben.«

Hannah hört selbst, wie hochtrabend das klingt, aber alles in allem sind das die Tatsachen. Margrét scheint jedoch von Hannahs Urteil über ihr Leben nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Vermutlich hat sie solche Gedanken selbst schon hundertmal gehabt. Margréts Blick wandert zu den spielenden Kindern.

»Das hier. Ein sicheres und gutes Leben, in dem wir alles haben, was wir brauchen. Materiell und geistig. Die Natur, die Gemeinschaft. Man ist Teil von etwas. Ich bin Teil von etwas. Ich bin die Frau des Polizisten, eine Tagesmutter, auf die sich die Leute verlassen. Meine Kinder atmen frische Luft, gehen jeden Abend satt, geborgen und zufrieden ins Bett. Wenn ich alt werde, ist jemand da, der für mich sorgt, wenn ich sterbe, trauert jemand um mich.«

Hannah sieht Margrét an. Meint sie das wirklich ernst?

»Wenn du stirbst? Ist es das, was du dir wünschst – dass du eine schöne Beerdigung haben wirst und das ganze Dorf kommt, um dich zu ehren, weil du ein gutes und anständiges Mitglied der Gesellschaft warst? Jemand, der immer dafür gesorgt hat, dass alles so geblieben ist, wie es war, dass alle es schön und ruhig und unproblematisch hatten?«

»So was in der Art.«

»Aber es können doch trotzdem Katastrophen passieren. Schau dir zum Beispiel Thor an.«

»Das hast du missverstanden. Es ist nicht die Katastrophe, die mir Angst macht. Es ist das lange, zähe Leben, das unendlich einsam sein kann, wenn man zu sehr dagegen ankämpft.«

»Aber mit einem solchen Leben riskierst du ja gar nichts.«

»Und was riskierst du?«

Margrét wirft ihr einen Blick zu, bei dem Hannah sich dumm fühlt.

»Und im Übrigen, wenn ich nichts riskiere, was mache ich dann hier zusammen mit dir?«

Das ist ein Argument, dem Hannah nur schwer widersprechen kann, trotzdem fällt es ihr schwer zu akzeptieren, dass Margrét offenbar so zufrieden mit ihrem Leben ist. Aber andererseits: Vielleicht ist die Tatsache, dass Hannah selbst nie irgendwelche Kompromisse eingegangen ist, der Grund dafür, dass sie ein ständiges Gefühl der Einsamkeit begleitet. Sie schüttelt den Gedanken ab. Lieber einsam als unfrei. Eigentlich will Hannah weiterfragen, Margréts Weltbild herausfordern, sie über Details zu Viktor und ihrem Zusammenleben aushorchen und erfahren, wovon Margrét geträumt hat, als sie jung war. Stattdessen erkundigt sie sich, wie die Kinder heißen, ob sie oft hierher zum Gletscher kommen und wie man sich eigentlich in der Gesellschaft von Wesen, die nicht richtig sprechen oder allein auf die Toilette gehen können, den ganzen Tag die Zeit vertreibt. Hannah erfährt, dass Margrét ihr ganzes Leben in Húsafjörður verbracht und alle ihre Freunde und ihre ganze Familie hier hat. Darin liegt wohl auch ein gewisser Wert.

Auf einmal spürt Hannah etwas Kaltes im Nacken, was schnell an ihrem Rücken hinunterrutscht. Ein langer Moment verstreicht, bis ihr aufgeht, dass die Kinder sich von hinten angeschlichen und ihr einen Schneeball in den Kragen gesteckt haben. Hannah springt auf, beginnt mit allerlei Verrenkungen zu hüpfen und zu tanzen, um den Schnee aus ihrer Bluse zu bekommen.

»Argh! Es ist so kalt, ich sterbe!«

Die Kinder lachen, dass sie fast aus ihren Schneeanzügen platzen. Hannah gelingt es, den Eisklumpen unter ihren vielen Schichten herauszufischen, doch das kalte Wasser klebt noch immer an ihrem Rücken. Am liebsten würde sie die kichernden Schneeanzüge zur Hölle schicken, doch als sie bemerkt, dass Margrét ebenfalls lacht, sieht sie sich selbst plötzlich von außen und denkt, dass sie gerade eine banale, komische Figur abgibt. Eine, die genauso vorhersehbar reagiert wie Regen, der aus einer schwarzen Wolke fällt. Sie beschließt, sich selbst, Margrét und die kleinen Nervensägen zu überraschen, läuft zum Gletscher, kratzt eine Handvoll Schnee zusammen und beginnt die Kinder zu jagen.

»Grrr! Das werdet ihr mir büßen!«

Auch wenn die Kinder sie nicht verstehen, kreischen sie begeistert und rennen in alle Richtungen davon, sodass Hannah nicht einmal so zu tun braucht, als wäre sie schlecht im Fangen, um sie nicht zu kriegen. Schließlich muss sie aufgeben und ein bisschen Schnee auf die Kinder werfen, die dem missglückten Racheversuch erfolgreich ausweichen. Hannah kann gerade noch ausatmen, bevor ein dicker Schneeball sie mitten auf die Stirn trifft. Ein paar Meter entfernt winkt Margrét schelmisch, während die Kinder wieder fast platzen vor Lachen. Hannah bemerkt auf einmal, dass sie selbst lacht, ihr Herz schneller schlägt als sonst und ihre Wangen vor Hitze brennen. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so gelacht hat. Wie es zwischen ihnen weitergehen soll, bleibt ungesagt, aber auf dem Rückweg nimmt Margrét plötzlich Hannahs Hand und drückt sie ein wenig. Nicht sehr stark, doch für Hannah genug, um zu wissen, dass es nicht hier und jetzt vorbei ist.